PRAXIS
Zu allererst gilt es einmal, das Geheimnis der beiden Gain-Regler zu lüften. Die Einstellungen dieser Regler sind nämlich der Schlüssel zur unglaublichen Klangvielfalt, die dieser Verstärker zur Verfügung stellen kann. Bevor es aber losgeht, sei zunächst noch erwähnt, dass auch mit diesem Marshall-Amp wieder ein sehr gutes und in verständlichem Gitarristen-Deutsch geschriebenes Handbuch geliefert wird. Außerdem gehören noch der Fußschalter, ein Netzkabel und ein Lautsprecherkabel zum Lieferumfang. Wer zur Fraktion „Ich-probier-erst-mal-aus-und-lese-nur-im-Notfall-das-Handbuch“ gehört, für den gibt es direkt auf dem Verstärker einen kleinen Quickstart-Aufkleber mit den ersten Bedienschritten und Einstellungen. Da auch ich (wie wahrscheinlich 90 Prozent aller Gitarristen) zu dieser Sorte Mensch gehöre, habe ich die sechs Gebote auf dem Verstärker befolgt, meine Strat angeschlossen, den Amp eingeschaltet, und das ist das Ergebnis:
Die Klangregelung steht komplett auf 12 Uhr, Detail und Body (die beiden Gain-Regler) ebenfalls. Es ist Dynamic Range Hi angewählt, also der Modus mit etwas mehr Gain. Der Overdrive-Sound ist klanglich ausgewogen und hat ordentlich Punch.
Jetzt drehe ich den Detail-Regler, der für den Mitten und Höhen Gain-Bereich zuständig ist, auf 9 Uhr und den Body-Regler auf 15 Uhr. Wow! Damit habe ich nicht gerechnet: ohne Vorwarnung geht’s zurück zum alten Marshall Plexi mit vorgeschaltetem Fuzz Face und heruntergeregelten Höhen – was für ein Unterschied! Und das, obwohl die Klangregelung an der ganzen Sache überhaupt nicht beteiligt war, sondern nur die beiden Gain-Regler eingestellt wurden.
Jetzt wird einiges klar! Durch die Frequenztrennung der Gain-Regler verbiegt sich nicht nur der Verzerrungsgrad, sondern auch der Frequenzbereich – natürlich im positiven Sinne. Dreht man den Body-Regler weiter auf, bekommt man nämlich mehr von dieser typisch-mumpfigen Bassverzerrung, und mit ein paar Millimetern am Detail-Regler (Verzerrung im Höhen- und Mittenbereich) wird noch ein Pfund zugelegt. Die beiden Body- und Detail-Regler sind also grundsätzlich für Ton und Charakter einer Performance verantwortlich, der Klangregelung bleibt dabei lediglich die Feinjustierung. Die Veränderungen sind so heftig, dass man sich zuerst einmal daran gewöhnen muss. Aber dann eröffnen sich Klangwelten von unglaublicher Weite.
Nach dem ersten spontanen –und überraschenden – Schnellschuss wollen wir uns jetzt sukzessive durch das Sound-Angebot fräsen. Los geht es mit den Clean-Sounds. Dynamic Range Lo heißt die Wahl, ein Modus mit dem Charakter eines JTM45. Bekanntermaßen ein Amp, dessen Verzerrung man sich mit hartem Anschlag erst einmal verdienen muss, der den Spieler aber dann mit einem unglaublich druckvollen Sound belohnt. Und genau so verhält sich auch der Vintage Modern. Mit der Einstellung Detail auf 12 Uhr und Body auf 9 Uhr lassen sich Clean-Sounds für Akkordbegleitung erzeugen, die bei hartem Anschlag wunderschön „schmatzen“ und leicht in die Verzerrung kippen. Kein klinisch toter Clean-Sound, sondern ein Charakter-Ton mit Dynamik und Ausdruck
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Jetzt wird bei gleicher Detail- und Body-Einstellung die Tele angeschlossen und mit der Klangregelung etwas feinjustiert (Bässe abgesenkt, Höhen angehoben). Auch das kann er: wunderbare Funky-Sounds, die sich sehr gut im Klanggefüge mit Bass und Schlagzeug durchsetzen, ohne dass man die Gitarre im Mix weit aufdrehen müsste.
