Carlos, wie bist du als Programmkoordinator am Abbey Road Institute gelandet?
Als ich nach England gezogen bin, habe ich begonnen, als Freelancer für verschiedene Studios tätig zu sein. Dort habe ich beispielsweise in den Mayfair Studios und im Sahara Sound Studio gearbeitet. Dann habe ich angefangen zu unterrichten. Inzwischen unterrichte ich seit über einer Dekade. Zum Abbey Road zu gehen, schien mir eine weise Entscheidung zu sein, denn dort konnte ich all mein Produzentenwissen, meine Studio- und Lehrerfahrung kombinieren und in Theorie und Praxis anwenden.
Kannst du uns etwas über die Geschichte des Institutes erzählen?
Das Institut ist eine Partnerschaft von unabhängigen Investoren und den Abbey Road Studios. Es ist das Ergebnis von vielen Diskussionen darüber, wie man die Erfahrung, die Geschichte und die Praktiken, die man hier im Studio vorfindet, teilen und vermitteln kann. Wir benutzen diese Phrase, dass das Lehrprogramm seit 80 Jahren entwickelt wird, weil das Studio über 80 Jahre alt ist. Das Institut ist aber eine brandneue Angelegenheit.
Wie habt ihr den Lehrplan entwickelt?
Nun, als wir angefangen haben am Curriculum zu arbeiten, haben wir zunächst eine ausführliche Studie zur Geschichte des Studios erstellt. Wir haben uns also auch die Anfänge um 1931 angesehen. Wir haben nicht nur auf die Technologie geschaut, sondern auch, auf welche Weise damals Künstler und Engineers in die Produktionen involviert waren. Wir haben auch noch einige Mitarbeiter in den Studios, die bereits seit den späten 60er- und 70er-Jahren im Abbey Road arbeiten. Ihr Mitwirken und ihre Informationen waren von entscheidender Bedeutung. Mit den Mitarbeitern, die am längsten dabei sind, haben wir angefangen – abschließend haben wir die derzeitigen Engineers und Produzenten konsultiert. Zusätzlich haben wir auch Akademiker eingebunden. Denn auch wenn wir uns sehr um die praktische Seite bemühen, müssen wir eine gute Balance zwischen den praktischen und den theoretischen Aspekten finden.
Haben alle eure Dozenten einen „Abbey Road“-Background?
Unsere Dozenten haben einen sehr intensiven Hintergrund im Bereich Musikproduktion. Einige haben auch hier im Studio gearbeitet. Wir haben sehr viele Gastdozenten. In den letzten Monaten war beispielsweise Ken Scott hier, der als Engineer für die Beatles, Bowie und unzählige andere Musiker tätig war. Wir hatten Alan Parsons, der Engineer bei dem Album „The dark side of the moon“ von Pink Floyd war oder als Operator bei den Aufnahmen zu „Let it be“ der Beatles mitwirkte. John Dunkerley, der mit über 20 Grammy Awards geehrt wurde und der viel klassische Musik hier im Abbey Road Studio aufgenommen hat, gibt regelmäßig Vorlesungen.
Werden die Lehrkräfte aus anderen Länder in der Londoner Zentrale geschult?
Das Studio ist die Zentrale des Instituts und das Curriculum kommt von hier aus dem Headquarter. Wir hatten einige Meetings mit den Dozenten aus den anderen Ländern. Bei diesen Zusammentreffen haben wir den Lehrplan und die Bewertung gemeinsam nachvollzogen. Alles Material, das von Studenten erzeugt wird, sei es in den Instituten in Australien, Frankreich oder Deutschland, wird ebenfalls hier von uns bewertet. So sehen wir auch, ob unsere Lehrkräfte es schaffen, die Inhalte richtig zu vermitteln.
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Warum kann das Studium am Abbey Road Institute so schnell gehen? Die Kursdauer beträgt nur 12 Monate, während für vergleichbare Angebote der SAE 18 Monate veranschlagt werden, an staatlichen Hochschulen oder Universitäten sogar noch deutlich mehr.
Wir haben die Möglichkeit bekommen, den Kurs sehr frei aufzubauen. Das war einer der Punkte, weshalb ich es attraktiv fand, hier zu arbeiten. Wir können uns auf das fokussieren, was wir für relevant erachten, in dieser Industrie zu arbeiten. Eine traditionell orientierte Universität muss einem Curriculum folgen, das Zeit sehr unvernünftig verbraucht, weil es Themen abdeckt, die unrelevant oder auch gar nicht mehr anwendbar sind.
