Binaural Audio setzt neue Trends. Wir möchten uns diesem komplexen Thema Spatial Audio aus der Sicht des Keyboarders einfach wie praxisnah nähern. Zuerst gilt es „Kopfhörer aufsetzen“ und dem immersiven Soundkosmos lauschen. Es mag mitunter esoterisch anmuten, aber für Klangtüftler finden sich echte Anreize für das 3D-Audio.
Glaubt man dem Marketing-Hype, ist 3D-Audio besser als die klassische Stereo-Wiedergabe. Ob dies stimmt, sollte jeder am besten für sich selbst herausfinden. Zur Meinungsbildung befragen wir deshalb Designer, Entwickler und Produzenten, die sich mit Binaural Audio beschäftigen. Produkt-Tipps finden sich ebenso im Überblick, der Fachchinesisch ausblendet. Zudem zeigen Klangbeispiele wie „Binaural Audio“ tatsächlich klingen kann.
Allgemein geht es bei Binaural Audio (= mit beiden Ohren hören) um ein räumliches Hörerlebnis über Kopfhörer. Zum Einsatz kommt das 3D-Audio für Meditation, Musik für Kino-Filme und Games, Hörspielen oder bei VR. Die Maxime: Akustische Wahrnehmung beliebiger Schallquellen wie in der Natur.
Binaural Audio: Von räumlichen Klängen – ein kurzer Rück- wie Überblick
Schon lange vor Binaural Audio lässt sich Musik technisch wiedergeben und bis etwa 1955 kamen in der Praxis nur Monosignale vor. Weil sie räumliche Eindrücke nicht vermitteln, entwickelte sich aus der Mono- die Stereofonie mit zwei Kanälen. Spätestens Anfang der 1960er Jahre war es dann so weit: Im August 1963 übertrug der Sender Freies Berlin ein Rundfunkkonzert in Stereo. Man experimentierte weiter mit der Verwendung mehrerer räumlich verteilter Lautsprecher.
Installiert wurden Systeme im Kinosaal, später halten sie auch Einzug ins heimische Wohnzimmer. Etabliert hat sich hier das Format 5.1, das bis heute die Basis aller mehrkanaliger Wiedergabesysteme darstellt. Überdies sind beim erweiterten Format 7.1 sieben Lautsprecher räumlich angeordnet. Genauso wie bei Binaural Audio geht es um weite, differenzierte Klangbilder.
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Binaural Audio ist denkbar praktisch
Machen wir einen krassen Schnitt. Nicht jeder Musiker oder Konsument hat oder möchte ein Abhörsystem mit vielen Lautsprechern. Ein dreidimensionales Klangbild speziell für Kopfhörer wäre enorm praktisch – und genau dies ermöglicht Binaural Audio. Im Grunde genommen ist Binaural Audio das Stereo-Abbild einer Surround-Mischung.
Dabei wird der Hörer mit dem Kopfhörer sozusagen umhüllt und verortet räumliche Positionen der akustischen Ereignisse. Es sind psychoakustische Phänomene, weshalb diese akustische „Quadratur des Kreises“ überhaupt in der Praxis funktioniert. Eine wichtige Rolle spielt dabei die Head-Related-Transfer-Function (HRTF), die eine komplexe Filterwirkung von Kopf, Außenohr und menschlichem Rumpf beschreibt. Es finden sich übrigens noch weitere bewährte 3D-Audioformate wie Ambisonics (funktioniert bei Youtube) oder Dolby Atmos (unterstützt Apple Music).
Nach alter Schule die Mikrofonie per Kunstkopf verwenden
Anfänglich fragt man sich, wie man binaurale Audio-Klänge selber erzeugt. Der klassische Weg dazu ist die Mikrofonie. Die Referenz liefert Neumann mit dem KU100, allerdings ist dieser Kunstkopf für rund 8.000 Euro jedoch ein Objekt, das sich nur wenige Musiker leisten können oder wollen. Eine deutlich günstigere Alternative ist das DPA 4560 Binaural Headset, ein Kondensator-Ansteckmikrofon für unter 1.000 Euro. Als Budget-Lösung kann man den Zoom H3-VR probieren, zumal er im Bonedo-Test gut abschneidet.
Hörtipp: Meditative Naturaufnahmen mit einem solchen Kunstkopf-Mikrofon hat der Bayerische Rundfunk im Oktober 2020 aufgenommen und sie als Podcast bereitgestellt.
