Nachdem im ersten Workshop-Teil sinnvolle Maßnahmen zur Vorbereitung einer Vocal-Session behandelt wurden, wird es nun Ernst und der Sänger kann jeden Moment eintreffen.
Worauf ist während der Aufnahme aus technischer und künstlerischer Sicht Acht zu geben?
Bevor es um den konkreten Ablauf einer Gesangsaufnahme sowie weitere interessante Dinge geht, die während einer Session passieren können, möchte ich noch ein paar Worte über die erforderliche Technik verlieren: die Aufnahmekette und den Kopfhörermix.
Wichtigstes Teil der Vocal-Aufnahmekette: das Mikrofon
Ein Mikrofon ist bekanntermaßen das erste Glied im Aufnahmeweg. Hier, wie auch sonst, ist grundsätzlich alles erlaubt, was gut klingt. Der am häufigsten verwendete Standard für Gesangsaufnahmen ist das Großmembran-Kondensatormikrofon, wobei auch einige dynamische Mikrofone beliebte Gesangsmikrofone sind. Als Richtcharakteristik verwendet man in der Regel Niere, was insofern interessant ist, als es von verschiedenen teuren Mikrofonklassikern abgespeckte, sprich günstigere “Nieren-Versionen” ohne umschaltbare Richtcharakteristik gibt. Hier gibt es also amtlichen Sound für den zumindest kleineren Geldbeutel. Prinzipiell bin ich der Meinung, dass man auch mit günstigen Mikrofonen tolle Aufnahmen durchführen kann und dass teure Geräte es lediglich etwas leichter machen, gut zu klingen.
Viele Mikrofone bieten ein Lowcut-Filter zum Absenken tiefer Frequenzen, die außerhalb des relevanten Nutzsignals liegen. Dieses zu aktivieren macht auch in den meisten Fällen Sinn. Lediglich wenn man – was selten vorkommt – das Gefühl hat, dass diese Filterung den Gesangssound doch zu sehr ausdünnt, sollte man sich der Säuberung von tieffrequenten Störsignalen entweder an späterer Stelle widmen oder prüfen, ob man die Einsatzfrequenz des Filters verringern kann.
Gegen Probleme durch starke Luftstöße bei manchen Lauten hilft der Popschutz, welcher etwa eine Handbreite vor dem Mikrofon positioniert wird und unbedingt verwendet werden sollte!
Das Mikrofon positioniere ich oberhalb der Lippen, etwa auf Höhe der Nasenspitze und vom Winkel leicht gegen den Mund gerichtet. Die etwas höhere Positionierung kann eine Abmilderung scharfer Zischlaute bewirken.
Für dich ausgesucht
Channelstrip (oder Einzelkomponenten) zur Gesangsaufnahme
Der Preamp verstärkt das Mikrofonsignal und versorgt Kondensatormikrofone mit der notwendigen Phantomspannung, sofern dieses keine eigene Versorgung besitzt. Weiterhin sind viele Preamps mit einem Lowcut ausgestattet, welches ich, sofern meine Ohren keine Gegenargumente liefern, auch zusätzlich zum Filter des Mikrofons einsetze (und das war noch lange nicht die letzte Lowcut-Filterung dieses Workshops). Im folgenden Audiobeispiel hören wir verschiedene Aufnahmekonstellationen bezüglich Pop-Schutz und Lowcut (=Hochpass), welche veranschaulichen, dass deren Einsatz bei der Aufnahme vorteilhaft (bis unbedingt notwendig) ist.
Ein Kompressor gehört in der Popularmusik zur Gesangsaufnahme wie der Schaum zum Bier. Mit Ratios von etwa 4:1 und einer maximalen Gainreduction von 3 bis 6 dB macht man nichts verkehrt. Am Ende entscheidet aber das Ohr. Abhängig vom Musikstil und je nach Sound und Qualität des Kompressors kommen schon während der Aufnahme extremere Settings zum Einsatz.
Viele Engineers mit Grammy Award auf dem Kaminsims sagen: “Tu’s nicht, nimm keinen Equalizer, sondern ein anderes Mic, wenn dir der Sound nicht gefällt”. Wenn ich kein anderes Mikrofon habe, aber einen schönen EQ, wie beispielsweise im Tube-Tech MEC 1A Channelstrip und dieser den Sound verbessert, tu ich’s doch – und zwar nach folgender Faustregel:
- Reindrehen (z.B. seidige Höhen) hinter der Kompression
- Rausdrehen (z.B. mumpfige Tiefmitten) vor dem Kompressor
Manche Channelstrips verfügen über einen De-Esser. Für mich ist De-Essing bei Gesangsaufnahmen ein absolutes No-Go, weil man sich hiermit im schlimmsten Fall detektierte Konsonanten nahezu irreparabel zerstören kann und dies während einer stressigen Session und ermüdetem Gehör möglicherweise zu spät oder gar nicht bemerkt – Finger weg davon!