Können wir ein Beispiel bekommen?
Ich möchte nicht sagen, dass ein Studium von beispielsweise den Theorien von Sigmund Freud nicht wichtig ist, aber in traditionellen Studiengängen geht es in einem meiner Meinung nach unvernünftigem Maße eben auch um kulturwissenschaftliche Themen und all die Themen, die du gar nicht unbedingt lernen möchtest, wenn du in der Industrie arbeiten willst. Wir können uns eben genau darauf konzentrieren, was wir für wirklich relevant halten. Basierend auf unseren Nachforschungen und darauf, was wir beobachtet haben, auf all dem akkumulierten Wissen wie die Studios funktionieren, können wir sagen: „Okay das ist relevant, lass es uns in den Lehrplan packen.“
Der Schlüssel steckt also in der Konzentration auf das Wesentliche?
In traditionellen Universitäten, das habe ich selbst erfahren, kümmert sich das Lehrpersonal ausschließlich um die Inhalte seiner Disziplin. Wenn beispielsweise du der Lehrer für Harmonie bist und ich der Lehrer für Gehörtraining, ist es mein Job, Gehörtraining nach meinen besten Kräften zu lehren. Aber ich weiß gar nicht, was du bei Harmonie schon vermittelt hast. Das System an den Universitäten ist so, dass du in einigen Disziplinen sehr viel schneller vorankommst als in anderen. So kann es kommen, dass das Thema Harmonie schon viel fortgeschrittener behandelt wird als das Thema Gehörtraining. Dadurch kann es ein sehr kompliziertes Gefüge zwischen den Disziplinen geben. Wenn nun aber eine Schnittmenge zwischen zwei Lehrsträngen existiert, beispielsweise bei Harmonie und Komposition oder Kontrapunkt, ergibt sich eine Situation, in der jeder Lehrkörper vom anderen erwartet, dass er das Thema abdeckt. Und umgekehrt auch. Am Ende behandelt es niemand.
Das ist am Abbey Road anders?
Wir haben unseren Lehrplan so angelegt, dass alle Stränge komplett untereinander verzahnt sind und einrasten. Ich gebe dir ein Beispiel: Wenn ein Student bei uns anfängt, behandeln wir die Geschichte des Studios und die Geschichte der Produktion. Also sagen wir, wir schauen uns jetzt die Werkzeuge der Musikproduktion von 1940 an. Die Studenten dürfen jetzt nur in Mono arbeiten, denn in den 40er-Jahren war die Technik nur dafür ausgelegt. Die Studenten starten also damit, den Pegel auszubalancieren. Wenn wir in spätere Dekaden vorstoßen, in denen anspruchsvolleres Equipment entwickelt wurde, können die Studenten in Stereo oder mit schnelleren Kompressoren oder Parallelkompression arbeiten. Der Lehrplan entfaltet sich so, dass alle Stränge Hand in Hand gehen. Deshalb muss jeder Lehrkörper wissen, was jeder andere unterrichtet. Das ist an unserem Institut einzigartig.
Gibt es weitere Unterschiede?
Es ist eine andere Sichtweise. Der thematische Bogen, der alles umspannt, ist die Musikproduktion. Wir wollen alles berücksichtigen, was man braucht, um ein Musikproduzent zu sein. Historisch gesehen ist das nicht jemand, der im Schlafzimmer Beats zusammenschustert und dann jemanden darüber singen lässt. Wir schauen auf die traditionelle Seite der Produktion. Unsere Studenten müssen das lernen, was man als traditionelle Tontechnik bezeichnen würde, wie man bildschirmgestützte Technologien nutzt, wie man analoge Technologie nutzt, Mikrofonierungstechniken. All das, was du normalerweise mit Engineering assoziieren würdest. Und wir behandeln Musiktheorie, Arrangement, Orchestrierung, Filmsound und das Musikbusiness. Das ist es, was wir meinen, was ein Musikproduzent wissen muss.
Gibt es Pläne für andere Kurse oder bleibt das Institut bei seiner Kernkompetenz?
Wir wollen bei dem bleiben, was wir machen.
Im Studio und auch im Institut habt ihr Idealbedingungen: Equipment und Räume sind State of the Art. Werden eure Studenten auch auf Musikproduktion und Recording in Real-Life-Situationen mit weniger perfektem Equipment und knappem Budget vorbereitet?
