Der Sektor der professionellen Notationssoftware wird seit gefühlten Äonen von den beiden Platzhirschen MakeMusic Finale und Avid Sibelius beherrscht – und da ist es natürlich hochinteressant, wenn ein etablierter Hersteller wie Steinberg, der vor allem mit seinem DAW-Flaggschiff Cubase sehr erfolgreich ist, eine neue Software ins Rennen schickt, die ganz oben mitspielen will – und dies zumindest mit ihrem Kaufpreis bereits tut. Ob sich das neu vorgestellte Dorico vor seinen alteingesessenen Rivalen behaupten kann?
Beim Release der Version 1.0 sah es für Dorico damit leider recht düster aus. Grundlegende Eigenschaften einer vollwertigen Notationssoftware schienen einfach zu fehlen, es gab keine befriedigende Dokumentation, die Anwendung reagierte an vielen Stellen extrem schwerfällig und war voller Bugs. Dementsprechend brach im Forum von Steinberg und in den sozialen Netzwerken ein kleiner Tsunami von Posts los. Manche schimpften, manche andere lobten das vermeintlich großartige (wenn auch noch nicht fertig umgesetzte) Konzept, die meisten stellten jedoch einfach Fragen, die sich für gewöhnlich durch einen Blick in ein (eben nicht vorhandenes) Benutzerhandbuch selbst beantworten. Man muss den Entwicklern zugutehalten, dass sie in diesem Moment wirklich präsent waren und in der Regel innerhalb von wenigen Minuten auf einen Post antworteten – und dabei in der Tat absolut professionell, kompetent und oft sehr hilfreich reagierten.
Wegen der offensichtlichen Mängel von Version 1.0 beschlossen wir, unseren ausführlichen Test aufzuschieben und auf das erste Update zu warten. Dieses ist mittlerweile erschienen, und in der Tat hat sich einiges zum Guten gewendet, vieles andere aber leider auch nicht. Auf den folgenden Seiten sehen wir uns an, was Dorico in Version 1.0.10 (Stand: Anfang Dezember 2016) zu leisten vermag, wo ihre größten Stärken und die gröbsten Schwachstellen liegen.
Details
Ein neues Sibelius
Dorico wurde vom Kern des ursprünglichen Entwicklerteams von Sibelius geschaffen. Nachdem die frühere Herstellerfirma Sibelius Software von Avid übernommen worden war, gab es interne Umstrukturierungen, die zur Folge hatten, dass Produktmanager Daniel Spreadbury und einige seiner Kollegen im Jahr 2012 ihren Hut nahmen und zu Steinberg wechselten, um mit der Arbeit an einer neuen Software zu beginnen. Gerade da Sibelius sich seit diesem Wechsel nicht mehr im gleichen Maß weiterentwickeln konnte, wie das früher war, setzten viele Poweruser große Hoffnungen auf diese neue Sache, die da zu entstehen schien – und nach vier Jahren Entwicklungszeit hat Dorico nun also das Licht der Welt erblickt. Der Name lässt sich als Hommage an den italienischen Typografen Valerio Dorico verstehen, der im 16. Jahrhundert lebte.
Erste Besserungen durch das Update
Das Update auf Version 1.0.10 wurde sechs Wochen nach dem ursprünglichen Release veröffentlicht und bringt über 200 Verbesserungen und Bug-Fixes. Viele davon betreffen die allgemeine Performance und verkürzen Wartezeiten, die der Anwendung zuvor ein an vielen Stellen äußerst träges Bediengefühl verliehen hatten. Auch die Auswahltools wurden erweitert, und so ist es mittlerweile möglich, mit gehaltener Strg- bzw. Befehlstaste eine Mehrfachauswahl zu machen – richtig, das ging bisher nicht. Beim Einspielen oder Programmieren von Noten spielt Dorico die entsprechenden Sounds gleich mit ab (!), und zudem werden bei der Wiedergabe einige der Artikulationen berücksichtigt. So wirkt sich beispielsweise ein Umschalten zwischen Arco und Pizzicato bei Streichern nun tatsächlich auf den Klang aus, und auch der Einsatz von grundlegenden Dynamiksymbolen mit ihren Variationen von Piano und Forte zeigt hörbaren Effekt. Eine ebenfalls sehr willkommene Neuerung ist der Transpositions-Dialog, über den sich eingegebene Noten transponieren lassen.
