Ganze zwei Jahre und drei Monate sind von der Ankündigung bis zum offiziellen Release der DAW Bitwig Studio vergangen. Damit ist der Audio/MIDI-Sequenzer aus Berlin, gefühlter Spitzenreiter in Bezug auf die wohl längste Beta-Testphase aller Zeiten im Bereich Musiksoftware. Aber macht ja nix, denn es ist ja nicht so, dass wir hochproduktiven Computermusiker in der Zwischenzeit nicht mit den etablierten DAW-Schlachtschiffen wie etwa Ableton Live, Cubase, Pro Tools, Logic, FL Studio oder auch Reason eine Vielzahl von Projekten erfolgreich bewältigt hätten. Was ich damit sagen will: Bitwig Studio steht bei seinem jetzigen Marktstart, mehr denn je unter dem Erfolgsdruck, „liefern zu müssen“. Denn im großen Musikproduktions-Ozean sind die Hoheitsgebiete der bestehenden DAWs ziemlich klar abgesteckt – wer sich da eine Passage zur Kundschaft freikämpfen will, muss schon mit einer ziemlich kampfstarken und wendigen neuen Schiffsklasse – respektive Software-Idee – auftrumpfen. Wir haben eine erste Inspektion an Deck von Bitwig Studio gemacht und berichten von der Audio-Gefechtsstärke.
Details
Konzept
Bitwig Studio ist eine Plattform-übergreifende (Windows, OS X, Linux) Musik-Produktions- und Performance-Software. Audio- und MIDI-Daten können dabei gleichberechtigt in der klassischen Arrangement-Ansicht, wie auch im Performance-orienterten Clip-Modus, wie man ihn beispielsweise von Ableton Live oder FL Studio kennt, bearbeitet und arrangiert werden. Bitwig Studio versteht sich als All-In-One Lösung, weshalb es mit einer kompletten Basis-Ausstattung von 50 Plugins ausgestattet ist: Klangerzeuger genauso wie Dynamik- und Filter-Tools sowie allerlei Hilfs-, Effekt- und Modulationszubehör. Wem das nicht reichen sollte, der greift auf VST-Plugins zurück, die Bitwig Studio in 32- (über integrierte Bridge) und 64-Bit einbindet. Einige der wichtigsten Eckpunkte der Software sind:
- Integriertes GUI – Bitwig Studio bietet – neben einer Tab-orientierten Benutzeroberfläche – die Möglichkeit, Clip- und Arrangement-Ansicht auch parallel geöffnet zu halten und darin zu arbeiten.
- Plugin-Sandbox – Plugins sollen in einem abgesicherten Speicherbereich ausgeführt werden, sodass der Absturz eines einzelnen Plugins nicht die Stabilität der gesamten Software gefährdet.
- Vereinheitlichtes Modulationssystem – Modulatoren können auf alle internen Ziele (auch Plugins) adressiert werden und das auch mehrfach und mit unterschiedlichen Stärken. Zudem stehen Macro-Controls zur mehrfachen Steuerung gruppierter Plugins bereit.
- Projekte in Tabs öffnen – Bitwig bietet die Funktion, mehrere Projekte gleichzeitig zu öffnen und Bestandteile via Drag’n’Drop zu verschieben.
- Offenes Controller API – soll es ermöglichen, dass Hersteller und Endkunden ihre eigenen, optimal für die Interaktion mit Bitwig Studio angepassten Mappings erstellen.
- Spurebenen – Sowohl Audio- wie auch MIDI-Spuren können mehrere Ebenen besitzen. Auch Spur-übergreifende Editiervorgänge sind möglich.
Weitergehende Programmfunktionen sind beispielsweise: Proprietäres Timestretching, Unterstützung von bis zu drei Monitoren, Noten- und Audio-Expressions Editierung, Automatisches Sample-Slicing, Spur- und Clipautomation Modi für absolute oder relative Automations-/Modulationssteuerung, Direktunterstützung verschiedener Controller und eine Vielzahl Importformate (WAV, AIFF, MP3, AAC, WMA, FLAC, Ogg Vorbis).
