In der 7. Folge unseres Workshops “Noten lesen lernen für Gitarristen” zeige ich dir eine Möglichkeit, wie die Noten auf der Gitarre umgesetzt werden, die den Tonumfang der ersten Lage übersteigen. Bisher haben wir uns im Verlauf dieser Workshop-Reihe ausschließlich dort bewegt, was den Vorteil hatte, dass wir uns beim Blattspiel über die Position der Greifhand keine Gedanken machen mussten: Jede Note hatte genau ihren Bund auf dem Griffbrett oder wir konnten sie einer Leersaite zuordnen. So ist in der ersten Lage jeder Ton nur einmal vorhanden.
Die einzige Ausnahme stellt das kleine h (b) dar, dass wir theoretisch als Leersaite oder gegriffen auf der dritten Saite im vierten Bund spielen können. Verlassen wir aber die erste Lage und betrachten das gesamte Griffbrett als unser Spielfeld, dann fällt auf, dass viele Töne mehrfach vorkommen, also ein- und derselbe Ton an völlig unterschiedlichen Bünden gegriffen werden kann.
Die folgende Griffbrett-Übersicht zeigt dies beispielhaft für den Ton e’ (eingestrichenes e), für den wir bei einer Standardgitarre, die über mindestens 20 Bünde verfügt, tatsächlich fünf verschiedene Möglichkeiten haben.
Auch wenn der Klang an jeder Stelle etwas anders ist, handelt es sich doch immer um den Ton e’.
Dabei ist die Notendarstellung genau genommen keine Hilfe, wenn es darum geht, uns für eine der vielen Griffbrett-Positionen eines Tons zu entscheiden – sie macht nämlich ebenfalls keine Unterschiede:
Mit der Note e’ alleine erhalten wir keine Information, wo diese im Einzelfall zu greifen ist – ein Grund, warum schlaue Menschen hier Abhilfe geschaffen und irgendwann die Tabulatur erfunden haben!
In der klassischen Gitarrenliteratur, die ja üblicherweise keine Tabulatur verwendet, gibt es jedoch auch einen Weg, Töne einer eindeutigen Stelle zuzuordnen: Man gibt mit einer Zahl die Saite an, auf welcher der Ton gespielt werden soll. Um Verwechslungen mit Fingersatz-Angaben auszuschließen, werden hier eingekreiste Zahlen verwendet. Jeder Ton oder jede Note kommt nur genau einmal auf einer Saite vor, weswegen dieses System der Angabe von Saitennummern zwar etwas umständlich, aber dennoch eindeutig ist.
Bsp. 2 zeigt die fünf Möglichkeiten, e’ zu spielen in dieser Schreibweise.
Sinn und Zweck des Gitarrenspiels nach Noten ist aber die Unabhängigkeit von Tabulaturen und gitarrenspezifischen Schreibweisen, da wir es im musikalischen Alltag oftmals auch mit Spielern anderer Instrumente zu tun haben. Wir können folglich nicht damit rechnen, dass uns immer jemand aufzeigt, wo wir welchen Ton zu spielen haben. Also benötigen wir ein System, das uns hilft, selbst relativ schnell zu entscheiden, auf welcher Saite wir welchen Ton spielen.
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Warum spielen wir dann nicht einfach immer alles wie bisher gelernt in der ersten Lage?!
Wir können natürlich versuchen, einfach alles in den ersten vier Bünden zu spielen, in denen fast alle Töne, ausgenommen h (international “b”), nur einmal vorkommen. Den Rest der Gitarre könnten wir, zumindest beim Blattspiel, versuchen zu meiden.
Keine schlechte Idee, jedoch ist der Tonumfang damit nach oben hin begrenzt, denn der höchste erreichbare Ton in der ersten Lage ist gis’ (oder as’). Kommen in einem Stück höhere Töne vor, und das kann natürlich jederzeit passieren, müssen wir zwangsläufig die Lage wechseln. Dieser Wechsel in andere Lagen hat jedoch den Nachteil, dass wir uns völlig neu orientieren und viele eigentlich bereits vertraute Noten an einer völlig anderen Stelle als gewohnt spielen müssen.
Daher möchte ich dir heute eine einfache erste Möglichkeit zeigen, auch höhere Töne umzusetzen, die nicht so viel Umdenken erfordert. Ein einfaches System, den Tonumfang nach oben zu erweitern, sieht so aus, dass wir alle in der ersten Lage nicht spielbaren Töne in den höheren Bünden ausschließlich auf der ersten Saite greifen.
Gehen wir vorerst einmal von einer Erweiterung des Tonraums bis zum zweigestrichenen e (e”) aus, also von dem auf jeder Gitarre gut erreichbaren Bereich bis zum zwölften Bund. Wir erweitern damit unseren bisherigen Tonraum um weitere acht Halbtöne.
