Backingvocals & Backgroundsänger: Frontsängerinnen in der 2. Reihe?

Millionen Menschen kennen Marteria, Joy Denalane oder Ina Müller. Sie gehören zu den erfolgreichsten Künstlern im Musikbusiness: Wenn sie auf Tour sind, füllen sie die ganz großen Hallen und verkaufen auch in Zeiten der Streamingportale sehr viele Platten. Ein wichtiger Teil der Crew ist die Band – und damit auch BackgroundsängerInnen.

Marteria, Frankfurt, 2017, Foto: Paul Gärtner
Marteria, Frankfurt, 2017, Foto: Paul Gärtner


Sie sorgen für einen guten, fetten Sound und müssen jede Show auf den Punkt abliefern. Was viele Menschen da draußen nicht wissen: Die meisten von ihnen haben ihr eigenes Soloprojekt, mit dem sie unterwegs sind. Für einen Perspektivwechsel hat bonedo mit folgenden Künstlerinnen gesprochen:

  • Ray Lozano (Ray Novacane: www.raynovacane.com) hatte bereits mit 18 Jahren ihren ersten großen Backgroundjob und gehört seitdem zu den gefragtesten Backgroundsängerinnen Deutschlands: von wochenlangen Tourneen mit Max Herre oder Revolverheld bis zu “kleineren” Konzerten mit Maxim. Zwischen den Konzerten steht sie selbst vorne auf der Bühne und spielt mit ihrer Band “Ray Novacane” ihre eigenen Songs.
  • Wenn Marteria am 1. September 2018 das restlos ausverkaufte Rostocker Ostseestadion vor 32.000 Menschen halb abreißt, steht Madeleine Rauch (Madeleine Rauch: www.madeleinerauch.com) nur ein paar Meter hinter ihm. Sie singt und springt in der zweiten Reihe, während Marteria im Rampenlicht vorne an der Bühnenkante “von Song zu Song springt” (Angelehnt an eine Zeile aus “Endboss”).
  • SaraJane McMinn (Sarajane: www.sarajane.eu) ist schon sehr lange als Backgroundsängerin unterwegs. Seit über zehn Jahren singt sie für Ina Müller und weiß, wie wichtig gerade auf Tour ein respektvolles und entspanntes Miteinander ist.

Ich habe Ray, Madeleine und SaraJane gefragt, was für sie alles zu einem interessanten und guten Backingjob gehört und wie hoch das Kollisionspotenzial zwischen Leadsängerin und Backingsängerin ist.

Bist du unmittelbar vor einem Auftritt als Backgroundsängerin weniger angespannt, als wenn du mit deinem Soloprogramm auf die Bühne gehst?
SaraJane: “Ich bin quasi nicht angespannt, ich trage ja nur einen Bruchteil der Verantwortung. Ich freue mich einfach auf die Show.”
Ray: “Wenn ich als Backgroundsängerin arbeite, bin ich weniger angespannt, als wenn ich mit meinen Sachen auf der Bühne stehe. Man hat eine andere Verantwortung, ein anderes Bewusstsein auf der Bühne – ich bin ein kleiner Teil vom Großen.”
Madeleine: “Da ich noch ziemlich frisch bei Marteria und allgemein in dem “Backgroundbusiness” dabei bin, war ich bei den ersten Konzerten schon sehr angespannt und genauso aufgeregt. Mittlerweile ist das nicht mehr so und ich bin bei meinen eigenen Konzerten aufgeregter.”

Denkst du dir deine Stimme selbst aus oder bekommst du ausnotierte Noten zugeschickt?
Ray: “Das ist immer unterschiedlich. Bei “The Voice Of Germany” hat man zum Beispiel bei Songs ohne Backings im Original mehr Freiraum, mal eine Fläche zu legen oder eine dreistimmige Melodie zu singen. Oder es sind schon Bankings im Original, die man dann gegebenenfalls leicht verändert. Manchmal bekommt man auch ausnotierte Sachen.”
Madeleine: “Ausnotierte Noten habe ich noch nie bekommen. Mir hilft es mehr, die Stimmen zu hören: Bei der Roswell-Platte war es so, dass Miss Platnum uns alle Stimmen geschickt hat, die sie sich schon dazu ausgedacht hat und die haben wir dann größtenteils so übernommen, eventuell noch kleine Sachen verändert.”
SaraJane: “Oft entstehen diese spontan im Studio oder in der Probe. Ina, Ulla und ich arrangieren zusammen, da gibt es keine festgeschriebenen Noten.”