Praktische Tipps zu binauralen Audio-Aufnahmen gibt auch der Bonedo-Workshop „3D mit zwei Kanälen – Binaurale Stereoaufnahmen“. Nicht jeder Keyboarder oder Producer ist tontechnisch sehr versiert und möchte sich spezielle Mikrofone zu einem stolzen Preis anschaffen. Bequemerweise hätte man Binaural Audio am besten direkt am Synthesizer anspielbar oder mit verschiedenen Plugins nachträglich bearbeitet – aber hierfür gibt es Produkte.
Binaural Audio am Hardware-Synthesizer kreieren
Spatial Audio hat längst auch die Entwickler von Musikinstrumenten erreicht, denn der hybride Synthesizer UDO Audio Super 6 wartet als einer der ganz wenigen Synthesizer bereits mit einer Besonderheit auf: Binaural Audio. Der Binaural Mode erlaubt es, räumliche Stereo-Klänge mit sechs individuellen Stimmen zu erzeugen. George Hearn, der Kopf hinter UDO Audio, hat bei der Entwicklung seines hybriden Synthesizers Super 6 ganz entschieden neue Wege erschlossen. Er beruft sich dabei auf den Roland-Firmengründer Ikutaro Kakehashi. Dies wundert eigentlich kaum, denn die Architektur des Super 6 orientiert sich am Roland Jupiter-6.
George Hearn von UDO Audio kommentiert
Der Klang des Super 6 soll nostalgisch und vertraut, aber auch modern und frisch sein. Das sind unscharfe Begriffe, aber der von Ikutaro Kakehashi geprägte Begriff „Artware“ als Erweiterung von Hard- und Software ist immer ein wenig subjektiv.
Elektronische Instrumente, die nach dem analog-subtraktiven Paradigma gebaut wurden, haben oft einen etwas flachen, vordergründigen Klang – im Mix wie in einer Umgebung mit akustischen Instrumenten. Diese Erkenntnis führte mich zum binauralen Audiodesign. Man könnte die binauralen Fähigkeiten des Super 6 damit begründen, dass er den linken und den rechten Kanal unabhängig voneinander mit Stereoquellen modulieren kann, z. B. mit dem LFO mit Links-Rechts-Phasenversatzregler. Mit seinen Stereo-Oszillatoren transportiert der Super 6 jedenfalls viel Gefühl und Charakter.
Im „Super“-Modus dehnt sich der Klang aus. Phase, Delay und Filterung werden unter Berücksichtigung der kopfbezogenen Übertragungsfunktionen angewandt, um den Oszillatoren eine räumliche Qualität zu verleihen, die explizit im quasi dreidimensionalen Klangraum „de-positioniert“ sind.
Binaural Audio mit dem UDO Audio Super 6
Setzen wir uns einmal an den Super 6 und probieren die Klänge aus. Im Voice Assign Modus Poly 1/2 kann man die Binaural-Audio-Funktion ein- und ausschalten. In der Tat haben wir dies mit vier unterschiedlichen Sounds einmal praktiziert. Zuerst erklingt der herkömmliche Stereo-Klang, im zweiten Durchgang folgt die entsprechende binaurale Version. Wennschon die Unterschiede sehr marginal ausfallen, ändert sich fortan die klangliche Präsenz. Anders formuliert: Es sind akustisch keine radikalen, sondern bewusst subtile Veränderungen. Schließlich müssen sich die Klänge noch im klassischen Mix bewähren. Abgesehen davon kann der Super 6 noch mehr, so etwa Leads und weitere monofone Sounds im Binaural Mode.
Audiobeispiele UDO Audio Super 6 Stereo und Binaural
Vielen Dank an Artist Shewu für die Leihgabe des UDO Audio Super 6!
Den UDO Audio Super 6 Synthesizer gibt es als Keyboard- und in Desktop-Version.
Binaural Audio bei Software-Instrumenten nutzen
Nicht nur Hardware-Synthesizer bieten explizit das Feature „Binaural Audio“, sondern auch einige VST-Instrumente. Mitunter liefert Modartt Pianoteq hier ein gutes Beispiel. Zur Reproduktion akustischer Klänge arbeitet es mit Physical Modeling. Die Versionen „Pianoteq Standard“ und „Pianoteq Pro“ integrieren Settings für Mikrofonierung und ebenso Mehrkanal-Audio.
Zwei Hörbeispiele zeigen, wie sich Binaural Audio bei Pianoteq im Unterschied zur Stereo-Wiedergabe verhält. Auch wenn der Flügelsound nicht so realistisch wie bei einer Piano Sample Library klingt, offenbaren sich im Kopfhörer akustische Unterschiede.