Alle diese Töne wollen wir nun ausschließlich auf der ersten Saite spielen. Im folgenden Griffbrett-Ausschnitt sind die Töne zugunsten besserer Lesbarkeit wieder nur mit Großbuchstaben und gegebenenfalls dem zugehörigen Versetzungszeichen dargestellt.
Damit wären wir in der Lage, die stolze Anzahl von 37 Tönen zu spielen.
So sieht das Ganze dann in der Griffbrett-Übersicht aus:
Dieses System ist so sicherlich nicht sonderlich elegant und unter Gitarrenlehrern umstritten, denn der klassische und sinnvolle Weg, das Spielen nach Noten zu erlernen, funktioniert üblicherweise so, dass man sich nacheinander mit den gesamten Tönen jeder einzelnen Lage vertraut macht. Keine Frage, dass man auf diese Weise umfassend lernt, alle Töne des Griffbretts sinnvoll zu organisieren und zu verbinden. Mit diesem Wissen kann man dann für jedes Stück oder jeden Abschnitt eines Stückes im Vorfeld anhand verschiedener Kriterien die optimale Lage festlegen. Dieser Herangehensweise werden wir uns ab der nächsten Folge widmen.
Was ich dir heute zeige, ist hingegen ein etwas anderes, schneller zu lernendes System, das auch immer dann gut funktioniert, wenn vor dem Spielen eines Stückes keine Vorbereitungszeit bleibt, dem Horror-Szenario aller Gitarristen.
Vorteile:
- kann angewandt werden, ohne ein Notenbeispiel vorab eingehend studiert zu haben
- keine Kenntnis aller Töne in allen Lagen erforderlich
- das Festlegen von Lagen im Vorfeld entfällt
- eindeutige Zuordnung aller Töne zu je einer Griffbrettposition
- Minimierung des Denkaufwands beim Spielen
Nachteile:
- ist oftmals mit unpraktischen und schwierigen Griffbrett-Sprüngen verbunden
- dadurch erhöhte Fehler-Gefahr
- klingt deshalb oft unsauber und nicht immer sehr musikalisch
- flüssiges und schnelles Spiel werden erschwert
- große Teile des Griffbretts bleiben ungenutzt
Nicht selten bekomme ich in meinem musikalischen Alltag als Jazz-Rock-Pop-Gitarrist die Gitarrennoten erst in der ersten Bandprobe oder, noch schlimmer, unmittelbar vor dem Auftritt. Zeit, irgend etwas vorzubereiten oder mir über die optimalen Griffbrettpositionen Gedanken zu machen, ist hier oftmals nicht vorhanden. Manchmal verhindert auch einfach die Masse des Notenmaterials eine umfassende Vorbereitung. Ich denke dabei gerade an spontane Aushilfsjobs bei Galabands. Diese schöpfen oftmals aus einem Repertoire von einigen hundert Songs. Was davon am jeweiligen Abend tatsächlich gespielt wird, entscheidet sich oft erst spontan auf der Bühne.
Zugegeben, an spielerische Perfektion und optimale Lagen ist in diesen Fällen (zumindest bei meinen Fähigkeiten) nicht zu denken, und es geht zuallererst darum, die richtigen Töne zu erwischen. Immer wieder fragte ich in der Vergangenheit erfahrenere Kollegen, mit welchen Strategien sie in derartigen Situationen klarkämen. Und so erfuhr ich auch von der heute beschriebene Methode “1. Lage + 1. Saite”, die ich häufig dann verwende, wenn gar keine Vorbereitungszeit bleibt.
Zeit für ein paar Notenbeispiele zum Ausprobieren! Wie gesagt, wir verwenden die schon bekannten Töne der ersten Lage, alle weiteren, höheren Töne werden durch Versetzen der Greifhand auf der ersten Saite erreicht (vgl. Bsp. 6).
Auch diesmal wollen wir die Gelegenheit nutzen, verschiedene Tonarten zu wiederholen. Vorzeichen gelten wie besprochen unabhängig davon, in welcher Oktavlage die zu versetzenden Töne im Stück vorkommen. Das bedeutet, dass in Es-Dur beispielsweise jedes H zu Bb, jedes E zu Es und jedes A zu As erniedrigt wird. Für die heute neu gezeigten Töne gelten natürlich dieselben Regeln, sie können mithilfe von Bs oder Kreuzen dargestellt werden (enharmonische Verwechslung).
Viel Spaß mit den Notenbeispielen, ich habe wieder alles mit 100 bpm eingespielt.
In der nächsten Folge zeige ich dir den anderen, seriöseren Weg, Notenbeispiele mit großem Tonumfang auf der Gitarre umzusetzen: das Spielen in verschiedenen Lagen.