PRAXIS
Kein LE mehr
Den diskriminierenden Zusatz «LE», den man wahlweise mit Light oder Limited Edition um- bzw. aus-schreiben kann, gibt es nicht mehr. Die Basisversion heißt jetzt Pro Tools 9. Die ist zwar noch immer «limited», im Vergleich zum alten LE aber doch sehr befreit. Zwei Beispiele verdeutlichen das: Während das alte LE ohne zusätzliches Toolkit keinen Timecode als Zeitleiste (im Pro-Tools-Sprech: Time Ruler) verwenden konnte und damit für viele Post-Production-Aufgaben prinzipiell nicht geeignet war, gibt es dieses Problem mit der Version 9 nun endgültig nicht mehr.
Das alte LE bot außerdem keinen Ausgleich für Verzögerungen, welche durch den Einsatz von Plug-Ins produziert wurden. Dieses Problem war selbst durch die Anschaffung einer Toolkit-Erweiterung nicht lösbar. Und wer hätte es gedacht, diese Einschränkung gehört nun ebenfalls der Geschichte an.
Weiterhin sind nun 96 Stimmen (egal, ob in Mono oder Stereo) mit Pro Tools 9 in der Basisversion möglich. Lediglich eine Erweiterung wird nur noch angeboten: das Complete Production Toolkit 2. Dieser, für stolze 1.590 Euro Straßenpreis erhältliche Werkzeugkasten liefert die Ausstattungsmerkmale nach, die dem Standard Pro Tools 9 zur HD-Variante fehlen.
Um den vollen Funktionsumfang der Pro-Tools-HD-Software zu erreichen, benötigt ein «normales» Pro Tools 9 zusätzlich das Complete Production Toolkit. Damit kommen folgende Merkmale hinzu:
- 192 gleichzeitig nutzbare Audio Playback Tracks (statt 96), 512 Audio Tracks gesamt (statt 256), 128 Instrument Tracks (statt 64) und 64 Video Tracks (statt einem).
- VCA-Groups. Ergänzt eine weitere Lautstärke-Automations-Ebene und bereichert vor allen Dingen komplexe Mischungen.
- Mix in 7.1-Surround.
- Post-Production-Features und mehr: Replace Region and Edit to Timeline Befehle, Scrub Trim Tool, Export Session Info as Text, Continuous Scrolling, Video Universe Fenster, Automation snapshots, Automation trim mode, Preview, Auto-match, Back and play, Glide, Enhanced Import Session Data.
- XForm, das mit Abstand beste Timecompression/Pitchshifting-Plug-In von Avid.
Mit einem Straßenpreis von 1.590 Euro ist das Complete Production Toolkit ungefähr drei Mal so teuer wie das Standardprogramm. Ob der funktionale Zuwachs dazu im richtigen Verhältnis steht, muss jeder für sich entscheiden.
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Manipulation der Zeit – Latenzkompensation
Darauf haben viele Nutzer in den letzten Jahren sehnsüchtig gewartet: Der Latenzausgleich steht jetzt auch für alle Pro-Tools-Systeme ohne TDM-Hardware zur Verfügung. Avid führte die Latenzkompensation vor einigen Jahren zunächst nur für TDM-Systeme ein. Wie oft Pro Tools LE aufgrund der fehlenden automatischen Latenzkompensation in Internetforen als «unbenutzbar» oder «unprofessionell» bezeichnet wurde, ist nicht überliefert. Tatsache ist jedoch, dass auch TDM-Systeme erst seit einigen Jahren dieses Merkmal bieten, aber auch schon vorher tausendfach Hits mit solchen Systemen produziert wurden.
Trotz allem war Latenzkompensation das meist gewünschte neue Feature für native Pro-Tools-Systeme, wie Umfragen von Avid ergeben haben sollen. Und Pro Tools 9 bietet nun den von HD-Systemen bekannten und erprobten Latenzausgleich auch für native Systeme. So kann in der Playback Engine zwischen zwei verschiedenen Varianten gewählt werden: „Short“ mit maximal 1024 Samples oder „Long“ mit höchstens 4096 Samples Verzögerung pro Track. Das System passt sich dabei dem spätesten Glied in der Kette an und gibt alle anderen Spuren entsprechend später wieder. Ob die Verzögerungen von einem Plug-In oder einem Hardware-Insert erzeugt werden, ist dabei unerheblich.
