Zuletzt hatte Linux eine Hype, als der Support von Windows XP “plötzlich und unvermittelt” endete. Bald steht das gleiche “Dilemma” für Windows 7 an. Wir haben uns schon mal umgeschaut, ob die Linux Distribution Ubuntu Studio 19.10 als Alternative für den DAW-Schaffenden bringt.
Achtung: Hier geht es auch etwas um die hintergründige Technik. Wer nur vom DAW-Alltag lesen will, springt zur entsprechenden Überschrift.
Windows 7 Support Ende
HILFE! Im Januar 2020 wird der Support von Microsoft für Windows 7 eingestellt. Wobei, so unverhofft kommt das nicht – wie schon bei Windows XP ist eben irgendwann Schicht. Das heißt nicht, dass Computer mit dem alten OS plötzlich nicht mehr funktionieren oder explodieren, sondern, dass es keine Sicherheits- und Funktions-Updates mehr gibt. Das passiert mit allen alten Betriebssystemen, die nicht mehr wirtschaftlich sind. Bei Apple und Windows sind das pro Version etwa 10 Jahre nach Release.
Wer nicht die paar Euro für ein Windows 10 Update ausgeben möchte, der kann sich auch nach einem kostenlosen und freien Betriebssystem umschauen: GNU/Linux. Frei wie in Freiheit, nicht wie in Freibier. Wer es nutzt, sollte immer spenden! Der Marktanteil von Linux steigt, allerdings laaaangsam: Seit 2009 von 0,6 % weltweit auf 1,7 % weltweit im Jahr 2019. macOS ist in dem Zeitraum immerhin von ca. 3,7 % auf 14,4 % gestiegen. Auch wenn macOS selbst kostenlos ist, braucht es (eigentlich) dazu immer Apple Hardware – und die wollen viele nicht zahlen.
Also bleibt die einzige, wirkliche Alternative zu Windows immer noch Linux. Das gibt es “schon immer”, hat aber im Alltag eher einen Nerd- und Fricklerstatus.
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Ubuntu Studio will anders sein, denn es soll von jedem installierbar sein und alle wichtigen Programme mitbringen. Stimmt das?
Linux als Betriebssystem-Alternative für den Alltag
Wie gut ist Linux so im Alltag? Ich hatte vor einigen Jahren mal einen Selbsttest gemacht und mir verschiedene Linux-Distributionen angeschaut. Eine Distribution ist ein Aufsatz auf dem ursprünglichen Kernel, dem Innenleben eines Betriebssystems (bei Apple heißt der Darwin und ist ein Unix – damit wäre macOS auch nur eine Art Distribution).
Im Alltag reicht ein Linux völlig aus. Die Programme heißen manchmal anders und es bedient sich auch hier und da anders (vor allem kann man schneller tiefere Eingriffe machen), aber wer sich ein paar Wochen Zeit nimmt, kann damit ziemlich schnell surfen und tippen oder auch speziellere Sachen machen, etwa Fotos bearbeiten, Grafiken oder Animationen erstellen, Filme schneiden und auch Audiodaten aufnehmen und bearbeiten. Kurz: DAW-Arbeit verüben.
Kann ich mit Linux wirklich Audio bearbeiten?
Kurz gesagt: Ja. Es gibt ein paar Eigenheiten. Die muss man wie bei jedem anderen Wechsel auch erst mal verinnerlichen. Am Ende ist es aber nur ein Umgewöhnen. Ein neues Instrument will auch erst einmal erlernt werden und nichts anderes ist es.
Nicht alle DAWs gibt es auch für Linux, aber wir haben für euch trotzdem die besten DAWs für Linux aufgelistet – und noch mehr gibt es in unserer großen DAW-Übersicht. Auch bei den Plug-ins muss man sich an neue Namen gewöhnen. Eine Übersicht findest du dazu hier.
Ein spezieller Kandidat ist Ubuntu Studio. Mittlerweile ist die Audio- und Videodistribution bei Version 19.10 angekommen. Und ich konnte es mir nach all den Jahren nicht nehmen lassen, das Betriebssystem nochmal für einige Zeit als Haupt-OS für alles zu testen.
Ubuntu Studio nutzt als Unterbau das nutzerfreundliche Ubuntu, das selbst nochmals auf Debian aufbaut. Es fügt als eigenständige Distribution nur vorinstallierte Programme hinzu (die bei der Installation angehakt werden können) und ist teils vorkonfiguriert. Du kannst nach der wirklich leichten Installation gleich loslegen – mit Einarbeiten. Denn wenn du aus der Welt von ASIO oder Core Audio kommst, heißen deine neuen Begleiter ALSA, Pulse Audio und JACK. Wenn du nur VST und AU kennst, solltest du dich an LADSPA, LV2 und LinuxVST gewöhnen. Und auch bekannte Hersteller kannst du zu 90 % vergessen.