Für dich ausgesucht
Ohne an dieser Stelle zu weit in den Details zu versinken, kann ich sagen, dass eine gehörige Anzahl von den Momenten, in denen man entnervt vom Rechner aufspringen und laut „das geht ja mal GAR nicht! Warum veröffentlichen die das jetzt schon?“ rufen möchte, nach dem ersten Update nicht mehr auftreten. Trotzdem fehlen nach wie vor noch einige grundlegende Features. So gibt es keine Möglichkeit, mehrere Percussion-Instrumente mit unbestimmter Tonhöhe in einer Zeile zu kombinieren (Stichwort: Drumset), Akkordsymbole ohne Workaround zu verwenden oder Voltenklammern bei Wiederholungen (Haus 1, Haus 2…) zu notieren. Trotz aller Unvollständigkeit muss man der Software aber zugestehen, dass sie einige sehr vielversprechende Ansätze zeigt, die wir uns auf der nächsten Seite ansehen werden.
Hooray sagt:
#1 - 14.12.2016 um 21:15 Uhr
Das hier beschriebene ist wohl richtig (habe selber noch nicht so tiefgehend mit der Demo gearbeitet). Wenn man aber nur den Normalpreis benennt, dann geht das auch an der Sache vorbei. Es gibt Crossgrade-Angebote, die - soweit ich sie verstanden habe - ausgesprochen attraktiv sind: das Crossgrade auf Dorico für ab 160 Euro! Gleichzeitig verlischt die Lizenz für Sib/Fin NICHT, d.h. man kann dort weiter arbeiten bei den Sachen, die Dorico noch nicht kann. Sicher kann man sagen, dass es recht früh ist, die Software zu veröffentlichen. Aber unter diesen Crossgrade Bedingungen finde ich es ausgesprochen akzeptabel. Zumal ja - das sagtest Du ja auch - die Diskussion mit Daniel Spreadbury recht fruchtbar vonstatten geht! Ich denke, das wird sich noch sehr positiv weiterentwickeln!
Alexander Aggi Berger (bonedo) sagt:
#1.1 - 15.12.2016 um 09:55 Uhr
Hallo Hooray, danke für deinen Kommentar! Es liegt mir vollkommen fern, Dorico das Potenzial abzusprechen, und ich hoffe, das hat sich nicht so transportiert. Andererseits hatte ich wohl noch nie eine so unfertige Software auf dem Rechner. Ich persönlich würde mit dem Kauf noch eine Weile abwarten, bis alles in trockenen Tüchern ist. Wer weiß, vielleicht schafft Dorico das innerhalb der nächsten Monate. Die Sache mit den 160,- € gilt allerdings für die Edu-Version des Crossgrades. Mit 279,- € für die normale Download-Version liegt Dorico nicht unbedingt in einem besonders günstigen Bereich. Wenn Steinberg ein drastisch reduziertes Einführungsangebot für Frühkäufer oder etwas in der Art gestartet hätte, dann hätte das die letztendliche Bewertung sicher verbessert. Bei aller Sympathie für sowohl den Hersteller (ich bin überzeugter Cubase-User) als auch die Software kann ich bei dieser Kombination aus Preis und Leistung aber nicht mehr als zwei Sterne vergeben.