In der Praxis führt das Ein- oder Umschalten der Delay-Kompensation automatisch zu einem neuen Ladevorgang der aktiven Session, danach läuft aber alles wie geschmiert. Die Berech-nung der Latenz von Hardware-Effekten muss anders als in einigen anderen DAWs manuell erfolgen. In der Summe geht der Daumen für die native Latenzkompensation aber nach oben.
Erfahrungen mit Drittanbieter-Audio-Interfaces
Pro Tools ist neu im Geschäft mit Drittanbieter-Interfaces und das ist an einigen Stellen noch zu spüren: So ist in vielen aktuellen DAWs das Input-Monitoring unabhängig vom Scharfschalten eines Tracks. Mit anderen Worten: Ein Track lässt sich scharf schalten und aufnehmen, ohne dass man ihn hören muss. Für das Monitoring während der Aufnahme benutzen viele die mehr oder weniger latenzfreien Mixing-Utilities, die vom Hersteller des Audio-Interfaces mitgeliefert werden, etwa Total Mix von RME oder MixControl von Focusrite. Bei der Wiedergabe nach der Aufnahme ist die Spur aber sofort zu hören. Das ist der klassische Workaround nativer Audiosysteme außerhalb Pro Tools.
Wird allerdings in Pro Tools eine Spur scharf geschaltet, ist gleichzeitig auch das Input-Monitoring aktiv. Für die klassische Arbeitsweise nativer Audiosysteme muss die Spur deshalb während der Aufnahme gemuted werden. Zum Abhören nach der Aufnahme muss Mute erneut gedrückt werden. Das ist schon etwas umständlicher, bei langen Aufnahme-Sessions umso mehr.
Mit Avid-eigenen Interfaces und unter TDM gibt es diese Problematik natürlich nicht: TDM erzeugt nur so wenige Samples Verzögerung, dass das Durchschleifen kein Problem darstellt und die Avid-eigenen ehemaligen LE-Interfaces wie Digi 003 oder Mbox 3 arbeiten mit dem Pro Tools Low Latency Monitoring Modus. An dieser Stelle wird deutlich, dass die Öffnung für Drittanbieter-Audio-Interfaces erst am Anfang steht, denn die Avid-Monitoring-Architektur bringt Nachteile für Drittanbieter-Produkte. Ich habe vor allen Dingen unter Mac OS X gearbeitet und darüber hinaus keine weiteren Probleme mit Audio-Interfaces erlebt. Core Audio arbeitete klaglos, auch mit den Mac-internen Audio-Schnittstellen.
Kaum zu «überbeaten»
Ebenfalls neu für die nicht-HD-Version des Programms ist die vollumfängliche Verfügbarkeit des Beat Detective. Dabei handelt es sich um eine automatische Edit-Hilfe zur Bearbeitung von rhythmischem Material, sprich Drums. Verkürzt gesprochen zerteilt der Beat Detective Audioaufnahmen in kleinere Schnipsel (Slices), die sich dann automatisch in verschiedene Raster legen lassen. Auf diesem Weg ist es schon seit langer Zeit in Pro Tools HD möglich, live gespielte Drum-Aufnahmen mit vertretbarem Zeitaufwand zu quantisieren. Seit Pro Tools 7.4 steht dieses Verfahren in Konkurrenz zu Elastic Time, das die gleiche Arbeit per Timestretching erledigt und von Beginn an in allen Pro-Tools-Varianten zur Verfügung stand. Beat Detective stand zwar auch LE-Usern schon seit Jahren zur Verfügung, dies aber nur eingeschränkt. Mit Pro Tools 9 dürfen jetzt alle den beliebten Multitrack-Collection-Mode verwenden, bei dem mehrere Spuren gleichzeitig bearbeitet werden. Der ist zum Beispiel nötig, um eine mehrspurige Drum-Aufnahme zu bearbeiten, denn nur so bleiben die Phasenbeziehungen zwischen den Spuren erhalten, wenn etwas verschoben wird. In der Praxis habe ich schon manches Mal festgestellt, dass die Ergebnisse des Beat Detective besser klingen als die mit Elastic-Audio. Insbesondere wenn größere Eingriffe nötig sind, leidet der Klang dann nicht so sehr.