Neue Audio-Schnittstellen für Linux-Neulinge
Die neue Audiowelt muss kurz verstanden werden: ALSA ist die Betriebssystem-Ebene, mit der die meisten Soundkarten (auch mit 44,1 kHz /16 Bit Fallback) funktionieren, “darauf” aufbauend werkelt Pulse Audio als verwaltungsärmere und modernere Ebene. Für den Musiker und DAW-Menschen kommt dann noch JACK dazu.
Jack wird manuell gestartet und muss von den Programmen gezielt implementiert sein. Dann lässt sich problemlos alles (!) über eine Patch-Software untereinander verkabeln). Ist das einmal konfiguriert und deine Programme nutzen diese Schnittstelle, dann kommen dir ASIO und Core Audio ohne Soundflower bzw. Blackhole ganz schnell rückständig vor.
Der Nachteil: Es läuft nicht parallel zu ALSA und Pulse Audio, sondern ersetzt es temporär. Es gibt aber die Möglichkeit, eine Software-Bridge zu bauen, damit man Sounds aus Browser und Spotify parallel zur DAW nutzen kann. Bei Ubuntu Studio ist das schon vorkonfiguriert.
DAW mit Linux
Ich habe ca. 1,5 Wochen alles mit Ubuntu Studio gemacht. Dass ich damit problemlos meine Gearnews-Arbeit verrichten kann, war mir vorher klar. Nach einem Tag umgewöhnen flutscht alles wie erwartet, da mittlerweile quasi alle Programme auch für Linux existieren.
Allerdings schreibe ich mit einer DAW meine Songs, in der Band tauschen wir Projekte bzw. Stems, programmieren MIDI-Drums. Hier wird es schnell frickelig. Denn Cubase, Logic oder Pro Tools gibt es nicht für Linux, dafür setze ich jetzt auf Ardour und meine Haus-und-Hof-DAW Reaper, die es auch mittlerweile als Alpha-Build für Linux gibt und vermutlich mit V6 dann auch offiziell. Mit Projekten für andere DAWs kann ich folglich nichts anfangen. Also alles als Stems austauschen. Das ist auch nur ein Klick mehr und kein Problem.
Problem: Quasi alle Plug-ins von Drittherstellern gibt es nicht für Linux. Entweder die DAW bringt eigene mit oder ich muss Alternativen suchen. Die gibt es, mal mit guter, mal in miserabler Qualität und i.d.R. nur als LADSPA oder LV2. Einziger “großer“ Hersteller ist immer nur noch U-HE. Sonst ist über die Jahre keiner dazu gekommen. Ich habe bei einigen Herstellern deswegen per E-Mail angeklopft: Keiner sieht einen Vorteil darin, für wenige User Plug-ins zu programmieren. Das Henne-Ei-Problem: Keine User -> keine Plug-ins -> keine User …
Songs schreiben mit Linux
Beim Komponieren ist es auch anders. Normalerweise starte ich die DAW (mit Logic arbeite ich da am liebsten), klicke mir ein paar Drummer-Spuren zusammen und daddel mit Guitar Rig meine Gitarrenspuren ein. Mit den integrierten Software-Synths dann entsprechend Kram dazu. Zum Mixen nehme ich für gewöhnlich die Logic-internen Plug-ins – als Rough-Version reicht das dicke.
Mit Ardour und Reaper kommen nur die allernötigsten, rudimentären Effekt- und Synthesizer-Plug-ins mit. EQ, Compressor etc. sind dabei, auch monophone Synthesizer. Damit kann ich zwar auch umgehen, Spaß macht das aber nicht und wirklich vielfältig ist es auch nicht. Und fürs Auge ist auch eher nichts dabei. Es sieht bis auf Ausnahmen alles nach frühen 2000ern und zum Abgewöhnen aus – wenn überhaupt eine GUI existiert und nicht nur Regler und Knöpfe in OS-Standard-Look mit Windows 95 Feeling) verbaut sind.
Aber mit ein paar optischen und haptisch-angewöhnten Abstrichen ist auf jeden Fall einiges möglich. Vor allem Guitarix klingt nach der Eingewöhnung echt gut, ist sehr flexibel und wer möchte, kann von mir ein paar Presets bekommen.
Update: Ein Leser hat mich auf die neue Version von Zyn hingewiesen: Zyn-Fusion. Das ist kostenpflichtig, aber sieht sehr modern aus.
Video und Grafik mit Ubuntu Studio 19.10
Auch hier gibt es vorinstallierte Programme. OBS, Open Shot Editor (NLE), die FFMPEG Codecs, DVDStyler für DVD-Menüs, Blender für 3D-Animationen, GIMP als Alternative für Photoshop, Inkscape für Vektorgrafiken, MyPaint – es gibt schon für “alles” Programme.