Das ist ein sehr wichtiger Aspekt, der für einen gut vorgewählten Frequenzbereich spricht. Bei manchen Verstärkern muss man unendlich an der Klangregelung schrauben, bis man einen durchsetzungsfähigen Sound hat. Meist wird die mangelnde Durchsetzung mit erhöhter Lautstärke kompensiert – was die Bandkollegen verständlicherweise nicht unbedingt erfreut. Ein ähnliches Problem finden wir bei Aufnahmen. Es gibt Amps, bei denen die Gitarre im Mix so weit aufgedreht werden muss, dass sie eigentlich schon wieder zu weit im Vordergrund steht. Zieht man allerdings den Fader nach unten, verschwindet das Instrument. Diese Probleme haben wir beim Vintage Modern definitiv nicht. Einfach alle Klangregler in die 12 Uhr Position, und ein gesunder Grund-Sound ist garantiert. Die beiden Gain-Regler Detail und Body werden nach persönlichem Gusto eingestellt, und bei bei Bedarf mit der Klangregelung noch etwas abgeschmeckt, fertig! Die Klangregler greifen nicht sehr in das Geschehen ein, beeinflussen sich gegenseitig nur wenig und lassen somit auch keine extremen Frequenzverbiegungen zu (Vintage halt…). Dafür ist aber zu jeder Zeit gewährleistet, dass der Amp auch ohne stundenlanges Schrauben gut klingt. Obwohl ich wirklich ausgiebig mit den Reglern gespielt habe, hat es tatsächlich nie schlecht geklungen. Immer mal wieder anders, aber nie schlecht!
Nun geben wir ein klein wenig mehr Gas, drehen Detail und Body auf 14 Uhr, nehmen die Höhen etwas zurück, pushen die Bässe einen Tick und schließen eine ES-335 an. Voilà, der perfekten Blues-Sound! Und der Amp spielt mit, setzt perfekt um, was der Spieler ihm schickt. Warme, bassbetonte Sounds beim Spiel mit den Fingern, mit dem Plektrum mehr Höhen und mehr Biss, je nachdem, wie hart die Saiten angeschlagen werden. Da kommt Freude auf.
Es geht aber auch ganz anders! Mit nur zwei Reglerdrehungen geht es über den großen Teich und mitten hinein in die Klangwelt der typischen kalifornischen Vintage-Amps. Eine Welt, in der Marshall Amps früher so fremd waren wie ein Greenhorn unter Cowboys. Nicht so unser Kandidat: Mit dem Detail-Regler am Anschlag lässt er das typische, höhenlastige Zerren eines Fender Verstärkers hören. Wer es noch authentischer möchte, der schließt jetzt die Telecaster an, legt eine Portion Presence und Treble zu, nimmt Mitten und Bässe etwas zurück, und zieht Stetson und Boots an. Das ist Country-Rock-Sound vom Feinsten, wie ich ihn bisher so nur von Fender-Amps kannte.
Bei diesem Soundbeispiel habe ich den Master-Regler voll aufgedreht – man hört auch wunderbar das „Schmatzen“ der Endstufenkompression – Vorteile eines 50 Watt Verstärkers: Da kann man auch schon mal die Endstufe richtig an’s Arbeiten bringen, was sich bei diesem Amp klanglich besonders positiv auswirkt. Mit dem Druck, den er liefert, kann man locker in einem Club ohne P.A. spielen. Durch das ausgewogene Klangbild verursacht der Amp aber auch bei hohen Lautstärken keine Ohrenschmerzen! Er hat einfach nur mehr Druck und Volumen.
Apropos Druck: Der „Mid-Boost“-Schalter bewirkt eine Anhebung im Mittenbereich und kann zum Beispiel genutzt werden, um Gitarren mit Single-Coil Pickups etwas fetter klingen zu lassen. Allerdings spricht auch nichts gegen seinen Einsatz bei Humbuckern. Jetzt haben wir praktisch die höchste Gainstufe von Dynamic Range Lo erreicht. Mit einer SG klingt das folgendermaßen:
Die Gitarre wurde übrigens auf Drop-D gestimmt, und wie man hört, ist auch der tiefere Frequenzbereich kein Problem für den Amp. Da freut sich dann auch die Bariton-Gitarre auf ihren Einsatz.
