Hallo, geschätzte Harmonielehre-Novizen. In den vergangenen Folgen haben wir in erster Linie die Durtonleiter als Grundlage unserer Überlegungen benutzt. Alle Intervalle, Akkordstufenbezeichnungen und Kirchentonleitern haben wir stets in Relation zu unserem ionischen Dursystem gesetzt.
Heute wollen wir einen Schritt weitergehen und ich kann euch jetzt schon verraten: Es wird traurig, denn diesmal wollen wir uns mit dem Thema “Moll” beschäftigen und – ganz nebenbei – die eine oder andere neue Tonleiter entdecken.
WORKSHOP
Aufmerksame Leser dieser Workshop-Reihe werden sich noch daran erinnern, dass wir in Folge 2 über die diatonischen Akkorde der Durtonleiter gesprochen und die drei wichtigsten Akkorde, nämlich die der ersten, vierten und fünften Stufe herausgegriffen und als Kadenz zusammengefasst haben. Außerdem haben wir erfahren, dass diese Stufen wegen ihrer großen Bedeutung in der Harmonielehre mit gesonderten Namen versehen sind: Tonika für die I. Stufe, Subdominante für die IV. Stufe und Dominante für die V. Stufe.
Betrachten wir das Ganze in C, so erhalten wir:
C – F – G(7) – C
Wir haben außerdem bereits festgestellt, dass die Dominante (G) einen besonders starken Zug zur Tonika hat, sie will sich “auflösen” oder anders ausgedrückt: Würde man auf dem G aufhören, wäre das ein ziemlich unbefriedigender Schluss. Alles schön und gut, aber wie sieht das Ganze in Moll aus? Zur Beantwortung dieser Frage bemühen wir noch einmal unsere diatonischen Akkorde. Allerdings beginnen wir diesmal nicht mit dem C, sondern mit A und benutzen die Tonleiter A-Aeolisch als Ausgangsbasis. So erhalten wir:
Am Bo C Dm Em F G Am
Eine Kadenz nach obigem Muster (I – IV – V – I) würde folgendermaßen aussehen:
Am – Dm – Em – Am
Am ist unsere Molltonika, Dm die Mollsubdominante und Em die Molldominante. Spielt diese Akkordfolge durch und lasst sie auf euch wirken. Hier auch noch einmal als Soundbeispiel:
Diese Mollkadenz findet ihr in dieser Darreichungsform bereits in sehr vielen Popsongs wieder – eine andere Kadenz werdet ihr allerdings noch häufiger antreffen. Und mit dieser wollen wir uns jetzt etwas intensiver beschäftigen.
Zunächst aber ein paar Background-Infos: Vielleicht ist euch aufgefallen, dass Em in der “Am – Dm – Em – Am” Kadenz zwar harmonisch klingt, aber keinen richtig starken Zug zum Am entwickeln will, die ganze Kadenz klingt sehr peacig und soft (was ja gewollt sein kann und nichts grundsätzlich schlechtes ist). Das liegt daran, dass in dieser Mollkadenz eine wichtige Note nicht vorhanden ist, die es bei unserer Durkadenz gibt: die große Terz der Dominante, in C Dur also das B in G7, das den Akkord erst zu einem Dur-Akkord macht.
Bleiben wir für den Moment im vertrauten C Dur Umfeld, in dem das B den Drang hat, sich nach oben aufzulösen – man spricht in diesem Zusammenhang auch von einem “Leitton”. Dieser Effekt lässt sich aber auch anders analysieren. Wenn wir beispielsweise einen G7-Akkord betrachten, erhalten wir zwischen den Tönen B und F einen Tritonus (Übermäßige Quarte), der sich in die Töne C und E auflösen will. Und genau dieses Verhalten sorgt dafür, dass der G7-Akkord dazu strebt, sich im C-Dur auflösen zu wollen. Das mag theoretisch betrachtet recht kompliziert klingen, aber im Soundbeispiel erklärt sich der Sachverhalt von ganz alleine:
In Noten stellt sich das so dar:
Der Leitton ist in jeder Tonleiter der siebte Ton, der einen Halbton unter dem Grundton liegt (B – C in der C-Durtonleiter), und genau dieser Mechanismus fehlt uns in Moll.