Die Audiobeispiele, welche im Laufe dieses mehrteiligen Workshops zu hören sind, wurden mit einem AKG C414 B-ULS über ein Universal Audio Apollo 8 Interface aufgenommen. Hierzu habe ich den modernen Standard-Preamp (keine Preamp Emulation) verwendet und mit der UAD Tube-Tech CL 1B Emulation dezent komprimiert.
Kopfhörer und Kopfhörermix bei Vocal Recordings
Zur Gesangsaufnahme verwende ich stets geschlossene Kopfhörer, um Übersprechungen ins Mikrofon zu vermeiden. Es ist extrem wichtig, dass der Sänger sich mit dem Kopfhörermix wohlfühlt.
Der erste Schritt hierzu ist im Idealfall eine Auswahl verschiedener Kopfhörermodelle mit unterschiedlicher Klangsignatur. Was sich zunächst vielleicht nach teurer Materialschlacht anhört, muss das Konto nicht zwingend stark belasten. Vor kurzem habe ich mehrere Titel mit einem in diesem Punkt äußerst kritischen Megastar aufgenommen – mit einem Superlux HD 660 für etwa 30 Euro. Die prominente Kundschaft war begeistert. Wenn ich Gesangsaufnahmen in einem fremden Studio durchführe, habe ich meistens ein oder zwei bewährte Kopfhörermodelle dabei oder informiere mich zumindest im Vorfeld, welche geschlossenen Kopfhörer dort verfügbar sind.
Der zweite Schritt in Richtung Wohlfühlen ist der eigentliche Kopfhörermix. Fast alle Sänger mögen einen Halleffekt auf ihrer Stimme, weil es besser klingt, tonale Unsauberheiten kaschiert und somit das Selbstbewusstsein steigert, wodurch Künstler dann meistens auch besser und emotionaler singen. Elementar wichtig zum Singen sind natürlich auch die richtigen Lautstärkeverhältnisse, sprich das optimale Verhältnis von Gesang zum Playback sowie Click- und Guide Track.
Etwas komplizierter, wird es, wenn sich die Höranforderungen von Künstler und dem für die Aufnahme verantwortlichen Engineer oder Producer unterscheiden. Abweichende Höranforderungen des Producers könnten sein:
- “trockeneres” Gesangssignal zur Analyse von Soundqualität und Tonalität
- Mix ohne Click- und Guide Tracks, welche vielleicht vom Sänger benötigt werden
- andere Lautstärkenverhältnisse
Hier macht es Sinn, zwei separate Mixes zu erstellen. Wie man dies konkret realisiert, hängt stark vom verwendeten Recording-Setup ab. In der Regel nutzt man hierzu Pre-Fader-Aux-Sends der verwendeten Audiokanäle, mit denen man einen zweiten Abhörweg beschickt.
Typischer Ablauf einer Gesangsaufnahme
Wenn der Sänger/die Sängerin schließlich leibhaftig vor einem steht, hat man Gelegenheit das Mikrofon und den Text exakt zu positionieren. Weiterhin sollte man darauf achten, dass der Künstler während der Aufnahme keine raschelnde Kleidung, klimpernden Schmuck oder Ähnliches an sich trägt. Bevor man mit der Aufnahme beginnt, führen einige Sänger verschiedene Aufwärmübungen für ihre Stimme durch. Wenn nichts in dieser Richtung passiert, biete ich meistens an, den aufzunehmenden Song oder einen Teil daraus als Schleife abzuspielen. Hier kann der Sänger nach Präferenz mit oder ohne Guide Track mitsingen – die Stimme wird aufgewärmt, der Song wird verinnerlicht und erste Abstimmungen bezüglich des Kopfhörermixes können auch schon erfolgen. Zusätzlich stellt man dabei bereits fest, ob die Tonart eine gute Wahl ist oder man gegebenenfalls den Grundton erhöhen oder herabsetzen sollte.
Tipp: Es ist KEIN Fehler, diese Aufwärmphase (ohne Wissen des Künstlers) aufzunehmen! Aus der Spontaneität heraus fängt man vielleicht schon einen schönen Take ein.