Ganz schön viel Holz? Nein, tatsächlich ist das nur ein Bruchteil der Feature-Ladung, die einem die Installation von Bitwig Studio auf der Festplatte ablädt. Und das ist auch gut so, denn die Software will ja nun nicht mehr oder weniger als eine vollwertige All-In-One Produktionslösung sein. Die Ansage ist klar: Bitwig Studio ist nicht als Ergänzung, sondern als Konkurrent der am Markt befindlichen DAWs angetreten. Und betrachtet man mal den Funktionsumfang der etablierten Audio-/MIDI-Sequenzer, muss eine neue Software fraglos schon ziemlich ausgefeilt sein, um auch nur ansatzweise gegen die gut eingespielte Champions-League mit Namen wie Live, Cubase, Logic, Sonar, Pro Tools, FL Studio und Reason anstinken zu können.
Installation
Bitwig Studio ist sowohl in einer Download- wie auch in einer etwas teureren Boxed-Version (mit gedrucktem Manual und Datenträger) erhältlich. Die Online-Variante ist aktuell über den Web-Software-Vertrieb „Digital River“ zu beziehen, die verpackte Version über die einschlägigen Musik-Versandhäuser. Wir haben uns für den Test für das Online-Installationsarchiv entschieden, das in der Windows-Variante mit überschaubaren 124 Megabyte zu Buche schlägt und die Versionsnummer 1.0.13 hat. Der gesamte Zusatz-Content (und das ist nicht wenig, wie wir noch sehen werden), wird nachträglich über eine Art Paket-Installer runtergeladen und installiert. Eine sehr gute Lösung, denn so können sich Anwender, die nur den „harten“ Programmkern benötigen, unnötige Download-Zeit und Datenballast ersparen. Damit man im Zweifel auch ohne aktive Onlineverbindung Pakete installieren kann, besteht die Möglichkeit, einen lokalen Installationspfad auszuwählen – sehr gut. Nach dem ersten Programmstart fragt einen Bitwig Studio, ob man es auf dem Computer on- oder offline registrieren möchte oder ob sich der Anwender mit dem Demo-Modus bescheiden will.
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Konzept und Funktionen – Hauptansicht
Das Hauptfenster von Bitwig Studio empfängt den Anwender mit einer kontrastreichen, attraktiven und kompakten Optik, die ein bisschen wie eine Mischung aus den GUIs von Ableton Live, FL Studio und NI Traktor wirkt. Die Grundaufteilung des Bildschirms gliedert sich in den zentralen Arrangement/Clip-Bereich, darüber der Transport und das Menü, links daneben ein Tab mit Eigenschaften und erweiterten Editier-/Clip-Funktionen, rechts ein Datei-Browser und darunter – abhängig vom gerade gewählten Objekt – der Detail-Inspektor, der zwischen Geräte-, Noten-, Audio- und Mixer-Ansicht umgeschaltet werden kann. Diese Ansicht ist allerdings nicht in Stein gemeißelt, denn das Programm erlaubt das umfangreiche Skalieren und Verschieben der einzelnen Bereiche. Überhaupt geht der Wechsel zwischen den unterschiedlichen Arbeitsschritten Klänge erzeugen, Arrangieren, Modifizieren und Mischen mit der hier umgesetzten Bildschirmaufteilung ausgesprochen schnell von der Hand. Denn wenn man es genau nimmt, haben Bitwig hier – fast unmerklich und trotz optionalem Mehrschirmbetrieb – ein klassisches Ein-Fenster-Konzept realisiert, dessen Kernqualität natürlich die kurzen Mauswege sind.