Ob die nun Final Cut, Premiere, After Effects, 3D Studio Max und Photoshop damit ersetzt werden können – ich wage es zu bezweifeln. Wobei Blender in der Branche sehr verbreitet ist, auch GIMP hat durchaus seine Fans, auch wenn Photoshopper das nicht verstehen (wollen). Auch ich komme damit zumindest rudimentär klar und zum Ziel, ich habe es eben auf einem anderen Programm gelernt und deswegen ist es ein einziger K(r)ampf.
Latenz mit JACK und Linux
Wirklich überrascht hat mich die gute Latenz mit JACK unter Linux, zumindest unter Ubuntu Studio 19.10. Guitarix geht mit meinem Focusrite Scarlett 2i2 2nd Gen mit 64 Samples bei 44,1 kHz und 16 Bit und ohne extra Treiber sehr fluffig. Da hatte ich mit anderen Interfaces anderer Hersteller ein echtes Problem. Auch mit größeren, mehrkanaligen Interfaces kann ich beim Recording die Latenz locker beibehalten und nebenbei noch live drüber daddeln. Es kommt je nach Effektintensität dann aber doch mal zu XRUNs, dem Linux-Äquivalent zu Drop-Outs durch überlaufenden Buffer.
MIDI mit Linux
Natürlich gibt es auch MIDI unter Linux. Und mit JACK kann man das ebenso frei wie auch die Audiodaten zwischen den Programmen routen. Aber auch hier muss ich sagen: Abgesehen von U-HE gibt es kein nennenswertes Angebot an virtuellen Klangerzeugern von Drittanbietern.
An freien Angeboten gibt es Hydrogen als Drum(sampler) mit Sequencer, ein Puredata-Paket mit kleineren Tools (z. B. ein Random Note Generator), ein On-Screen-Keyboard oder das altbekannte ZynAddSubFX als komplexen Mehrfenster-Synthesizer mit echt fieser 90er-Jahre-Optik. Das ist natürlich kein Defizit beim Klang, aber in Sachen GUI ist die Welt eben nicht stehengeblieben und es darf gern mehr als funktional und gewöhnungsbedürftig sein, beispielsweise logisch und clean und damit schnell(er) erschließbar.
Das alles überzeugt mich nicht. Es geht zwar “etwas”, aber umfangreich oder schön ist anders. Zum Glück habe ich mit MIDI und virtuellen Klangerzeugern nur sehr wenig am Hut. Wer von Ableton Live auf Linux mit Bitwig umsteigen möchte, sollte tunlichst überlegen, ob die mitgebrachten Sachen ausreichen.
Bleibt Ubuntu Studio 19.10 installiert?
Vorerst: ja. Für den Alltag reicht es mir aus, zum Tippen, Surfen und Grafiken Bearbeiten ist es eine Alternative. Da ich seit gut 15 Jahren auf Apples Betriebssystem arbeite und immer parallel Windows und Linux probiere, ist die Umgewöhnung für mich nicht so schwer.
Aber bei der DAW? Ich bin noch unsicher. Vor allem der Mangel an Effekt-Plug-ins und DAWs ist hier wieder das Problem. Stichwort: Henne-Ei. Gibt es eine handliche DAW (Reaper, Bitwig), dann unterstützen die nicht das vermutlich beste Linux-Format LV2. Mit Ardour und Mixbus komme ich einfach nicht so schnell ans Ziel, da die Bedienung echt altbacken und langsam ist. Funktionsumfang und Klang sind aber über jeden Zweifel erhaben.
Update: Es gibt doch ein paar mehr Hersteller, als mir bisher bekannt werden. Auburn, Audio Assault und Venomode haben erst kürzlich Support für Linux angefangen. Super! Eine Übersicht von „allen“ Plug-ins für Linux gibt es bei KVR.
Wer damit kein Problem hat oder eh noch nicht fest im Sattel sitzt, sollte sich Ubuntu Studio 19.10 ruhig mal ansehen. Gerade dank vorkonfiguriertem JACK und vorinstallierten DAWs kann man hier schnell loslegen. Und die Lernkurve ist ziemlich steil.
Bei Fragen oder Anmerkungen: Lass mir ein Kommentar da!
Jan Manuel Fricke sagt:
#1 - 10.12.2019 um 07:52 Uhr
Du hast die wirklich ganz, ganz hervorragenden LV2 Calf-PlugIns vergessen:
https://calf-studio-gear.org/Zu erwähnen wäre auch, dass man keine ASIO-kompatiblelen Audiokarten braucht, um die Latenzen klein zu halten, zur Not hat man selbst mit Onboardsound Latenzen von 3-15 ms, je nach Harwareausstattung. Als ganz simpeles Beispiel: Gitarre in den Mic-Eingang des On Board Chips des Laptops, Guitarix mit Jack verkabeln, oder auch das Midi Keyboard in den Midi (oder USB Anschluss) gestöpselt, und los geht's.
Ich selber habe aus einem ganz normalen Debian ein- sozusagen- Debian-Studio mit meiner eigenen Konfiguration gemacht, ich mag nämlich keine Fremdrepos in meinem System...;-)