Antwort auf #1 von Hooray
Melden Empfehlen Empfehlung entfernenba6 sagt:
#1.1.1 - 16.01.2018 um 16:23 Uhr
Inzwischen hat sich einiges getan! Dorico hat mit der Version 1.2 einen ganz gewaltigen Schritt getan, Wiederholungen und Akkordsymbole sind jetzt drin. Akkordymbole sind derart vielfältig darstellbar, so etwas habe ich noch in keinem anderen Programm gesehen. Außerdem sieht der Notensatz einfach superb aus. Nicht so wie bei der Konkurrenz, wo man immer gleich sieht, dass der Notensatz aus dem Programm xyz ist.
Es wäre mal wieder Zeit für einen neuen Test! Spätestens mit einem neuen Update.
Antwort auf #1.1 von Alexander Aggi Berger (bonedo)
Melden Empfehlen Empfehlung entfernenmelon sagt:
#2 - 21.06.2018 um 20:41 Uhr
OK, das Review ist alt, aber irgendwie ist es schon schade, dass dem Verfasser das eigentlich Revolutionäre an Dorico entgangen ist: Dorico ist in Sachen Typographie bei Notensatz-Software geradezu ein Quantensprung, Software einer ganz neuen Generation. Klar, für den Musiklehrer oder den Wochenend-Komponisten, dessen Musik ohnehin nie in Druck geht, mag es angebracht sein, sich über fehlende Features aufzuregen, aber das darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass für die Notensatz-Profis nun das gute alte Score langsam aber sicher in Rente gehen kann; eine Zeitenwende. Denn obwohl die (Eigen-)Werbung Sibelius oder Finale häufig als "professionelle" Programme für Notensatz gepriesen hat, waren diese Programme nur mit sehr großem zusätzlichen Arbeitsaufwand für professionelle Publikationen verwendbar, zu sehr sah das Druckresultat jeweils nach "Computer-Grafik" aus. So kann man sagen, dass Dorico das erste im professionellen Bereich einsetzbare WYSIWYG-Notenschreibprogramm ist, und das erste, mit welchem man auch genügend Flexibilität hat, um darin gleich zu komponieren. Hinzu kommt, dass die Bedienung einfach genug ist, dass Dorico auch für den "Prosumer"-Markt interessant ist. Wie auch immer, es ist OK, eine Wertung von 2/5 abzugeben, aber diese Wertung sagt eben auch etwas über den Reviewer und seinen Anwendungsbereich aus, und ist daher mit großer Vorsicht zu genießen – es ist immer die Frage, wer ein Programm für was benutzt. So gäbe ein Notensatz-Profi (große Verlage, E-Musik Bereich) für Finale oder Sibelius vielleicht 2/5 resp. 1/5, während Dorico 4/5 erhielte. Natürlich ist dies hier eine Website für (Pop-)Musiker, aber dennoch ist es schade, wenn die Qualität einer Software so unerwähnt bleibt. Da wollte ich nur drauf hinweisen, dass man dies alles auch von einer ganz anderen Perspektive sehen kann.
Tim Leiser sagt:
#3 - 21.10.2020 um 17:56 Uhr
Dorico ist mittlerweile in Version 3.5 erhältlich und nicht ansatzweise mit Version 1 vergleichbar. Es ist schon sehr armselig von einem Magazin wie Bonedo, dass sich niemand bemüht, einen neuen Testbericht zu schreiben. In so vielen Punkten ist Dorico um längen vor Sibelius. Angefangen bei der Übersichtlichkeit.Andere Tester und User überschlagen sich vor Begeisterung. Nicht, dass ich das von Bonedo auch erwarte. Aber ignorieren ist absolut nicht angebracht. Nicht bei einer Software die sich in so einem hohen Tempo und gleichzeitig hoher Qualität entwickelt.
Matze Rother sagt:
#4 - 08.05.2022 um 23:22 Uhr
Wird es zu Dorico 4 einen Testbericht geben? Ich bin - ähnlich wie Tim Laiser - überrascht, dass das ignoriert wird. Ich kenne nur Dorico. Aber von ehemaligen Sibelius -Nutzern habe ich jetzt schon mehrmals gehört, wie viel besser Dorico seit Version 3.5 sei.