Der schwedische Hersteller Clavia gehört nicht nur zu den wohl erfolgreichsten Anbietern im Keyboardbereich, sondern auch zu jenen, die sehr emsig eine Art Masterplan beim Ausbau der Produktpalette zu verfolgen scheinen. Neueste Palastrevolution sind die echten Zugriegel, welche bei einigen Keys mit Orgelsimulation die lange Zeit stilprägenden und etwas eigensinnigen LED „Drückriegel“ abgelöst haben.
Diese Neuerung ist nun, gemeinsam mit einigen anderen, beim Nord Electro angekommen, der sich nun in einer schmucken neuen Version mit der Bezeichnung „Nord Electro 4D“ präsentiert. Ob sich die Drawbars auch beim „Retro-Piano“ Nord Electro bewähren und was es sonst noch Neues gibt, haben wir für euch ausprobiert.
Details
Schön ist der neue Nord Electro 4D. Ich bin mit Nord Stage, Nord Electro 3 HP und Nord Wave schon ganz gut aufgestellt im Clavia-Segment, und dennoch löst der 4D gleich einen „Haben-Haben-Reflex“ aus, einfach weil man ihn gerne anguckt und anfasst. Da hat Clavia beinahe Apple-Qualitäten entwickelt. Das Rot, welches als Markenzeichen der Schweden von Anfang an ein genialer Schachzug war, ist neuerdings etwas dunkler geworden. Überhaupt macht der 4D mit den neu hinzugekommenen Zugriegeln und der altweißen Tastatur einen elegant-gediegenen Eindruck. Flach, kompakt und mit 7,65 kg sehr leicht ist dieses 61-Tasten-Keyboard.
Was ist der Nord Electro? Man könnte sagen: Von allem etwas, aber weniger als ein Nord Stage. Clavias Klangwelt unterteilt sich in vier Bereiche, die dann in den verschiedenen Produkten in unterschiedlichen Konstellationen vorkommen: Orgelsimulation, Pianos und E-Pianos, die Sounds der Nord Sample Library und virtuell-analoge Synths als Erben des legendären Nord Lead. Während man beim Nord Stage all diese Klangerzeuger unter den Fingern hat, verzichtet der Nord Electro auf eine Synth-Sektion, bietet aber mit Orgeln, (E-) Pianos und den Samples der Library ein enormes Soundspektrum.
Veredelt werden die Sounds von einer stattlichen Effektabteilung mit 3-Band-EQ (inklusive parametrischer Mitten), Pan, Tremolo, Wah, Flanger, Phaser, Chorus, mehreren Amp-Simulationen, Kompressor, Leslie, Delay und Reverb – also mit beinahe allem, was man auf der Bühne so braucht.
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Apropos neu: Eine Menge neuer Features werden auf der Website des Herstellers angepriesen, die bei mir zum Teil seltsame Déjà-Vu-Erlebnisse ausgelöst haben. Das kommt daher, dass vieles davon nicht wirklich neu ist, sondern bereits im Nord Electro 3 HP Verwendung findet. Tatsächlich neu sind die erwähnten Zugriegel, neue Simulationen für die B3, der Clicksound der Orgel und das Leslie sowie USB-MIDI. Bereits vom 3 HP bekannt sind dagegen die String-Resonance- und Long Release-Features bei den Pianos, das Stereo-Delay (Ping-Pong), die 4 Taster für schnell abrufbare Live-Programme sowie eine verbesserte Unterstützung diverser Controller-Pedale.
Alles in allem ist die Liste der neuen Features (zumindest gegenüber dem „normalen“ Nord Electro 3) ziemlich stattlich und enthält mit den Drawbars und einer stark verbesserten Orgelsektion richtige Highlights. Nicht verschweigen wollen wir aber, dass die Hoffnung und Wünsche des potentiellen Käufers aus meiner Sicht in zwei wichtigen Punkten enttäuscht werden.