Dies und das
Nächste Auffälligkeit: Bitwig Studio verfügt über relativ viele dezidierte, kleine Bedienelemente, die sich teilweise kontextabhängig ändern und denen man unbedingt Beachtung schenken sollte, da sich dahinter einige der mächtigsten Funktionen der Software verbergen. So schalten etwa zwei unscheinbare Kästchen in der linken Ecke des Inspektor-Bereichs zwischen Gesamt/Clip-Editierung und der Layer-Ansicht um. Der erste Umschalter ermöglicht dabei das Bearbeiten von MIDI-Events über Clip-Grenzen hinaus, was sich beispielsweise beim Programmieren von Breaks oder Auftakten als ungemein praktisch erweist. Mit dem zweiten Umschalter aktiviere ich die Funktion, den Inhalt anderer Spuren getrennt voneinander (Stichwort Ebenen) ein- und auszublenden – hervorragend, wenn man zum Beispiel Bassläufe im Kontext mit einer Akkordspur editieren möchte. Überhaupt merkt man dem Programm an jeder Stelle an, dass es eine lange (aber offensichtlich lohnenswerte) Beta-Phase durchlaufen hat und ein Kind des ersten Jahrzehnts des neuen Jahrtausends, sprich eine „moderne“ Software ist. Dazu zählen offenkundige Features, wie etwa das „Unified Modulation System“, das die Umsetzung komplex-modulierter Track-Strukturen bestens unterstützt und den „Devices“, wie etwa dem „Audio-Modulation-Generator“, optimal zuspielt. Der ist nämlich in der Lage, die Lautstärke jeder beliebigen Spur als Modulations-Wert umzusetzen, wodurch alle erdenklich Szenarien von Sidechain-Kompression bis zur Lautstärken-abhängigen Filtermodulation realisierbar sind. Und dabei kann das Ziel jedes (!) korrekt in das System eingebundene VST-Plugin sein (schon mal daran gedacht, den Lieblings-EQ als De-Esser zu benutzen – jetzt geht’s). Von netten Kleinigkeiten, wie dem Umstand, dass sich das Metering von RMS-Peak auch auf das – von Mastering-Legende Bob Katz erfundene und weitaus hörrichtigere – K-20-Metering umschaltbar ist, dem automatischen Slicing von Hitpoints (in Bitwig Studio Onsets genannt) in Einzelsounds und der Zuweisung im Drum-Sampler bis hin zur kongenialen Option, mehrere Projekte in Tabs gleichzeitig geöffnet zu halten und Daten dazwischen via Drag’n’Drop zu verschieben. Ein Feature, was für passionierte Remixer allein schon ein Argument sein könnte, auf Bitwig umzusteigen. Apropos Remixing: Ein recht neuzeitliches System findet auch in der Art und Weise, wie mit Spuren umgegangen wird, Verwendung. Bitwig unterscheidet nämlich lediglich zwischen Instrumenten-, Audio- und Effekt-Spur. Vorgegebene Busse gibt es nicht – man baut sie sich bei Bedarf ‚on the fly‘ mit allem, was da ist. Denn der Ausgang jeder Spur darf auf jede andere Spur frei geroutet werden. Entsprechend ist die Unterscheidung zwischen Instrument- und Audio-Spur nur eine Formalie, denn mit einem Mausklick kann man jede Spur in eine so genannte Hybrid-Spur umwandeln wo Klangerzeuger, Effekte und Audiofiles (Automationsdaten sowieso) friedlich nebeneinander musizieren dürfen.
Clip-View
Ein Mausklick auf den unscheinbaren Clip-View-Button schiebt das Arrangement ein Stück nach rechts und gibt den Blick auf die Clip-Ansicht frei. Hier können Clips im bekannten Tabellen-Stil positioniert und abgefeuert werden. Und das sowohl einzeln, wie auch in kompletten, vertikalen Szenen. „Vertikal…?“, höre ich da die den aufmerksamen Leser fragend murmeln. Ja, richtig – die szenische Abfolge von Clips verläuft in Bitwig von links nach rechts (und nicht von oben nach unten, wie in Ableton Live). Sprich: Die Spuren bleiben an „ihrem“ Platz und die Szenen verlaufen linear darüber. In geselliger Musikerrunde könnte man das jetzt als Anlass für einen durchzechten Abend nehmen, um über diverse Kaltgetränke hinweg zu erörtern, was nun die logischere und praxisgerechtere Methode sein mag. Ich beschränke mich an dieser Stelle darauf, zum einen festzuhalten, dass die Clip-View einen ausgewachsenen Funktionsumfang aufweist und zum anderen, dass die Option beide Ansichten gleichzeitig (und gleichberechtigt) zu nutzen, eine nicht unerhebliche Hilfestellung dabei leistet, die beiden Abstraktionsebenen miteinander zu verknüpfen. Tatsächlich gelingt selbst mir (einem begeisterten Ableton Live Anwender, der wie viele seiner Kollegen allerdings seine liebe Not mit dem praktischen Transfer zwischen Clip- und Session-View hat), auf Anhieb zu verstehen, dass, wenn ich links was mache, auch rechts (in der Spur) was passiert (und umgekehrt) – einfach dadurch, dass die Abstraktion zwischen oben/unten, links/rechts wegfällt. Was die möglichen Start- und Abspiel-Parameter angeht, gibt sich Bitwig ausgereift und ermöglicht beispielsweise die Start-Quantisierung für jeden einzelnen Clip, erlaubt die Definition von Aktionen (spiele nächsten/vorherigen Clip, springe zu einer Position, spiele bestimmten Clip) und natürlich so ziemlich jede gängige Parameteränderung pro Clip (Farbe, Name, Lautstärke, Panning, Abspielgeschwindigkeit, Tonhöhe, u.a.). Positiv ist auch die Möglichkeit zu werten, Clip-Material und lineares Geschehen frei zu mischen: Ein Klick auf den entsprechenden Taster und die Spur ist nämlich aus dem Clip-Grid exkludiert. Das einzige Feature, nach dem ich wirklich lange suchen musste, war das Ändern des Tempos für eine Szene. Geholfen hat am Ende (ich weiß immer noch nicht, ob das der „offizielle“ Weg ist), die Master-Spur zu einer Hybrid-Spur (nimmt ALLE Daten auf) zu konvertieren und hier einen simplen Tempowechsel als Automation einzuzeichnen. Damit bin ich aber direkt schon bei einem Pro-Punkt: Nämlich dem Umstand, dass alle Automationsdaten auch auf Clip-Ebene eingefügt werden können.
