Die Wissenschaft hinter Metal Vocals: Will Ramos und The Charismatic Voice erforschen gutturalen Gesang

Scream, Shout, Growl, Pig Squeal, False Chord, Fry Scream – es gibt viele Namen für die verschiedenen Nuancen aggressiver Vocals in Metal und Punk. Praxis- und Halbwissen haben bis vor ein paar Jahren noch stark vorgeherrscht, wenn es darum ging, Schreitechniken zu verstehen, zu erklären oder zu erlernen. Die DVD ‚Zen of Screaming‘ von Melissa Cross gab den Startschuss zu einer Pionierreise der Extrem-Vocal-Community, um die Frage aller Fragen zu klären: Wie geht gesundes Schreien? Einige Jahre und unzählige Erklärungsansätze, YouTube-Tutorials, Zwerchfellübungen und Ingwertees später werden neue große Schritte gemacht bei der Ergründung dieser Frage. Extrem-Vocal-Superstar Will Ramos, Vocalist der Deathcore-Band Lorna Shore, und YouTuberin TheCharismaticVoice haben sich zusammengetan, um dieser Frage mit modernen wissenschaftlichen Werkzeugen auf den Grund zu gehen.

Die Wissenschaft hinter Metal Vocals: Will Ramos und The Charismatic Voice erforschen gutturalen Gesang
Teaserfoto: Shutterstock, Faces Portrait

In zwei auf YouTube verfügbaren Dokumentationen wird Will Ramos Schreitechnik per Laryngoskopie, MRT und Elektrodenmessung auf den Grund gegangen. Einfacher ausgedrückt: Will schreit mit Kamera im Hals, Will schreit im Ganzkörperscanner, Will schreit mit Messungsnadeln im Hals. Dabei wird nicht nur klar, dass Will Ramos ein absolutes Ausnahmetalent ist, sondern dass mehr oder weniger der gesamte Hals- und Rachenraum an all den wunderlichen und gruseligen Geräuschen beteiligt ist.

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Welches Gewebe erzeugt welchen Sound?

Zu Beginn der ersten Dokumentation „OPERATION: “Throat Camera” stellt Elizabeth Zharoff, die Frau hinter dem YouTube-Kanal TheCharismaticVoice, die Frage in den Raum, wieviel sich die Stimmbänder beim Schreien tatsächlich bewegen. Die bekannte Technik beziehungsweise Begrifflichkeit „False Chord Scream“ suggeriert ja ohnehin schon, was in der Extrem-Vocal-Community gemeinhin bekannt ist. Nämlich, dass die sogenannten falschen Stimmbänder oder Taschenfalten für die Geräuscherzeugung bei einer bestimmten Schreitechnik verantwortlich sind. Die falschen Stimmbänder sind waagerecht übereinander liegende Gewebefalten, die im Hals über den echten Stimmbändern sitzen. Doch auch die aryepiglottische Falte wird von der klassisch ausgebildeten Sängerin in Betracht gezogen, eine weitere Gewebestruktur, die den Rand des Kehlkopfes bildet.

Außerdem sind mit Amanda Stark und Ingo Titze auch zwei renommierte Stimmforscher*innen involviert.  Stark und Titze beschäftigen sich unter anderem mit der Erstellung computergesteuerte 3D-Modelle des Stimmapparats, um die Funktionsweise des menschlichen Stimmapparates genauer zu untersuchen. Bei ihren Ausführungen wird eines besonders deutlich: Der individuelle Stimmsound eines jeden Menschen kommt dadurch zustande, dass jedes Stimmbandpaar anders ist, Selbst die beiden Stimmlippen eines Menschen können ganz leicht asymmetrisch sein. Wenn die Stimmbänder nun beim Sprechen, Singen oder Schreien in Schwingung gebracht werden, beeinflusst deren Form den Klang, den sie erzeugen. Dadurch entsteht der individuelle Klang jeder Stimme. Aber was, wenn nun nicht nur die Stimmbänder involviert sind, sondern noch zahlreiche andere Gewebestrukturen im Hals, die Geräusche und Töne erzeugen können?