Wie lernst du am schnellsten und dennoch nachhaltig deine Stimmen?
Ray: “Am schnellsten lerne ich meine Stimmen, indem ich die Songs einfach viel höre und durchsinge – je öfter ich das mache, desto schneller habe ich meine Stimme drauf.”
Madeleine: “Da man meistens keine Noten bekommt, geht das übers Gehör. Entweder singt jemand einem was vor oder man schlägt selbst was vor. Und dann einfach oft wiederholen, eine Pause machen, sich ablenken und dann auch mal aus dem Stegreif singen, damit man weiß, ob die Stimme wirklich sitzt. Darüber hinaus hilft es mir zu wissen, wie die anderen beiden Stimmen klingen. Wenn ich weiß, welche Stimme ich im Satz singe – die Terz drunter oder über den Leadvocals – hilft mir das beim Auswendiglernen meiner Stimmen.”
SaraJane: “Ich habe den Text und mache mir beim ersten Hören direkt Notizen. Oft sind es Stimmen, die wir im Studio gesungen haben, dann erinnert man sich schon an die Chorsätze.”

Teilt ihr die Stimmen unter euch Backgroundsängern immer gleich auf oder singst du mal über, mal unter dem Leadvocal?
Ray: “Ich singe oft in Dreierkonstellationen. Und am besten klingt ein Dreiersatz, wenn jeder in der Tonlage singt, in der er sich wohlfühlt. Ich singe als Alt/Tenor eher die tieferen Basstöne. Trotzdem wechselt man auch mal untereinander und probiert in den Proben aus, was sich am besten anhört und welche Stimmenaufteilung den gewünschten Sound bringt. Wenn also ein hauchiger Sopran gut passt, singe ich dann auch mal oben.”

Ist es schonmal vorgekommen, dass du kurz vor deinem Gesangseinsatz deine Stimme vergessen hast?
SaraJane: “Natürlich! Bei kurzfristigen Änderungen kann das passieren, dass der Körper einfach das Bekannte automatisch abfeuert, statt der neuen Änderung. Was mir eher passiert, ist, dass ich vorher einfach nicht auf den Startton komme, dann aber in dem Moment, in dem der Einsatz kommt, wieder alles da ist. Da darf man sich nicht reinsteigern.”
Ray: “Ja, das passiert schonmal. Wenn man in den ersten Proben sitzt und man davor noch spontan Stimmen geändert hat – was oft vorkommt – vergisst man mal seine Stimme. Meistens fällt einem im nächsten Moment die Stimme wieder ein oder man wartet ‘ne Runde.”

Sarajane, Foto von Annemone Taake Photographie
Sarajane, Foto von Annemone Taake Photographie

Wie wichtig ist dir das Gefühl, dass du hundertprozentig hinter der Musik stehst, mit der du dich öffentlich präsentierst?
SaraJane: “Superwichtig. Ich gebe schließlich meinen Namen und mein Gesicht für eine Show her. Ich mache nur Projekte, mit denen ich mich zu hundert Prozent identifizieren kann. Auch die Menschen sind wichtig, nicht nur der Inhalt der Show. Man hängt schließlich so lange so eng zusammen ab.”
Ray: “Bisher habe ich eigentlich nur Jobs gemacht, die ich musikalisch gut finde oder bei denen die Bandkonstellation so cool ist, dass ich weiß, dass wir eine tolle und entspannte Zeit auf Tour haben werden. Wenn da Leute mitspielen, die man kennt oder mit denen man befreundet ist, ist die Musik eher zweitrangig. Trotzdem gibt und gab es Sachen, die ich abgelehnt habe, weil es mir musikalisch nicht gefällt. Letztendlich kommt es auf die Kombination dieser beiden Aspekte an.”
Madeleine: “Ich finde es muss nicht unbedingt Musik sein, die man privat hört und zur Lieblingsmusik gehört. Es kann trotzdem sein, dass es live viel Spaß macht, zu der Musik zu singen. Allerdings macht es natürlich noch mehr Spaß, wenn es Musik ist, die in die Richtung geht von der Musik, die man selbst viel und gerne hört. Vielmehr kommt es aber darauf an, wie das Team ist. Sind die Crew und die Band nett, kann es auch Musik sein, mit der man nicht so viel zu tun hat.”

Hast du dich schon mal auf der Bühne für etwas geschämt, dass der Frontsänger oder die Frontsängerin gesagt oder gemacht hat?
Ray: “Nein, geschämt habe ich mich noch nicht. Ich mache keine Jobs, für die ich mich musikalisch schäme. Klar vergleicht man sich selbst als Frontfrau automatisch mit dem Leadsänger oder der Leadsängerin und fragt sich in manchen Momenten: ‘Würde ich das mit meiner eigenen Musik auch so machen? Wie würde ich die Ansage machen?'”