Spur-Inspektor
Die unterste Spalte von Bitwig ist dem so genannten Spur-Inspektor vorbehalten. Er ist ein Multifunktions-Areal, in dem man sowohl Spur-Instrumente und Effekte bearbeitet, wie auch MIDI-, Audio- und Automationsdaten. Ableton Live-Anwender werden sich auf Anhieb wie zu Hause fühlen, denn das Prinzip ist bei beiden Programmen ist sich hier sehr ähnlich. Geht es an die Bearbeitung von MIDI-Daten, öffnet sich ein ausgesprochen übersichtlicher Piano-Roll-Editor, der mit allen zeitgemäßen Features bestückt ist, die man sich wünschen kann. Ausgesprochen hilfreich beispielsweise beim Editieren von Schlagzeugspuren: Die Möglichkeit ungenutzte Noten-Zeilen auszublenden. Nicht minder gut: Das Arbeiten in und mit verschiedenen Ebenen. Denn von den aktuell gewählten Daten lässt sich jederzeit in eine andere Spur wechseln – ohne den Editor schließen zu müssen. Für Freunde gewagter Pitchbend-Fahrten hält der Editor zudem ein ausgefeiltes Mikropitch-System bereit, in dem jede einzelne Note mit einem Bending ausgestattet werden kann. Gilt es Audiomaterial im Detail zu bearbeiten, hält der Editor neben den typischen Funktionen wie Gain, Panning und Pitch auch die Menüpunkte ‚Onset‘ und ‚Stretch‘ bereit. Onset ist dabei gleichbedeutend mit dem oft anzutreffenden Begriff ‚Hitpoints‘ zu verstehen und dient dazu, das Audiomaterial ins metrische Raster zu quetschen. Stretch kommt zum Einsatz, wenn es darum geht, Audioevents im Zeitraster zu verschieben.
Devices
Der Rundgang durch die Plugin-Liste, die in die Rubriken „Audio FX, Containers, Generators, Instruments, Modulators, Note FX und Routers“ aufgeteilt ist, zeigt eine wohlsortierte Grundausstattung mit so ziemlich allen Werkzeugen (und noch ein bisschen mehr), die es braucht, um ein Projekt von der Ideenfindung bis zum Mastering zu vollenden. Das Angebot reicht hier von Brot-und-Butter Effekten wie Delay, Reverb und Modulationseffekten (Chorus, Flanger, Phaser) über Standard-Tontechniker-Besteck wie Equalizer, Kompressor und Limiter, bis hin zu exotischeren Klangverbiegern wie etwa Comb-Filter, Resonator-Bank oder Ringmodulator. Besonders aber die Hilfs- und Kombinations-Plugins wie etwa der Audio-Follower, die Frequenzweiche (auf zwei getrennte Plugins splittend) oder der Step- und LFO-Modulator bestimmen maßgeblich den Charakter von Bitwig Studio als Kreativbaukasten. Geheckspoilert wird die ganze Sache noch durch den Umstand, dass jedes Devices über eine integrierte Macro-Ebene verfügt, in der acht Drehregler zur freien Adressierung zur Verfügung stehen. Machen wir uns an dieser Stelle mal auf einen Rundgang durch den großen Devices-Erlebnisspark samt einiger Audiobeispiele.