Picture Credit: Shutterstock, Aldona Griskeviciene

False Chord, Pig Squeals und Guttural Screams – die Epiglottis schreit mit

Zunächst wird Will Ramos eine schmale Röhrenkamera durch die Nase eingeführt, mit der die Wissenschaftlerin Amanda Stark den Stimmapparat während der verschiedenen Screams betrachten kann. Diese Untersuchung nennt man Laryngoskopie. Die dabei entstehenden Bilder sind faszinierend – sowohl für Zuschauer*innen als auch für die beteiligten Wissenschaftler*innen. Zunächst werden normale, unverzerrte Töne gesungen und man sieht die Stimmbänder leicht schwingen, das sonstige Gewebe bleibt still. Der zweite Referenzpunkt ist tuvanischer Kehlgesang, bei dem zusätzlich zu einem tiefen Grundton eine Art raues Knattern hörbar ist. Hier sieht man neben der Beteiligung der Stimmbänder auch ganz deutlich die Taschenfalten beziehungsweise falschen Stimmbänder flattern und gegeneinander schlagen.

Dann wird es interessant. Ab Minute 26 des Videos unten demonstriert Will Ramos seine vielfältigen Schreitechniken und Sounds, und sein gesamter Rachenraum beginnt mitzuarbeiten. Bei den sogenannten Pig Squeals verdreht sich der gesamte Stimmapparat in eine Richtung und ein Teil des Gewebes direkt über den Stimmbändern, inklusive der epiglottischen Falte und den sogenannten Zungenmandeln direkt darunter, beginnt zu vibrieren und gegeneinander zu schlagen. Derselbe optische Eindruck entsteht bei den von Ramos als Gutturals betitelten Sounds, es lässt sich jedoch je nach Höhe oder Tiefe des Sounds erkennen, dass die gesamte Rachenhöhle entweder etwas enger oder weiter zu sein scheint und der Zungenboden sich auf oder ab bewegt.

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Der Rachenraum dient beim Schreien als Sound Shaping Tool

Die Klangquelle ist also dasselbe Gewebe, der Rest des Rachenraums entscheidet über die Differenzierung zwischen Pig Squeals, Low Gutturals und High Gutturals. Der gesamte Rachenraum inklusive des Zungenbodens funktioniert als Resonanzraum, dessen Beschaffenheit und Positionierung den Ton beeinflusst.

Besonders ersichtlich wird dies bei den Tea Kettle Screams – ein extrem hoher, kreischender Sound, bei dem sich nicht nur der Stimmapparat an sich, sondern der gesamte Rachenraum zu einer winzig kleinen Verengung zu verdrehen scheint, durch dessen winzig kleine Luftöffnung ein Kreischgeräusch entsteht. Interessant hierbei ist, dass die Kameraröhre im Nasenraum diese Schreie zu erschweren scheint, weil auch die Nase als Resonanzraum für diesen Sound dient.

Dieser Effekt kommt auch bei den von Ramos als Normal Scream bezeichneten Sounds zum Tragen. Die Klangquelle an sich sieht ähnlich wie bei Gutturals aus, die falschen Stimmbänder sind jedoch abgesehen von den Zungenmandeln und der aryepiglottischen Falte rein optisch noch deutlicher als Klangquelle auszumachen. Die Verdrehung des Stimmapparats ist jedoch noch stärker und der Rachenraum verengt sich zusätzlich. Der Sound klingt fokussierter, enger und komprimierter.

Die Aufnahmen der sogenannten Goblin Screams und Tunnel Screams bestätigen diese Eindrücke noch einmal, nur dass hier rein optisch schwerer auszumachen ist, welche Teile des Rachenraums welchen Zweck genau erfüllen, da alles mitzuarbeiten scheint. Der Rachen verdreht und verengt sich sehr stark, fast wie bei Teakettle Screams, das entstehende Geräusch ähnelt an sich jedoch mehr den False Chords Screams oder Gutturals. Das Klangspektrum, das durch die Form des Rachens und eventuelle zusätzlich vibrierende Gewebestrukturen beeinflusst wird, ist ein deutlich anderes.
 
Die akustische Messung von Screams im Vergleich zu reinen Tönen zeigt: Screams, egal welcher Art, haben ein deutlich komplexeres und lauteres Obertonspektrum. Die Vermutung liegt also nahe, dass mit der Veränderung des Resonanzraum, sprich, mit der Veränderung des Rachenraums, unterschiedliche Obertöne mehr oder weniger betont werden und so, unabhängig von der Quelle des Screams, den letztendlichen Sound wesentlich verändern können. Soweit, dass es fast wie ein völlig anderer Scream klingt.