Da wäre zum einen, dass Clavia dem 4D keinerlei Upgrade beim Speicher gönnt. Dieses Thema ist bei Clavia omnipräsent, denn während die Konkurrenz sich im Gigabyte-Bereich tummelt, sprechen wir beim 4D von schlanken 185 MB für die Pianos und (räusper) 68 MB für Samples. Auch wenn diese Zahlen in der Praxis nicht ganz so dramatisch schlecht sind, wie sie sich anhören, muss man sich doch wundern. Clavia bietet – was ohne wenn und aber zu loben ist – eine immer neue Vielzahl toller Sounds und Samples an, die aber natürlich auch nicht kleiner werden. Mit einem älteren Nord Stage ist man da schon hoffnungslos abgehängt. Aber dass man auch bei einem ganz neuen Produkt bei der Auswahl der Sounds richtig rechnen und Kompromisse machen muss, finde ich inakzeptabel.
Vollends konfus erscheint Clavias Planung zudem, wenn man noch hinzunimmt, dass der flammneue Nord Electro 4HP tatsächlich einen doppelt so großen Speicher bekommen hat. Dafür muss man hier – Hauptgewinn für den, der dafür einen plausiblen Grund nennen kann – auf die neuen Drawbars verzichten.
Bereits in meinem Test zum Nord Electro 3 HP war es ein Thema: das fehlende Display. Mittlerweile habe ich einige Praxiserfahrung mit dem Piano und muss sagen, dass dies einfach ein Riesenmanko darstellt. Punktum. Wer mehr als ein Keyboard hat und mehr als drei Sounds benutzt, kann sich beim besten Willen nicht merken, dass nun beim einen Gerät auf der 107 die schönen Strings zu finden sind und sich beim anderen hinter 5:4 das leicht angezerrte Rhodes verbirgt. Da sind doch Displays mit ein paar hilfreichen Infos ein Muss, alles andere ist vorsintflutlich. Mit Zahnschmerzen hinzunehmen wäre die Display-Losigkeit vielleicht, würde sich der Nord Electro auf Orgel und Piano beschränken, so dass man die gewählten Sounds praktisch anhand der Einstellungen auf dem Panel ablesen könnte. Aber wenn ich schon auf Hunderte von Sounds aus der Nord Sample Library zugreifen kann, möchte ich doch gerne wissen, wo sie sich verstecken. So aber muss ich nicht nur wissen (oder im Editor am Rechner nachschauen), wo unter meinen 128 Samples sich was befindet, sondern auch, dass ich das dann hoffentlich gefundene CS-80 Pad auf Programmplatz 28:4 gespeichert habe. Nicht gut. Daran gemessen ist es ein kleineres Übel, dass natürlich auch die Bedienung der Untermenüs über das dreistellige Weckerdisplay unter Zuhilfenahme einer unschönen, auf das Panel gedruckten Liste wenig Freude macht.
Anschlussseitig hat sich übrigens im Vergleich zu den Vorgängern nichts geändert: Zwei normale Klinkenausgänge, ein Kopfhörerausgang (6,3 mm), MIDI IN/OUT und ein USB-Anschluss, der beim Nord Electro 4D neuerdings auch MIDI-Daten verschicken und empfangen kann. Weiterhin eine kleine Stereoklinke als Monitor In. Dieser Anschluss wird nicht auf die Main Outs geschickt und kann zum Üben oder als unabhängiger Eingang fürs Monitoring verwendet werden. Bei den Controls findet sich, was man so benötigt: Sustain, Control und ein separater Anschluss für die Steuerung des Leslies.
Eine schöne Kleinigkeit: Bisher hat Clavia bei der Stromversorgung mit jenen zweipoligen Steckern gearbeitet, die auch unter dem schönen Begriff “Rasiererstecker” bekannt sind. Alte Clavia-Hasen führen hiervon immer mehrere Kabel mit, denn kommt mal eines weg, kann einem in der Regel kein Kollege helfen (es sei denn, er hätte zufällig seinen Rasierer oder den alten Radiokassettenrekorder seiner Oma dabei). Nun hat sich Clavia besonnen und ist beim Nord Electro 4D zur gewöhnlichen Kaltgerätestecker-Variante übergegangen.
Georg sagt:
#1 - 17.01.2013 um 01:16 Uhr
Hallo,
das ist definitiv das beste Review, das ich seit Jahren gelesen habe. Seit Peter Gorges hat keiner mehr so praxisnah und kritisch ein Instrument vorgestellt. Besser und kann man das nicht machen. Hat mir unheimlich geholfen, danke.
Peter Gorges sagt:
#2 - 30.04.2013 um 21:21 Uhr
Das unterschreibt auch Peter Gorges.