Kam es schonmal zu einer Konzertanfrage-Kollision zwischen deinem Soloprojekt und Backgroundjob? Wenn ja, wie hast du das Problem gelöst? Hast du eine innere Prioritätenliste oder entscheidest du immer individuell und situativ?
SaraJane: “Die Anfragen kommen teilweise schon zwei Jahre im Voraus. Es ist also immer sehr gut planbar. In Tourjahren weiß ich genau, in welchem Zeitraum ich Zeit für eigene Sachen habe. Eine Kollision gab es einmal. Der Deal war: Ich spiele den Gig für Ina, dafür kommt sie dann zu meiner Show und macht einen Song mit mir – so waren beide Seiten zufrieden.”
Ray: “Ohjaaa, das Problem kenne ich sehr gut. Das entscheide ich dann aber situativ. Wenn ich vier Wochen auf Tour bin und vertraglich gebunden bin, kann ich natürlich nicht raus. Da muss ich dann meine Solosachen absagen. Aber wenn ich jetzt eine Anfrage bekomme und an dem Tag habe ich ein einzelnes Konzert oder ein Konzertwochenende, schicke ich eine Vertretung und spiele auf jeden Fall meine eigenen Gigs.”
Madeleine: “Das ist mir bisher noch nicht passiert – glücklicherweise konnte ich das immer so legen, dass es funktioniert hat. Ich hätte da jetzt auch keine feste Prioritätenliste und würde das dann in der jeweiligen Situation entscheiden.”

Ray Novacane, Foto von Judith Simon
Ray Novacane, Foto von Judith Simon

Wie oder durch wen bist du Backgroundsängerin geworden? Gab es eine Art “Vorsingen”?
Ray: “Bei mir gab es kein Vorsingen im klassischen Sinne. Ich habe früher viel mit Freunden, die auch gesungen habe, zwei- und dreistimmige Sachen gesetzt und so kam das dann alles. Meinen ersten Job hatte ich mit gerade mal 18 Jahren – das war ‘ne aufregende Zeit. Es war ein Sprung ins kalte Wasser; ich wusste gar nicht, wie das alles läuft und bin sehr intuitiv vorgegangen. Mein musikalischer Background hat mir damals schon sehr geholfen.”
Madeleine: “Das lief – wie es ja häufig so läuft – über Connections. Als eine der Backgroundsängerinnen bei Marteria ausstiegen ist, hat Miss Platnum die Backgroundsängerinnen-Suche übernommen und ihre eigene Band nach Empfehlungen gefragt. Ihr Bassist, mit dem ich befreundet bin, hat mich dann weiterempfohlen. Sie hat mich angerufen und es gab ein kleines Vorsingen, welches sich aber nicht wie ein Casting sondern eher wie eine Probe angefühlt hat, was sehr angenehm war. Vor diesem Vorsingen hatte sie wohl auch schon im Internet in meine Songs reingehört.
SaraJane: “Ich kannte beide Sängerinnen, die bei Ina gesungen haben. Ich habe für die Substelle vorgesungen und eine Vertretung gemacht, als mein Principal mit seinem eigenen Projekt gespielt hat. Rund ein halbes Jahr später bekam ich gegen Mitternacht einen Anruf, dass sie krank sei und ich mich am nächsten Morgen, wenn möglich, in den Zug nach Mannheim setzen soll. Ich musste nur noch eine Vertretung für meinen Kellnerjob finden, das hat aber alles geklappt. Die Kollegin, die ich vertreten habe, ist kurz danach ausgestiegen. Das war alles nichts für sie. Wenn man sich dagegenstellt, geht es einem irgendwann einfach nicht mehr gut. Kurz danach wurde mir der Job angeboten. Das war 2008.”

Wie ist die Zusammenarbeit vertraglich geregelt?
SaraJane: “Wir haben für jede Tour einen einzelnen Vertrag.”
Ray: “Ich musste erst einen Tourvertrag unterschreiben, weil die Tour über mehrere Wochen ging. Aber an sich ist vieles auf Vertrauensbasis, zumindest bei den Projekten, bei denen ich arbeite und gearbeitet habe. Da musste ich nichts unterschreiben.”
Madeleine: “Es gibt keinen schriftlichen Vertrag sondern nur eine mündliche Absprache.”