Wirkliche Neuigkeiten
Die in diesem Abschnitt genannten neuen Funktionen sind wirklich neu und nicht ehemalige HD-only-Merkmale. Für Pro-Tools-HD-Anwender sind diese Features die einzigen Neuigkeiten. Ganz oben auf meiner privaten Wunschliste standen Tastaturkommandos zum Erzeugen und Kopieren von Playlists. Dem ist endlich Folge geleistet worden. Viele langjährige Pro-Tools-Anwender nutzen die Playlists zum Beispiel, um die verschiedenen Takes einer Aufnahme sozusagen auf der z-Achse eines dreidimensionalen Koordinatensystems zu speichern. Das ehemalige „Mausgeklicke“ zum Erzeugen einer neuen Playlist war eine echte Workflow-Bremse, wenn es darum ging, eine Recording-Session zügig und mit möglichst kurzen «Technikerpausen» über die Bühne zu bringen. Aber: Es klappt nur mit einer englischen Tastatur. Die für die Playlist-Shortcuts verwendete Taste gibt es auf einer deutschen Tastatur nämlich gar nicht. Ich halte das jedoch für keinen schwerwiegenden Nachteil, da sich Pro Tools ohnehin nur mit einer englischen Tastatur wirklich zufriedenstellend bedienen lässt.
Nach dem Zukauf der Firma Euphonix vor geraumer Zeit, wundert es kaum, dass Avid´s Pro Tools 9 nun auch das EuCon-Protokoll unterstützt, das eine noch bessere Einbindung der verschiedenen Euphonix-Controller in Pro Tools ermöglichen soll.
Gegenüber dem Benutzer macht sich das neue Controller-Protokoll nur mit einem schlichten Häkchen bemerkbar, die übrigen Vorteile der EuCon-Unterstützung merkt man erst im Betrieb. Denn auch schon vor Pro Tools 9 ließen sich die diversen Euphonix-Controller in Pro Tools einbinden. Jedoch nur über das HUI-Protokoll, das seinen Namen vom alt ehrwürdigen Mackie HUI (anno 1997) ableitet. Dieses Gerät war nämlich der erste und einzige Drittanbieter-Controller für Pro Tools, der mit einem speziellen Protokoll bedacht wurde. Alle weiteren Geräte von Drittanbietern mussten die Kommunikation mit Pro Tools in den letzten Jahren über dieses etwas antiquierte Protokoll aufnehmen.
Die Unterstützung des EuCon-Protokolls ist ein Durchbruch, denn endlich lassen sich auch wieder Controller im etwas günstigeren Segment seriös in Pro Tools einbinden. Glücklicherweise ist das EuCon-Protokoll mittlerweile auch mehr oder weniger zum Standard geworden. Die Steinberg-Produkte Nuendo und Cubase unterstützen es, aber auch Apple´s Logic Studio. Diese Verbreitung führt zu einer (hoffentlich) großen Nachfrage und damit zu einer Modellpalette, die verschiedenen Ansprüchen der Nutzer gerecht wird.
Ich habe mir mit Pro Tools 9 eine Euphonix MC Control V2 zugelegt, die die bereits vorhandene Command|8 von Digidesign ergänzt. Denn auch das ist nun zum ersten Mal möglich: das Ansteuern zweier unabhängiger Controller. Es ist aber offensichtlich, dass die EuCon-Unterstützung in Pro Tools erst am Anfang steht. In der Avid-DUC, dem Pro-Tools-Forum im Internet, beschweren sich einige Nutzer von Euphonix-Controllern, dass mit dem Wechsel von Pro Tools 8 auf 9 und dem damit verbundenen Switch vom HUI- auf das EuCon-Protokoll Funktionalitäten verloren gegangen sind. Solche Probleme lassen sich aber über Software-Updates lösen. Mir persönlich ist beim Wechsel von HUI auf EuCon nur positives aufgefallen, etwa das Fader-Locking oder die gut sortierte Plug-In-Parameter-Anzeige auf meiner MC Control.
Sehr praktisch finde ich die neue Routing-Hilfe, die zum Beispiel beim Erzeugen eines Sends die Option bietet, den notwendigen Return-Kanal gleich mit zu erzeugen und zu benennen. So etwas nenne ich vorbildliche Benutzer-Unterstützung.
Der Vollständigkeit halber möchte ich auch die Unterstützung der 7.0- und 7.1-Surround-Formate mit Seitenlautsprechern nicht vergessen. In Pro Tools HD serienmäßig, für alle anderen nun über das Complete Production Toolkit 2 erreichbar.