Nach erfolgter Aufwärmphase, festgelegter Tonart und abgenicktem Kopfhörermix wird es dann so langsam ernst und man verkündet offiziell das Betätigen des Record Buttons. Ich kenne es nicht anders, als dass man Songs grundsätzlich in verschiedene Teile aufsplittet und nicht in einem Take aufnimmt. Somit beginnt man zumeist mit der Aufnahme der Lead Vocals des ersten Verses.
Tipp: Es kann sehr hilfreich sein, die erste Gesangsphrase des darauffolgenden Songteils mitzusingen, um eventuellen Überlappungsproblemen vorzubeugen!
Hiervon nimmt man dann so viele Takes auf, bis man glaubt, sicher zu sein, dass sich aus dem aufgenommenen Material in der Nachbearbeitung eine tolle Strophe basteln lässt.
Alternativen zum chronologischen Ablauf der Vocal-Aufnahme bedenken
Nun kann man entweder chronologisch fortfahren, indem man den darauffolgenden Songteil aufnimmt, oder aber beispielsweise den zweiten Vers aufnehmen. Sollte der Sänger Probleme gehabt haben, sich die Versmelodie zu merken, ist man gut beraten, direkt den zweiten Vers aufzunehmen, da die Melodie dann noch präsent ist. Es gibt noch andere Gründe, die Chronologie aufzubrechen. Zum Beispiel kann man nach einem für die Stimme sehr anstrengenden Songteil ein entspanntes Gesangselement aufnehmen, um die Stimme des Sängers nicht über die Maßen zu strapazieren.
Dopplungen, Harmonien und Backing Vocals
Wenn man schließlich alle Lead Vocals aufgenommen hat, fehlen wahrscheinlich noch weitere Elemente wie Dopplungen und Harmonien. Zur Aufnahme dieser Backing-Elemente nutzt man einen tonal und rhythmisch möglichst fehlerfreien Take der Lead Vocals, den man möglicherweise schon zu diesem Zweck als rhythmische Guide markiert hat. Falls es keinen geeigneten, zusammenhängenden Take gibt, muss man sich aus zwei oder mehreren Takes einen Guide provisorisch zusammenschneiden.
Tipp: In einigen Fällen kann es ausreichen, übrig gebliebene Takes der Lead Vocals als Dopplung zu nutzen, häufig aber eignen sich absichtlich etwas softer und mit weniger Ausdruck gesungene Takes besser als Dopplungen!
Im Idealfall würde man Chorelemente wie Dopplungen und Harmonies auf bereits fertig bearbeiteten Lead Vocals aufnehmen. In der Realität passiert dies aufgrund organisatorischer Gründe praktisch nie, weil man hierzu zwei Gesangstermine bräuchte.
Statt Recording: Copy & Paste
Wenn sich in einem Song der Refrain oder andere Songteile wiederholen (Tempo, Tonart und Text sind identisch), sollte es in der Regel genügen, diesen nur einmal aufzunehmen. Beim Vorhandensein vieler Gesangselemente kann dies eine spürbare Zeitersparnis bedeuten. Dieser Kopiervorgang lässt sich leicht verschleiern, indem man in der Nachbearbeitung jeweils eine kurze, prägnante Änderung/Variation der Lead Vocals einfügt oder einen Ad-lib hinzufügt.
Vocal Coaching en miniature: Probleme & Lösungen
Ich bin kein professioneller Vocalcoach und verfüge auch nicht über die Fachkenntnisse eines solchen, dennoch möchte ich unter diesem Punkt einige Tipps zusammenfassen, die sich bewährt haben, Sänger während der Gesangsaufnahme zu unterstützen.
Fall 1: Der Gesang wird immer leiser, kraftloser und “unsauberer”.
Dies ist ein typisches Problem, wenn viele Silben in hoher Schlagzahl aufeinanderfolgen – irgendwann geht jedem die Puste aus. Der erste Schritt ist ein Blick auf den Text, um geeignete Atempausen zu finden, die sich dem Sänger vielleicht nicht spontan erschlossen haben. In einigen Fällen ist damit das Problem gelöst, jedoch gibt es heutzutage eine Vielzahl von Songs, die quasi unsingbare Passagen enthalten. In solch einem Fall empfiehlt es sich, die Aufnahme zu stückeln und vielleicht zweitaktige Häppchen aufzunehmen. Bei solchen Stückelungen besteht immer die Gefahr, dass die letzte Silbe zu lang gesungen wird. Wenn man das erste Wort der folgenden Textzeile mitsingt, ist auch dieses Problem gelöst.
Fall 2: Es werden falsche Töne gesungen.
In diesem prominenten Problemfeld sollte man sich absolut nicht auf die Nachbearbeitung verlassen, da derartige Abweichungen den Bereich einer artefaktfreien Tonhöhenkorrektur gerne mal verlassen. Hierzu möchte ich zwei Beispiele nennen.