Nutzt du deine Backgroundjobs in erster Linie als Sprungbrett für dein Soloprojekt?
Madeleine: “Naja, ein Backgroundjob ist erstmal ein Job, mit dem ich Geld verdiene. Der Vorteil ist, dass es ein Job ist, der mir sehr viel Spaß macht, weil ich singen und meine Leidenschaft ausüben kann. Gleichzeit hofft man natürlich, wenn man mit so einem berühmten Künstler wie Marteria unterwegs ist, dass man mehr gesehen und wahrgenommen wird. Als ein Sprungbrett für die Solokarriere würde ich es nicht sehen, eher als einen schönen Nebeneffekt.”
Ray: “Das würde ich so per se nicht sagen. Aber natürlich ist es so, dass die Acts, bei denen ich arbeite, eine große Reichweite haben. Wenn die ein Bild posten, auf dem ich mit drauf bin oder mich verlinken, sehen das viel mehr Leute, als wenn ich das Bild über mein Profil mit meinen Followern veröffentliche. Aber das ist nie mein Anspruch gewesen bei diesem oder jenen zu arbeiten, um mein Soloprojekt zu fördern.”
SaraJane: “Die Musik von Ina Müller hat mit meiner nicht viel zu tun, ich kann das also nicht unbedingt für mich nutzen. Ich habe aber dadurch einen großen Pool von Profis, die ich jederzeit um Rat fragen kann.”

Was denkst du: Inwiefern profitierst du als Solokünstlerin von der Reichweite deines Auftragsgebers auf sozialen Kanälen und dem Bekanntsheitsgrad allgemein?
Madeleine: “Man profitiert auf jeden Fall von der Reichweite. Es gibt viele Fans, die nicht nur an Marten interessiert sind, sondern auch an der Band. Und die unterstützen einen auch, wenn man einen eigenen Song teilt, je nach Aktivität in sozialen Kanälen und Bekanntheitsgrad des Künstlers, mehr oder weniger.”

Madeleine Rauch, Foto von Jon Adjahoe
Madeleine Rauch, Foto von Jon Adjahoe

Werden PR-, Probe- und Tourtermine ausschließlich über das Management kommuniziert?
Ray: “Meistens werden alle Termine über das Management kommuniziert. Wenn der Act sich noch um vieles selbst kümmert, dann auch über den persönlichen Weg. Aber in den meisten Fällen läuft das alles übers Management.”
SaraJane: “Das läuft alles über unseren Tourleiter per Mail oder persönlich nach der Show. Wir besprechen auch viel direkt zusammen, das geht am schnellsten.”
Madeleine: “Probetermine werden über den MD, also dem Musical Director, kommuniziert. Alles, was Bandproben betrifft, wird mit dem MD ausgemacht. Der Rest über das Management, Tourmanagement oder Booking.”

Wie wichtig war dein erster Backgroundjob für dein berufliches Netzwerk und “Folgeengagements”?
Ray: “Der erste Job war wichtig, damit ich selbst auch checke, ob das was für mich ist. Und wie ich mich in dieser Rolle fühle. Mir war es wichtig, während des Studiums Musik zu machen und damit auch Geld zu verdienen, damit ich überhaupt mal ein Gefühl dafür bekomme, wie das alles funktioniert. Im Endeffekt lernt man glaube ich sowas nur, indem man es einfach macht und viel Live-Erfahrungen sammelt.”

Wie ist es für dich, in so großen Venues zu singen? Und vergleichst du diese mit den Konzertorten, an denen du deine eigenen Konzerte spielst?
Ray: “Das Vergleichen passiert, glaube ich, automatisch. Ich war zum Beispiel 2016 mit Revolverheld auf Arena-Tour und wir haben unter anderem in Köln, meiner Heimatstadt, in der Laxness-Arena vor mal eben so 20.000 Leuten gespielt. Und eine Woche später spielst du mit deiner eigenen Band ein Wohnzimmerkonzert mit gefühlt drei Leuten. Ich war wahnsinnig aufgeregt. Gleichzeitig macht es mir überhaupt nichts aus, ein Duett mit Johannes Strate vor 20.000 Menschen zu singen, von denen die Hälfte das dann filmt. Man hat einfach ein anderes Gefühl auf der Bühne. Die Verantwortung für sich selbst und seine Musik zu tragen ist eh immer schwieriger, als ein kleiner Teil eines Großen zu sein.”
Madeleine: “Das vergleiche ich nicht, weil es keinen Sinn macht. In großen Venues zu singen ist auf jeden Fall cool, macht viel Spaß und ist sehr beeindruckend. In kleinen Venues aber auch – es hat beides seinen Reiz.”
SaraJane: “Naja, ich spiele in kleinen Clubs und mit Ina in großen Hallen. Ich sehe es eher als Besichtigung – das Ziel ist es, selbst mal in den großen Hallen zu spielen!”

Danke für das nette Gespräch und weiterhin viel Freude am Singen!
Barbara
P.S.: Die oscarprämierte Dokumentation “20 Feet from Stardom” über die erfolgreichsten Backgroundsängerinnen ist sehr sehenswert und beleuchtet weitere Aspekte aus der Hollywood-Perspektive.

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