Betrachten wir die A-Molltonleiter, so sehen wir:
A B C D E F G A
Zwischen G und A liegt ein Ganzton, und somit kann das G nicht als Leitton fungieren. Schade eigentlich … und wenn man das G einfach zum G# machen würde? Dann erhalten wir:
A B C D E F G# A
Aber hat das auch Einfluss auf unsere Akkorde? Natürlich, und so soll es ja auch sein. Der Am bleibt unberührt, der Dm auch, aber aus unserem Em wird ein E-Dur (die kleine Terz G wird zur Durterz G#). Also klingt unsere neue Mollkadenz nun wie folgt:
Am – Dm – E (7) – Am
Ihr könnt hören, dass das E7 einen viel stärkeren Zug zum Am entwickelt als sein Vorgänger Em7.
Das heißt: Mit der Veränderung von nur einem Ton in unserer Molltonleiter haben wir nicht nur das Leitton-Problem gelöst, sondern es stehen uns auch vollkommen neue Sounds zur Melodiebildung bzw. Improvisation zur Verfügung. Die Abänderung der kleinen Septime G zur großen Septime G# hatte für uns einen harmonischen Grund (denn wir wollten statt dem Em ein E-Dur), und so soll dann auch unsere neue Tonleiter heißen. Meine Damen und Herren, ich präsentiere:
Harmonisch Moll
Im Notenbild:
Prinzipiell könnt ihr euch merken: Harmonisch Moll ist eine Natürliche (aeolische) Molltonleiter mit großer Septime. Um euch zu zeigen, wie praxisnah die Molldominante ist, hier ein paar Beispiele aus der Popwelt:
Und so weiter … an dieser Stelle könnte man sicher noch tausend Beispiele bringen. Aufmerksame Leser des letzten Workshops könnten sich jetzt natürlich die folgende Frage stellen:
“Wir haben doch gelernt, dass Mixolydisch eine Tonleiter über Dominantseptakkorden ist. Warum kann ich also nicht einfach E-Mixolydisch über einem Dominantseptakkord spielen, der mich nach Am bringen soll?”
Die Frage ist berechtigt – schauen wir uns mal die Töne von E-Mixolydisch an: Das wären
E F# G# A B C# D E
Das Problem bei der Sache: Wir bewegen uns in unserer Kadenz ja grundsätzlich im Tonvorrat von A-Moll mit den Tönen A B C D E F G A – das heißt, wir hätten über dem E gleich drei tonartfremde Noten – nämlich das F#, G# und das C#, wobei das C# sogar noch die große Terz vom A wäre. Das würde sich sicherlich etwas seltsam anhören. An dieser Stelle möchte ich ein Prinzip einführen, das uns pragmatisch dabei helfen kann, die richtige Tonleiter über nichtdiatonische Akkorde zu finden, nämlich den “common tone approach”.
Das Rezept ist denkbar einfach:
- Wir betrachten unsere Tonart Am mit den Tönen A B C D E F G A
- Wir betrachten unseren fremden Akkord E7 mit den Tönen E G# B D
- Nun nehmen wir das E7 Arpeggio (also den gebrochenen E7-Akkord, hier in Fettdruck und unterstrichen) und füllen die Zwischenräume mit Tönen aus unserer Heimattonart auf:
E F G# A B C D E
Wie ihr seht, landen wir auch auf diesem Wege bei unserer A-Harmonisch-Moll-Tonleiter – von E ab gespielt.
Das bringt uns auch gleich zum nächsten Thema: In der letzten Folge haben wir die Modi der Durtonleiter betrachtet, wo uns sieben Töne sieben verschiedene Akkorde und sieben verschiedene Kirchentonleitern liefern. Was hindert uns daran, das Ganze auch in Harmonisch-Moll durchzuexerzieren?