Das erste nenne ich mal “Girl-from-Ipanema-Effekt”. Ich unterstelle einfach mal, dass es nur einer überschaubaren Anzahl von Sängern und Sängerinnen gelingt, die Melodie dieses Klassikers absolut fehlerfrei zu singen. Manche Töne wollen bei manchen Leuten einfach trotz Guide Track nicht in den Kopf. Dieses Problem findet man auch bei anderen Songs. Hier hilft es in einigen Fällen, die entsprechenden Problemtöne während der Aufnahme einen Takt oder eine Zählzeit vorher per Keyboard einzuspielen, sozusagen als einen vorgezogenen Guide. In schwierigen Fällen muss man darüber hinaus entsprechende Stellen in einer Loop aufnehmen, was dem Sänger hilft, die dann hoffentlich “gefundenen” Problemtöne nicht wieder zu verlieren bzw. zu vergessen.
Ein weiterer Klassiker ist der überraschende Wechsel der Tonart. Was sich auf CDs immer so perfekt anhört, klingt im Studio fast nie so. Auch hier hilft in vielen Fällen ein vorgezogener Guide wie im vorhergehenden Beispiel. In schwierigen Fällen nimmt man die Problemphrase einfach an einer anderen Songposition auf, an der sich die Akkorde wiederholen, um es im Anschluss an die korrekte Position zu schieben. Im folgenden Audiobeispiel ist zu hören, wie man dem Sänger bei einem Wechsel der Tonart unterstützen kann.
Fall 3: Konzentration weg und Akku leer?
In fast jeder Session kommt irgendwann der Punkt, an dem irgendwie die Luft raus ist. Der Künstler wirkt unkonzentriert, gut gemeinte Produzenten-Tipps fallen wie Samen auf ödes Land und die Stimme fängt auch schon langsam an zu kratzen. PAUSE! Eine kleines Päuschen kann manchmal Wunder wirken und die schwierige Phrase, an der man sich zehn Minuten lang ohne befriedigendes Ergebnis abgequält hat, sitzt nach einem kurzen Break plötzlich beim ersten Take.
Sonstiges:
Als Producer oder Recording Engineer muss man während einer Aufnahme viele Dinge hinterfragen und den Sänger bei Bedarf auf erkannte Probleme hinweisen:
- Ist die Aussprache verständlich?
- Klingt die Aussprache gut oder gibt es unerwünschte Färbungen/Dialekte?
- Ist die Intonation sauber (genug)?
- Groovt es?
- Klingen einige hohe Töne zu angestrengt? Vielleicht mal in der Kopfstimme ausprobieren?
Wie viele Vocal-Takes sollten aufgenommen werden?
Diese Frage stelle ich mir während der Aufnahme auch immer wieder und lässt sich natürlich nicht pauschal beantworten, doch für mich habe ich die folgende Faustformel gefunden:
Wenn ich denke, ich habe genügend Takes aufgenommen, nehme ich am besten nochmal die Hälfte von dem auf, was ich bereits an Takes aufgenommen habe!
(Wer sich das auf den Unterarm tätowiert, bekommt von mir ein Vocal-Editing gratis.)
Es gibt Dinge, die ich während einer Aufnahme für gut befinde, welche mir am nächsten Tag überhaupt nicht mehr gefallen, von daher habe ich mir schon sehr früh abgewöhnt, während einer Session Entscheidungen zu treffen, Takes zu löschen oder zu früh zu glauben, dass ich mit dem bereits aufgenommenen Material auf der sicheren Seite bin. Dann kann es nämlich passieren, dass man ein paar Tage später bei der Nachbearbeitung merkt, dass es beispielsweise ein bestimmtes Wort gibt, dass IMMER so grauenvoll gesungen wurde, dass man beim Vorspielen an der entsprechenden Stelle räuspern oder husten muss.
Ein Kollege von mir hat einst den symbolischen Begriff “das rettende DENN” geprägt, welches er dann im allerletzten von unzähligen Takes gefunden hat. Hallelujah!
Wenn dann endlich alle wichtigen Dinge beachtetsind und alles pflichtgemäß im Kasten ist, nehme ich häufig noch ein bis zwei Takes des kompletten Songs quasi als Freestyle auf. Hierbei fängt man sich mit etwas Glück noch ein paar schöne Phrasen oder Ad-libs ein.
Die nächste Folge des Workshops behandelt die verschiedenen Schritte zur professionellen Nachbearbeitung von Gesangsaufnahmen.