Was bekommt man, wenn man das Sphärische von Abyss, das Drone-ige von Novum, das Kratzige von Kult und das Verspielte von Love kombiniert? Tracktion Myth – ein mächtiger, voller Re-Synthese und FM steckender Software Synthesizer. Aber kann das funktionieren? Oder stolpert der Synth über zu viel Idee und zu wenig Zugänglichkeit?
Checkliste zum Kauf von XY
- Virtueller Synthesizer mit zwei Re-Synthese Engines (Iris)
- Re-Synthese „synthetisiert“ Audio-Samples
- Import von Audiomaterial per Drag-and-Drop
- Über 700 Presets
- Randomizer und „Breed“-Effekt zum Erzeugen eigener Presets
- 21 Effekte
- 13 Modulatoren
- MPE-fähig, Micro-Tuning über MTS-ESP
Tracktion_Myth_01_EndlessWait.wav
Tracktion_Myth_02_NervousTension.wav
Tracktion_Myth_03_AmenBasswav
Tracktion_Myth_05_VacantThrone.wav
Für dich ausgesucht
Tracktion_Myth_07_Glockenspiel.wav
Tracktion_Myth_09_Violin.wav
01. Endless Wait
02. Nervous Tension
03. Amen and Bass
05. Vacant Throne
07. Glockenspiel-Sample und Resynthese in Myth
09. Geigen-Sample und Resynthese in Myth
Details & Praxis
Nach Novum, Kult und Love kommt Tracktion Myth
Was für einen Lauf Dawesome hat in den letzten drei Jahren! Die Einmannfirma hat im Accord neue Plugins veröffentlich, allesamt innovativer und andersartiger als ein Großteil der Neuerscheinungen auf dem Markt für Musik-Software. Da war die mächtige Granular-Engine von Novum, die Klangmaterial aufsplitten und Sounds erzeugen konnte, die man so noch nicht gehört hatte. Dann brachte Kult brachiale Drones und bitterböse Bässe, mit denen man ganze Alben schreiben konnte.
Und Love schließlich, das als Granular-Effekt-Plugin alles zum Glitzern und Verschwimmen brachte – auf für einen Effekt dieser Art sehr zugängliche Art und Weise. Neuster Streich, wie immer von Dawesome erdacht und von Tracktion vertrieben: Myth. Ein mächtiger virtueller Synthesizer, der durch Re-Synthese jedes Audio-Sample spielbar macht – ein wenig fühlt man sich an Synplant 2 erinnert.
Was steckt drin? Zwei Re-Synthese-Engines, IRIS genannt und einem ebenso genannten menschlichen Auge durchaus ähnlich, die jeweils einen Sound re-synthetisieren. Hier wird durch maschinelles Lernen die importierte Audio-Datei analysiert und dann mit der Engine nachgebaut.
Love von Dawesome ist ein Multi-Effekt mit Granular-Elementen, Shimmer, Clouds und mehr! Unser Test untersucht GUI und Nutzbarkeit!
Dazu gibt es für jede Iris jeweils 14 sogenannte Transformatoren, die alle unterschiedlich (oft per FM) ins Obertonspektrum des Sounds eingreifen können. Außerdem gibt es zwei Oszillator-Engines mit jeweils weiteren FM-Spielereien, ein Filter-Modul mit einer ganzen Reihe an virtuell analogen Filteremulationen und zwei Effekt-Module. Und modulieren kann man so ziemlich alles.
Die besten der über 700 Presets in Tracktion Myth
Bei der Anzahl an Presets protzt Tracktion Myth in der Release-Version mit satten 718 fertigen Sounds. Gerade in den von Dawesome schon bei Abyss und Novum hervorragend besetzten Kategorien von düsteren Pads und Drones setzt Myth noch einmal eine Schippe drauf. Wie es hier dröhnt, mäandert, schwebt und kreischt, macht Myth zu der nach Zebra von U-he absoluten Empfehlung für Filmmusiker. Auch bei Lead-Sounds, eine nicht ganz so einfach zu besetzende Sound-kategorie, sind einige echte Perlen dabei.
