Normalerweise sitzen Komponisten bei einem Glas Rotwein mit einem Federkiel an einem Elfenbeinflügel, bis sie von der Muse geküsst werden und wie durch Zauberhand strömen die fertigen Songs nur so aus Ihren Fingern. So oder so ähnlich sieht die gängige Vorstellung vieler Nichtmusiker aus, wenn sie sich vorstellen, wie Songs entstehen. Die Realität sieht meistens vollkommen anders aus, denn das Schreiben von Songs und Melodien kann ein langwieriger Prozess sein, der oft mit knallharter Arbeit verbunden ist.
Vieles von dem, was man von außen als pure Kreativität und Eingebung annimmt, ist häufig schlichtweg Handwerk. So kann ein Filmkomponist beispielsweise nicht darauf warten, dass irgendwann mal eine Eingebung kommt, wenn die Kinopremiere bereits in Sichtweite ist. Darum möchte ich euch heute ein paar kleine Tricks und Techniken zeigen, mit denen man auf neue Melodien kommen kann, falls die Inspiration versagen sollte.
1. Gute Balance aus Sekundschritten und Arpeggio-Intervallen finden
Zunächst sollte man sich Gedanken darüber machen, was denn eine gute Melodie überhaupt ausmacht. Betrachtet man eingängige Songlinien, dann fällt auf, dass sie häufig eine gute Balance zwischen Tonleiterschritten, seien es große oder kleine Sekunden, und aus Arpeggios bzw. deren Auszüge, wie z.B. Terz- oder Quartschritten, bilden.
Dies ist bei Volksliedern, aber auch Pop-Evergreens wie z.B. “Obladi-Oblada” von den Beatles der Fall:
Nun versuche ich mich an einem eigenen Beispiel, bei dem ich Skalen und Arpeggio-Auszüge gezielt miteinander verbinde. Hier ist alles eine Frage der Balance, doch mit etwas Übung können sehr singbare Linien entstehen:
2. Buchstaben zuordnen
Dieser Trick scheint etwas banal zu wirken, kann jedoch verblüffende Ergebnisse liefern. Hierzu nehmt ihr euch eine Tonleiter, in diesem Fall C-Dur, und ordnet jeder Note ein Buchstabe im Alphabet zu. Ist die Tonleiter zu Ende, beginnt ihr einfach von vorne:
Für dich ausgesucht
A | B | C | D | E | F | G | H | I | J | K | L | M | N | O | P | Q | R | S | T | U | V | W | X | Y | Z |
---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|
C | D | E | F | G | A | B | C | D | E | F | G | A | B | C | D | E | F | G | A | B | C | D | E | F | G |
Nun wählt ihr ein Wort, wie z.B. “Bonedo”. Da jeder Buchstabe in diesem Wort einer Note entspricht, erhalten wir die Tonfolge: d-c-b-g-f-c.
Die könnt ihr nun ganz frei rhythmisieren oder auch oktavieren, wie z.B. folgendermaßen:
Natürlich könnt ihr jede Tonart und jede Skala, inkl. deren Modi als Grundlage nehmen oder diese transponieren!
3. Motiv-Verarbeitungstricks anwenden
Der gute Johann Sebastian Bach hat es und vorgemacht: Jede Melodie bzw. jedes Motiv lässt sich bearbeiten und das sowohl hinsichtlich der Tonfolge als auch der Rhythmik.
Da eine Verdopplung oder Halbierung der Notenwerte (Augmentation, Diminution) die Melodie in ihrem Sound weitestgehend unberührt lässt, konzentrieren wir uns auf die melodische Verarbeitung und gelangen zu drei verschiedenen Variationen:
1. Der Krebs (Retrograde): Das Motiv wird einfach rückwärts gespielt; Spiegelung an der x-Achse
2. Die Umkehrung (Inversion): Ging ein Tonabstand eine Sekunde nach oben, so geht er nun eine Sekunde nach unten, geht er im Original eine Terz nach unten, dann geht er in der Umkehrung eine Terz nach oben usw.; Spiegelung an der y- Achse
3. Der Umkehrkrebs (Retrograde Inversion): Der Krebs der Umkehrung, bzw. die Umkehrung des Krebses
Als Motivvariation entscheide ich mich im Folgenden exemplarisch für den “Krebs”, d.h. ich spiele die Melodie rückwärts. Strenggenommen müsste ich die Rhythmik auch übernehmen, aber ich erlaube mir die Freiheit, diese so zu rhythmisieren, wie ich es für sinnvoll erachte. Probiert hier ruhig verschiedene Varianten und auch Motivvariationen aus.
Im folgenden Beispiel hört ihr die Melodie des Beatles-Klassikers “Hey Jude” zuerst vorwärts und dann rückwärts, allerdings mit neuer Rhythmik:
4. Melodien singen
So simpel dieser Trick auch ist, er führt euch direkt in das Innerste eurer musikalischen Vorstellung.
Hierzu nehmt ihr euch eine Akkordfolge oder auch nur einen einzelnen Akkord und singt einfach die erste Melodie, die euch über diesem Akkord einfällt. Das kann ein viertöniges Motiv sein oder aber eine längere Linie.
Der Vorteil dieser Methode ist, dass dabei häufig Lines herauskommen, die tatsächlich, wie soll es anders sein, “singbar” sind, und das sollte eine starke Melodie schließlich auch sein: singbar und einprägsam!
Durch unser Instrument sind wir viel zu oft dazu verleitet, Dinge zu spielen, die gut in unseren Händen liegen und dann machen die Finger die Musik, nicht aber unser Gehör bzw. unsere innere Stimme. Abgesehen davon kommt man nur mit dem Instrument bisweilen auch auf Motive, die eine viel zu große Range abdecken, als dass ein Vokalist sie noch singen könnte.
Durch das Singen, das kann auf “La” sein, oder einfach nur gesummt, bekommen wir Zugang zu dem, was wir wirklich in unserer Vorstellung hören, und das ist meistens authentischer!
5. Optionston als Startton festlegen
Das Melodiensingen führt uns gleich zur nächsten Aufgabe, bei der wir unsere Optionen bewusst etwas einschränken, denn nun legen wir einen Startton für unsere Melodie über einem bestimmten Akkord fest.
Für den Anfang bieten sich hier Skalentöne an, was uns immerhin schon mal mindestens sieben mögliche Noten gibt, die Melodie zu beginnen. Einfachere Melodien starten oft auf Arpeggiotönen, d.h. lautet unsere Harmonie C-Dur, so findet man hier häufig c, e und g als Anfangsnote. Doch wohin führt uns die Linie wenn wir mal auf einem a oder f# beginnen?
Hier findet ihr ein paar mögliche Starttöne über einem C- Dur Akkord, die ihr alle einzeln durchtesten solltet um den unterschiedlichen Sound auf euch wirken zu lassen:
C | Grundton, naheliegend |
---|---|
D | None, etwas farbiger |
Eb | Bluesiger Sound |
E | Durterz, naheliegend |
F | Quarte, muss aufgelöst werden |
F# | #11, lydisch, spannungsreich |
G | Quinte, naheliegend |
A | Sexte, farbig |
Bb | Kleine Septime, mixolydisch, bluesig |
B | Große Septime, farbig, spannungsreich |
Mit diesen Tipps wünsche ich euch viel Spaß beim Schreiben eurer Melodien!