Luftdruck, Halsmuskulatur und Zunge sind ebenfalls beteiligt

In der zweiten Dokumentation „The Science Behind Vocal Distortion: Will Ramos of Lorna Shore“ werden abgesehen von einer erneuten Laryngoskopie weitere Untersuchungen angestellt, um der ganzen Sache noch genauer auf den Grund gehen zu können. Zunächst werden Luftdruck und Luftfluss bei verschiedenen Schreitechniken getestet. Bei False Chord und Goblin Screams wird beinahe viermal mehr Luftfluss beziehungsweise -druck benötigt, als bei anderen Techniken – womöglich weil im Vergleich zu den echten Stimmbändern deutlich mehr Luft benötigt wird, um das trägere und größere Gewebe, die falschen Stimmbänder und die aryepiglottische Falte, die über und um den Stimmapparat herum sitzen, in Schwingung zu bringen.

Als nächstes werden Ramos einige winzige Elektrodennadeln in die verschiedenen Muskelstrange des Halses eingeführt. Die Nadeln können und sollen genau messen, welche Muskeln bei welchem Schreitechniken wie stark aktiv sind. Dazu gehören unter anderem verschiedene Teile der Halsmuskulatur, aber auch der Zungenmuskel und die Muskeln, welche die Position und Spannung der echten Stimmbänder kontrollieren. Auch wenn die Dokumentation noch nicht die Auswertung der Messdaten preisgibt, gibt der Ablauf des Versuchs dennoch interessante Einblicke. Je größer der Kraftaufwand der Muskulatur wird, desto schmerzhafter ist der Versuch für Will Ramos – denn die Nadeln in seinen Muskeln werden für ihn deutlicher und schmerzhafter spürbar. Das gibt zumindest einen Aufschluss darüber, bei welchen Techniken insgesamt mehr muskuläre Beteiligung notwendig ist.

Tiefe, unverzerrt gesungene Töne und tuvanischer Kehlgesang, also tiefe Töne plus leichtem „Rattereffekt“ der falschen Stimmbänder, sind für Ramos trotz Nadeln kein Problem. Auch tiefere Screamsounds sind noch möglich, jedoch auch nicht mit demselben Maß an Kompression und Lautstärke. Man erkennt auf der parallel durchgeführten Laryngoskopie sogar, dass der Rachenraum im Vergleich zur Untersuchung in der ersten Doku deutlich weniger eng und auch weniger verdreht ist. Die Sounds klingen nicht so kraftvoll, Ramos selbst sagt, er könne nicht anders, als die kraftsparendste Version der jeweiligen Sounds zu verwenden, weil sich alles andere zu unangenehm anfühle. Je mehr Luftdruck und Halsmuskulatur notwendig werden und ja „höher“ die Sounds werden, desto unangenehmer wird es und Ramos kann die Schreie nicht ausführen. Laut der untersuchenden Wissenschaftlerin Amanda Stark zeige jedoch schon der Versuch eines Ansatzes die komplexe Aktivierung der Muskulatur.

Die letzte Untersuchung ist eine dynamische Magnetresonanztomografie, kurz MRT. Dazu wird Will Ramos, schreiend in eine große Metallröhre geschoben, die sehr genaue Bilder vom Gewebe innerhalb des Körpers erzeugt. Hierbei scheint sich den Wissenschaftlern vor allem eine Erkenntnis aufzudrängen: Die Zunge hat bei jedem Sound eine völlig andere Position.

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Schreien ist wohl komplexer und gesünder als gedacht

Gut und kontrolliert Schreien ist eine Kunst. Und diese Dokureihe belegt es ohne jeden Zweifel. Bei der Erzeugung all der verschiedenen untersuchten Sounds spielt letztendlich vom Zwerchfell aufwärts entlang der Luftröhre bis zu den Lippen jeder noch so kleine Muskel eine Rolle. Von den echten und falschen Stimmbändern, der aryepiglottischen Falte und Epiglottis, bis hin zu der Zungenboden, -muskulatur und -mandeln, es sind viele Teile daran beteiligt, Luftdruck, Klangquelle, Tonhöhe, Obertöne und Kompression zu steuern. Und all das gleichzeitig. Die meisten dieser Faktoren sind bei guter Gesangstechnik vermutlich gleich wichtig. Die Annahme, dass Metal-Vocals bloß Gebrüll ist, wird ja schon seit einiger Zeit angefochten, doch diese Dokumentation beweist endgültig das Gegenteil. Man darf gespannt bleiben, was die Auswertungen ergeben, welche Experimente Ramos, Zharoff, Stark und Titze sich noch einfallen lassen und welche Extrem-Vocalisten sich darauffolgend vielleicht sogar noch untersuchen lassen. Bis dahin empfehle ich wärmstens diese großartige Dokumentation.

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