Wem 718 Sounds nicht reichen, der kann mit der Breed-Funktion neue Presets „züchten“. Das Feature erinnert an die Mutate-Funktion aus Absynth 5 oder Hybridize aus Serum. Basierend auf den im Preset-Browser gerade angezeigten Presets wird das aktuelle Preset weiterentwickelt. Über die Freeze-Funktion daneben kann man vor dem Breed-Prozess einzelne Bereiche in Myth „einfrieren“ und so von der Weiterentwicklung ausschließen. Und wem die Veränderung nicht zufällig genug ist, der kann über die Randomize-Funktion neben Breed auch noch jeden nicht eingefrorenen Parameter zufällig verändern.
Das Konzept ist so direkt und zugänglich, ohne jedes Verzetteln im Sounddesign kann man so blitzschnell und stundenlang neue Sounds in Myth erzeugen. Hier ein Effekt eingefroren, da eine Iris von der Veränderung ausgeschlossen – zwei Klicks später friert man stattdessen die anderen Module ein, ändert die Auswahl der Presets im Browser und baut so wieder neue Sounds.
Doppelte IRIS – Audio in Myth importieren
Für eigene Sounds sollte der erste Klick nach dem Zurücksetzen (über „Init“ oben rechts) der auf den integrierten Limiter unten rechts in Myth sein – man wünscht sich fast eine Option, diesen permanent aktivieren zu können. Denn es kann während des Sounddesigns laut im Synthesizer werden. Was FM-Spielarten durch die Menge an Obertönen leider so mit sich bringen.
Der Workflow von Tracktion Myth dreht sich jetzt vor allem um die Iris-Kreise in der Mitte – und deren Modulation. Hier lädt man Samples per Drag-and-Drop aus einem Ordner oder der DAW zur Resynthese ab. Das Umwandeln selbst von langen Wav Files dauert meist übrigens unter einer Sekunde auf meinem Macbook Pro mit M1 Pro CPU.
Spielt man dann eine Note, klingt es oft erst einmal unspektakulär. Wer sich mit Wavetable-Synthese näher beschäftigt hat, wird sich vielleicht erinnern, dass ein neues Wavetable meist erst dann seinen Charakter zeigt, wenn man es durch entsprechende Modulation im Synth durchfährt. Ähnlich auch in Myth. Um das volle Resynthese-Resultat durchzuhören, muss dafür der „Position“-Parameter mit einem LFO oder Envelope erst moduliert werden.
Sonst bleibt der Abspieler am ersten Frame stehen. Praktischerweise hat man sich in Myth dafür eine Abkürzung überlegt. Rechtsklick auf die Iris, „Create and use new LFO“ auswählen, fertig. Myth erzeugt die Modulation und stellt den LFO sogar automatisch auf die zum Loop oder One-Shot passende Länge ein.
Heavy Metal Synthesizer: Tracktion Myth kreischt und faucht
Und dann geht es über die Transformatoren, die Oszillator-Module mit zusätzlichen FM-Effekten und Verzerrern, dem Filter-Modul und den beiden Effekt-Slots ab ins Tal der Drones, Soundscapes, kreischenden Leads und fauchenden Bässe. Tracktion Myth kann viel, klingt toll, bringt aber auch für das eigene Sounddesign eine ordentliche Lernkurve mit. Vor allem, wenn man als Neuling an das Plugin herantritt und noch nie ein Dawesome VST genutzt hat, braucht es einen Moment, um den Workflow zu verinnerlichen.
Aber hat man sich, nach einigen Rausch- und Kreischeskapaden, die FM leider so mit sich bringt, an den Workflow gewöhnt, tut sich in Myth die von Dawesome bisher verspielteste und gleichzeitig komplexeste Sounddesign-Welt auf. Denn der Workflow ist perfekt für „Was-wäre-wenn“-Spielereien, wie man sie sonst nur von Modular-Synths kennt. Und bleibt man einmal uninspiriert hängen, friert man ein, was bleiben soll, und randomisiert, was sich zufällig verändern darf.
Eigene Samples importieren – wie klingt Tracktion Myth
Eine echte Klangwundertüte und der größte Spaß: unterschiedlichste Sounds in Tracktion Myth importieren und gespannt sein, was der virtueller Synthesizer draus macht. Besonders realistisch klingen Flöten, Streicher, Kick Drums und Glockenspiele. Vocals, Synth-Loops oder 808s klingen wiederum oft grotesk anders als das Original. Aber auch das kann Basis für Sounddesign-Eskapaden und Tüfteleien mit Resultaten sein, die man so aus kaum einem anderen Synthesizer holt.