Das ist eine sehr gute Frage. Vom ersten Tag an, an dem die Studenten bei uns sind, sagen wir ihnen: „Es gibt diese ganze Technologie.“ Letztlich lernen sie an großformatigen Mischpulten und mit all den hochentwickelten Tools und sie haben dann den Sound dieses Equipments in ihren Köpfen. Die Idee ist, dass sie ihren Sound mit jedem Tool hinbekommen sollen, das sie gerade zur Verfügung haben. Die Studenten müssen Produktionen nur mit einem Laptop machen können. Solange sie sich an den Sound der großen Mischpulte und den Sound von B&W-Speakern erinnern, sollten sie den Sound emulieren können. Wir müssen sichergehen, dass niemand denkt, dass man für einen speziellen Sound auch ein spezielles Tool braucht. Man muss den Klang im Kopf haben und kritisch zuhören.
Was sollen die Studenten sonst noch aus dem Studium mitnehmen?
Zum einen wollen wir, dass unsere Studenten die Arbeitsethik aufnehmen. Dass sie dem Protokoll und den ungeschriebenen Gesetzen folgen können. Nicht nur denen der Abbey Road Studios, sondern denen in den kommerziellen Top-Studios der Welt. Wenn du das Abbey Road besuchst, wirst du sehen, dass jeder, vom Runner bis zum Senior Engineer, immer genau weiß, was er wann und wo tun muss. Wir wollen, dass unsere Studenten sicher handeln, in Musikproduktionen und wenn sie mit anderen agieren. Wir wollen, dass sie in der Lage sind, die Geräte, die unserer Meinung nach zum Industriestandard gehören, zu bedienen: ProTools, Logic, Ableton Live. Wir wollen, dass sie mit analogem und digitalem Equipment auf die gleiche Weise arbeiten. Wir wollen nicht, dass sie glauben, dass sie etwas nicht professionell machen können, weil sie ein spezielles Tool nicht haben.
Etwas, das bei uns auch anders ist: Wir wollen, dass sie zur Produktion etwas beisteuern, ob es dadurch ist, dass sie etwas einspielen, dass sie arrangieren oder dadurch, dass sie Musiker zu einer besseren Performance anleiten. Wir wollen nicht, dass sie einfache Tontechniker sind, die nur die Aufnahme starten und sich zurücklehnen und die Performance anschauen. Wir wollen, dass sie auf beiden Seiten der Scheibe sein können, dass sie ein Instrument spielen können, dass sie Parts arrangieren können. Deshalb ist auch die Fähigkeit, im Team arbeiten zu können, sehr wichtig für uns. Dann gibt es noch die Musik-Business-Seite. Wir wollen, dass sie ihre Zeit managen können, dass sie ihre Arbeitslast planen können und sich am Ende nicht hetzen müssen. Wir wollen, dass sie sicher und relaxt sind und es ihnen möglich ist, ihre eigene Karriere zu managen, damit sie komplette Kontrolle über den Inhalt erhalten, den sie herstellen, und die Produkte, an denen sie sich beteiligen.
Wo würdest du jemanden, der das Studium heute beginnt, in zwei Jahren sehen?
Das Ideale Szenario für mich wäre, dass er Inhalt produzieren kann. Ich möchte, dass er Musik für Film und Fernsehen schreibt. Ich möchte, dass er als Produzent mit Musikern arbeitet. Dass er das Beste aus den Musikern herausholt, aber auch eigene Musik auf die Alben anderer Leute platziert. Das ist, glaube ich, eine spezielle Sichtweise von uns. Wir wollen, dass sie Inhalte herstellen, dass sie Musik machen und mit anderen Künstlern kooperieren. Ich möchte, dass meine Studenten Tantiemen einnehmen und auch die Tontechnik für Alben übernehmen können. Du siehst, es ist eine ganze Portfolio-Karriere, wir wollen, dass die Studenten live spielen können, sie sollen Live-Sound machen können, sie sollen Werbemusik machen können und im Studio arbeiten können. Ich möchte, dass sie ein Produzent sein können. Ich glaube, die Tage, an denen man nur eine Sache können musste, sind vorbei.
Carlos, herzlichen Dank für das Gespräch.
Weitere Infos zu den Kursangeboten bekommt ihr unter: www.abbeyroadinstitute.de