Nehmen wir die Tonleiter A-Harmonisch-Moll zur Hand und bilden auf jedem Ton terzengeschichtete Vierklänge, so erhalten wir:
Ammaj7 Bm7b5 Cmaj7#5 Dm7 E7 Fmai7 G#07
Im Notenbild sieht das so aus:
Und der Sound:
Auch diese Modi haben Namen, die sich aus den bekannten Modi der Durtonleiter ableiten lassen. Oftmals werden sie aber auch einfach durchnummeriert, also HM1, HM2 usw.:
Akkord | Tonleiter | Name |
---|---|---|
Ammaj7 | A B C D E F G# A | A Harmonisch Moll/HM1 |
Bm7b5 | B C D E F G# A B | B lokrisch 13 / HM2 |
Cmaj7#5 | C D E F G# A B C | C ionisch#5 / HM3 |
Dm7 | D E F G# A B C D | D dorisch#11 / HM4 |
E7 | E F G# A B C D E | E phrygisch dominant / HM5 |
Fmaj7 | F G# A B C D E F | F lydisch#9 / HM6 |
G#07 | G# A B C D E F G# | G# dim b2b4 / HM7 |
Im Popbereich finden sich diese Modi lange nicht so häufig wieder, wie das bei den Durtonleitermodi der Fall ist.
Einer der “Bestseller” im Pop- und Rock-Kontext ist natürlich “phrygisch dominant” bzw. HM5. Man spielt die Skala – als grobe Faustregel – über Dominanten, die nach Moll auflösen (im Gegensatz zu mixolydisch bei Dominanten, die nach Dur auflösen). Gelegentlich begegnen uns auch HM1 über Mollakkorden und HM7 über verminderten Akkorden. Wobei man erwähnen muss, dass der G#0 oftmals in der Funktion eines E7/b9 verwendet wird.
Hier die Erklärung: Betrachten wir den Zusammenhang mal im Notenbild:
Ich spiele euch jetzt eine Kadenz vor: E7/b9 nach Am7 und im Anschluss ein G#07 nach Am7:
Wie ihr hören könnt, ist der Sound sehr ähnlich. Der E7/b9 lässt sich also problemlos durch einen G#07 ersetzen. Aber auch beim Solieren kann uns dieses Prinzip hilfreich zur Seite stehen, denn wann immer ein E7 nach Am führt, klingt ein G#0 Arpeggio wunderbar über dem E7. Gerade im Metalbereich ist das weit verbreitet. Man denke da nur an Gitarristen wie Richie Blackmore oder Yngwie Malmsteen, die den Sound klassischer Kadenzen gerne in ihre Kompositionen integriert haben. Aber auch in Fusion und Jazz ist diese Art der Substitution ein ganz großes Thema.
Wenn ihr den dritten Workshopteil noch einmal durchlest, könnt ihr die Eigenheiten des verminderten Akkordes bewundern – man kann ihn in kleinen Terzen verschieben. Und das gilt natürlich auch für das Arpeggio.
Unsere neue Tonleiter Harmonisch-Moll kann uns also bereits einen breiten Soundhorizont eröffnen. Viele alte Komponisten haben sich jedoch mit der Melodik aus dieser Tonleiter etwas schwergetan. Der Tonschritt zwischen der kleinen Sexte und der großen Septime (in unseren Beispielen also vom F zum G#) ist ein ziemlicher Sprung, wenn man den sonst so gleichmäßigen Stufenverlauf der Durtonleiter gewohnt ist, zumindest wurde das noch im Barock so empfunden. Aber die trugen ja auch Perücken und puderten sich das Gesicht. Wie auch immer: Diesem Problem konnte Abhilfe geschaffen werden, wie wir jetzt feststellen werden. Unserer Tonleiter hat man ja aufgrund einer harmonischen Überlegung (wir haben eine Durdominante auf Stufe 5 gebraucht) den Namen Harmonisch Moll verpasst. Da wir jetzt die Melodik der Tonleiter etwas aufpäppeln wollen, erhöhen wir auch noch die sechste Stufe (in unserem Beispiel das F zum F#). Nun haben wir keinen Tonsprung, der größer ist als eine große Sekunde – das klingt melodisch – und so heißt auch unsere neue Tonleiter:
Melodisch Moll A B C D E F# G# A
Und die klingt so:
In der Klassik wird melodisch Moll aufwärts und abwärts unterschiedlich gespielt:
Das heißt, abwärts erklingt eine natürliche Molltonleiter. Das soll uns im Rock/Pop/Jazzbereich allerdings nicht weiter interessieren – dort ist diese Unterscheidung eher unüblich.