Bei Drum-Loops oder anderem perkussivem Klangmaterial zum Beispiel kommen oft rhythmische Klänge aus dem Plugin, die irgendwo zwischen kaputtem FM-Synth, überdrehtem Bitcrusher und schlechtem Handyempfang liegen – dann aber mit dem Groove vom Funky Drummer. Selbst bei Vocal-Loops schafft es Myth teilweise, die Konsonanten so gut zu resynthetisieren, dass das Instrument fast schon spricht.
Auch ein Modal-Modul und ein Resonator sind dabei
Bei den Effekten trifft man einige, aus der Dawesome-Welt bekannte Konsorten wieder, wie die Reverb-Effekte Cloud und Shimmer, den J-60 Chorus oder den Grain-Delay. Aber auch in Tracktion Myth sind einige eher esoterische Effektmodule dabei. So erlauben das Modal-Modul bei den Filtern und das Resonator–Modul bei den Effekten Veränderungen bei den Obertönen, selbst von schnöden Saw- oder Sine-Waves, die Myth in die Nähe von Physical Modelling Sounds rücken.
Dazu kann man auch hier eigenes Audiomaterial importieren und mit Modal und Resonator seinen Ursprungssound beispielsweise mit dem Obertonspektrum einer Note von Omas Klavier vergolden. Wer es weniger schön mag, wird FM-Effekten aus der Modulation-Kategorie wie dem BTTF-Modul und seinem „McFly“-Parameter kratzigen Spaß haben.
Nicht zu vergessen, die vielen Modulationsquellen. Hier gibt es neben den Klassikern LFO und Envelope eine große Anzahl and MIDI-Modulatoren, die vor allem in Verbindung mit MPE den Soft Synth in eines der spielbarsten virtuellen Instrumente verwandeln können, die ich in den letzten Jahren genutzt habe. Mit den richtigen Presets und der passenden MIDI-Modulation wird Myth regelrecht lebendig. Allerdings zu einem Preis. Denn das VST ist das erste in der Apple Silicon Welt, das meinen Mac (Macbook Pro mit 32 GB RAM und M1 Pro CPU) auch nach allen Updates (Version 1.08 beim Redaktionsschluss) bei einigen Presets in die Knie zwingt.
Fazit
Tracktion Myth ist das bisher mächtigste und komplexeste Instrument von Dawesome. Egal von welcher Seite man kommt, ob als Preset-Fan oder als eingefleischter Sounddesigner, das Instrument bietet beiden Seiten weit mehr, als viele andere Synthesizer.
Damit schlittert es aber, trotz allem Spaß und aller Möglichkeiten, die das Plugin bietet, haarscharf an der Massenmarktkompatibilität vorbei. Myth ist komplex und hat eine Tiefe bei den Modulationen und Effekten, die man erst einmal verinnerlichen muss. Wer dem VST aber eine Chance gibt (was man stattliche 90 Tage lang in der Trial-Version tun kann), der braucht vielleicht auf Jahre kein weiteres virtuelles Instrument.
Features
- Virtueller Synthesizer mit Re-Synthese-Engine
- 718 Presets
- Randomizer- und Breed-Funktion zum einfachen Erstellen eigener Presets
- Zwei IRIS-Oszillatoren, die Audiomaterial resynthetisieren
- 14 Transformatoren pro Iris zur weiteren Bearbeitung
- 21 Effekte
- 13 Modulatoren
- Mikrotonal nutzbar über MTS-ESP-Kompatibilität
- Voll MPE-fähig
- Systemvoraussetzungen: Ab macOS 10.13 – 64-bit Intel oder Apple Silicon – AU / VST3, Windows 10, 11 – 64-bit – VST3
- PREISE: 179,- USD
- Randomizer und Breed-Funktion erzeugen auf Knopfdruck komplexe neue Sounds
- 90-Tage-Demo
- Audio-Import und Resynthese sehr direkt und einfach
- Mächtige Effekte wie Modal oder Resonator
- Modular-Workflow lädt zum Experimentieren ein
- Teilweise hohe CPU-Belastung auch bei besseren Systemen