Audiobeispiele Modartt Pianoteq Stereo und Binaural
Binaural Audio mit Software-Synth Sound Particles SkyDust 3D kreieren
Weitaus konsequenter als mit Modartt Pianoteq geht Sound Particles das Thema 3D-Audio mit dem Softwaresynthesizer SkyDust 3D an: Das im April 2023 veröffentlichte Plugin unterstützt mehr als 30 Audioformate, selbst die Wiedergabe als binaurales Audio ist hier möglich. Wie bei keinem anderen Synthesizer zuvor beeinflussen klangbildende Parameter die räumlichen Bewegungen im 3D-Audio-Feld. Sogar der Step-Sequenzer kann in Spatial Audio integriert werden. Leider bietet die erste Version dieser innovativen Software weder besonders viele noch besonders gelungene Presets.
Dennoch sollte man die Demo-Version unbedingt ausprobieren, um erste Erfahrungen zu sammeln. Ein kurzes Video zeigt, wie sich verschiedene Spatial Presets räumlich auf eine Synthesizer-Phrase (Factory Preset) auswirken: Zuerst spielen wir den Sound in Stereo ab, dann lassen wir nacheinander drei verschiedene Spatial Presets erklingen: „Back to Front“, „Randomness“ und „Vibration“. Um die volle Wirkung von Spatial Audio zu erleben, empfehlen wir einen Kopfhörer aufzusetzen.
Binaural Audio nachträglich mit Plugins herstellen
Kurzum: Die wohl einfachste und flexibelste Methode ist es, Spatial Audio nachträglich per Software zu erzeugen. Natürlich kann man mit den DAW-internen Plugins (wie mit „Binaural Post-Processing“ von Apple Logic Pro X) oder mit der einen oder anderen Freeware starten. Dennoch besorgt man sich am besten gleich den Spezialisten DearVR PRO oder testet zunächst die Demo-Version für 14 Tage.
Der Ansatz zur Quellenpositionierung von DearVR PRO ist deutlich näher an der menschlichen Wahrnehmung orientiert als andere Plugins. Diese bildet sich eben aus vielen miteinander agierenden Faktoren wie beispielsweise Richtung, Distanz, Reflektionsmuster und diffusen Nachhall. Für den Anwender ist es klanglich erfüllender, wenn all diese Faktoren in der Software miteinander interagieren. Von Dear Reality gibt es weitere gute Software-Produkte wie das Monitoring-Plugin DearVR Mix.
Wie die Bearbeitung mit DearVR PRO klingt, zeigen einfache Soundbeispiele. Bei der Nylon-Gitarre und beim Synth-Arpeggio verändern wir während der Phrase allmählich die räumliche Position der beiden Instrumente.
Audiobeispiele DearVR PRO: Unbearbeitet und Binaural
Binaurale Audio-Klänge als Soundware kaufen
Für SFX-Bibliotheken (Libraries mit echten Geräuschkulissen zur Postproduktion) findet man schon etwa beim Anbieter Boomlibrary mehrere gute Produkte mit alternativem 3D-Audio-Format. Der Soundmarkt für Synthesizer und Plugins ist dagegen zwar riesig, Presets mit binauraler Ausrichtung sind aber noch sehr rar. Dabei ist es für Sounddesigner ein relativ einfacher Job; binaurale Klänge entstehen praktisch in jeder Software mit Stereo-Audio-Wiedergabe.
Einer der ersten Preset-Anbieter, der sich mit diesem Thema intensiver beschäftigt, heißt Tom Wolfe. Wolfe ist ein britischer Designer, der mit seiner Firma „Synthesized Solutions for Film“ das Thema Binaural Audio in seiner Library „Binaural Soundscapes für Omnisphere“ speziell behandelt.
Tom Wolfe und Binaural Audio
Für meine Library habe ich ein gewöhnliches Stereo-Preset erstellt und dieses auf binaurale Weise bearbeitet – entweder mit Logic Pro oder einem Plugin wie Sound Particle’s 3D Panner). Anschließend nahm ich diesen binauralen Sound auf und importierte die Datei wieder in Omnisphere. Weil das binaurale Panning und auch die Sample-Grains randomisiert ablaufen, bestimmt also der Zufall, wo im binauralen Feld sich der Sound befindet. So entsteht ein großer, zufallsgesteuerten binauraler Raum.