Auch hier erhalten wir vollkommen neue Stufenakkorde und Modi:
Ammaj7 Bm7 Cmaj7#5 D7 E7 F#m7b5 G#m7b5 ( bzw. G#7/alt)
Im Notenbild sieht das Ganze so aus:
Die Akkorde klingen so:
Unsere neuen Modi sind nun:
Akkord | Tonleiter | Name |
---|---|---|
Ammaj7 | A B C D E F# G# A | A Melodisch Moll / MM1 |
Bm7 | B C D E F# G# A B | B dorischb9 / MM2 |
Cmaj7#5 | C D E F# G# A B C | C lydisch#5 / MM3 |
D7 | D E F# G# A B C D | D mixo#11 / MM4 |
E7 | E F# G# A B C D E | E mixob13 / MM5 |
F#m7b5 | F# G# A B C D E F# | F lokrisch9 / MM6 |
G#m7b5 (bzw. G#7 / alt) | G# A B C D E F# G# | G# alteriert / MM7 |
Auf Stufe 7 sehen wir hier zwar einen Moll7b5 Akkord mit dem B als kleine Terz, aber da in diesem Modus auch das C enthalten ist (was dann die große Terz des G# wäre), nimmt man die 7. Stufe eher als einen Dominant 7 Akkord wahr, auch wenn sich in der Terzenschichtung eine Mollterz ergibt. Diese Mollterz hört man als #9, also erhalten wir einen Akkord mit großer und kleiner Terz. Wenn das menschliche Ohr mit so etwas konfrontiert wird, wirft es sich “hörpsychologisch” auf die große Terz, darum nennen wir den Akkord auf der 7. Stufe G7 alteriert, wobei sich hinter dem Wort “alteriert” die Möglichkeit verbirgt, einen Dominantseptakkord mit b9, #9, #11 und #5 zu spielen.
Das mag jetzt alles sehr abstrakt wirken, aber der tiefere Sinn wird sich erschließen, sobald wir die Anwendung dieser Modi in der Praxis betrachten. Und genau das soll Bestandteil der nächsten Workshop-Folge sein. Wir werden uns bestimmte Akkordwendungen und Kadenzen aus der Rock/Pop/Jazz-Welt zu Gemüte führen, die den Einsatz der Tonleitern erfordern. Aber auch in der Improvisation gibt es zur Genüge Anwendungsmöglichkeiten, die darauf warten, entdeckt zu werden!
In diesem Sinne, alles Gute, Haiko
ÜBRIGENS: Auch diesmal habe ich im Anschluss an den Workshop wieder einige Übungen aufgeschrieben. Die Lösungen gibt es nach einem Klick auf “Weiterlesen”.
- Wie lautet D Harmonisch Moll?
- Wie heißt die Tonleiter über einen G7, der sich nach Cm auflöst?
- Nenne die Modi von C Melodisch Moll
- Welche Harmonisch Moll Tonleiter liegt D phrygisch dominant ursprünglich zu Grunde?
Thomas sagt:
#1 - 20.10.2022 um 10:34 Uhr
Also ich muss mal sagen: Tausend Dank! Ich bin dabei Euren Harmonie Workshop durch zuarbeiten . Er hat mich schon jetzt mit richtig weiter gebracht. Die Soli's über Jazstandards, die wir mit Freunden spielen, werden immer besser., sagen die Kollegen :-) Weiter so und noch einmal Vielen Dank!