Mein persönlicher Favorit ist Spectrasonics Omnisphere, aber auch mit Arturia Pigments und anderen Granularsynthesizern wie Novum von Dawesome lassen sich binaurale Klänge erzeugen. Davon abgesehen wäre es toll, wenn mehr Synthesizer binaurale Funktionen einführen würden, da dies die Möglichkeiten des Sounddesigns erheblich erweitern würde.
Tom Wolfe plant weitere Sets mit binauralen Presets. Seine Arbeitsweise stellt er in einem Youtube-Video vor.
Wie Spectrasonics Omnisphere mit binauralen Soundscapes klingt, demonstrieren diese vier Audio-Demos.
Audiobeispiele Spectrasonics Omnisphere: Binaural Audio
Binaural Audio während der Musikproduktion
Losgelöst vom Stereo-Format hat sich erstmals auch der Künstler und Musikproduzent Thomas Lemmer. Überwiegend in den Bereichen Ambient und Chillout beheimatet, visiert er das Format Dolby Atmos an, das über Apple Music auf einem iPhone konsumiert werden kann. Während der Dolby Atmos Mischung seines Albums „HOPE“ verwendet er binaurales Audio zur Mix-Abnahme. Er selbst verfügt – wie die allermeisten Producer – über keine vollwertige Dolby Atmos Installation im Studio. Daher bekam er die Atmos Mischung von Eric Horstmann aus Berlin in Binaural Audio zugespielt. Mit dieser Referenz konnte Lemmer den Atmos-Mix, so wie er beispielsweise über Apple Music über Kopfhörer ausgegeben wird, selbst beurteilen. Für den Kopfhörer-Nutzer verhält es sich so, dass man bei Apple Music mit dem Smartphone die binaurale Version hört. Auf Wunsch kann man übrigens „Dolby Atmos“ für die Wiedergabe auf einem Dolby Atmos System in den Einstellungen des iPhone aktivieren.
Thomas Lemmer zum Thema Binaural Audio
Zuerst erstellte ich mit Synthesizern wie Korg Kronos, Novation Summit sowie VSTs den üblichen Stereo-Mix und gab ihn ins Mastering. Anschließend hatte ich die Einzelspuren an Eric Horstmann von Immersive Lab übergeben. Dort wurde der Atmos Mix und das Binaural Audio erstellt.
Als ich die ersten binauralen Mixe meines Albums HOPE hörte, musste ich mich umstellen. Allerdings kann ich sagen, dass nach der Umgewöhnung das Klangerlebnis tatsächlich intensiver ist als reines Stereo. Gerade wenn man Bewegungen im Mixdown hört, wie etwa Klangobjekte, die „durch den Raum“ fliegen, hat man mit Binaural Audio definitiv viel mehr Gestaltungsmöglichkeiten.
Wir sind zwar das bewährte Stereo-Format gewöhnt, aber unser natürliches Hören ist eben 3D. Daher hat Dolby Atmos und Binaurales Audio für mich einen hohen Stellenwert. So glaube ich an die Zukunft dieses Formats und denke auch, dass es die Kreativität für Musiker und Produzenten beflügelt.
Tipp: Album „Hope“ von Thomas Lemmer auf Apple Music
Zum Schluss
Binaural Audio ist 3D-Audio im herkömmlichen Stereo-Format für die Wiedergabe über Kopfhörer, welches Klänge so räumlich und lebendig wie in der Natur macht. Erste Erfahrungen damit kann man beispielsweise mit Synthesizern, Klangbibliotheken oder Plugins sammeln. Natürlich kann man die Musik auch als Zuhörer genießen, denn immer mehr Streamingdienste unterstützen heute 3D-Klangformate. Übrigens, bei Apple Music hört man derzeit besser als bei Spotify. Allerdings gibt es auch Fakes, und manche Playlists heißen nur „binaural“, weil sich das besser vermarkten lässt.
Wer Musik produziert, ist gut beraten, vor der offiziellen Veröffentlichung einen Mix- und Mastering-Experten hinzuzuziehen. So kann man sicher sein, dass die eigene Musik optimal abgemischt ist – Erfahrung ist schließlich gefragt. Soweit ein Überblick, der hoffentlich das Interesse an binauralem Audio geweckt hat. Viel Spaß bei den ersten Schritten in dieses neue Abenteuer. Und wie immer gilt: Nicht künstlich übertreiben, sondern am Ende eine natürliche klassische Mischung entstehen lassen.