Als nächstes kommen wir zum zweiten Grundsound, den der Vintage Modern zu bieten hat: Dynamic Range Hi. Womit wir auch endgültig in der Abteilung Modern gelandet sind. Vom Grundcharakter her erinnert er an einen aufgemotzten JCM 800, aber durch die zusätzliche Röhren-Gainstufe ist der Verzerrungsgrad hier wesentlich höher als beim Lo-Mode. Nimmt man Detail und Tone zurück, sind aber auch jetzt Crunch-Sounds machbar. Bei Body und Detail auf 12 Uhr klingt der Verstärker zwar schon mit einem voll verzerrten Ton, bleibt dabei aber immer noch klar und deutlich, was das Hörbeispiel mit einer Les Paul beweist.
Natürlich sind noch weitere Gain-Reserven vorhanden, und mit eingeschaltetem Mid-Boost geht es bis zum massiven Rock-Gewitter. Man kann sich mit dem Verstärker Gain-technisch sogar bis an den Rand des Metal-Bereichs wagen. Allerdings greift die Klangregelung nicht weit genug, um die Mitten so weit herauszufiltern, wie es in vielen Metal-Genres angesagt ist (Scoop-Sounds).
Außerdem ist der verzerrte Ton nicht so „körnig“ wie bei einem typischen Metal-Verstärker. Aber das ist meiner Meinung nach auch nicht so wichtig, denn der Vintage Modern ist ohnehin eher ein traditioneller Rock-Amp, der unglaublich dynamisch auf Gitarre und Spieler reagiert. Darin ist er unschlagbar. Lieber eine Sache perfekt, als zwei Sachen halbherzig. Wer einen Metal-Sound haben möchte, der sollte einmal ein entsprechendes Verzerrer-Pedal vor den Marshall schalten. Damit hat der Verstärker nämlich überhaupt keine Probleme; die unwiderstehliche Dynamik und der charakteristische Ton des Vintage Modern bleiben auch in diesem Setup erhalten. Dasselbe gilt übrigens auch für den scharfgeschalteten Effektweg. Auch hier gibt es keinerlei Klangeinbußen zu vermelden, wenn man ein externes Delay oder einen Hall anschließt. Der Amp entlarvt höchstens, ob die Klangqualität des Effektgerätes ausreicht oder nicht.
Zum Abschluss noch die üblichen Tests zur Akkordverständlichkeit und Dynamik: Ich spiele die Akkorde E, G, D, A bei voller Verzerrung, und sie sollten noch als solche zu erkennen sein.
Wie zu erwarten, ist das für diesen Verstärker gar kein Problem.
Testen wir jetzt noch die Anschlagsdynamik. Ich wechsele von leichtem Finger- auf harten Pick-Anschlag bei voll aufgedrehtem Gain.
Traumhaft. Bei leichtem Anschlag ist der Verstärker mit der Lautstärke komplett da, erzeugt aber wenig Verzerrung. Haut man dann richtig rein, steht unmittelbar das volle Brett zur Verfügung. So soll das sein!
Als nächstes spiele ich eine kurze Passage mit heruntergeregeltem Volume an der Gitarre. Anschließend wird der Regler voll aufgedreht.
Das ist die große Stärke dieses Verstärkers – seine unglaubliche Soundvielfalt, die man allein mit dem Volume-Regler der Gitarre und der Anschlagsdynamik erzeugen kann. Das, gepaart mit den simplen, aber effektiven Einstellmöglichkeiten, machen diesen Amp zu einer echten Wunderwaffe.
amagra sagt:
#1 - 15.11.2011 um 21:34 Uhr
Halloder Bericht lässt in einem förmlich das GAS Fieber steigen. Schöne geschrieben.
Leider funktionieren nicht mehr alle Soundsamples. Könnt ihr die nochmals hochladen ?
Sigi sagt:
#2 - 02.05.2012 um 09:45 Uhr
wirklich sehr schade, dass die interessantesten Soundsamples nicht funktionieren!
Guido Metzen (bonedo) sagt:
#3 - 02.05.2012 um 16:18 Uhr
Hallo Sigi, danke, dass du uns auf den Fehler aufmerksam gemacht hast. Sollte jetzt behoben sein.
Viele Grüße,
Guido
Eric sagt:
#4 - 04.05.2012 um 14:18 Uhr
Der Full Stack ist ja wohl eher ein JVM oder? Zudem funktionieren immer noch nicht alle Soundbeispiele - Sorry.Ansonsten ein toller Bericht. Macht Laune auf mehr - Kompliment & Gruss Eric
BonedoAlex sagt:
#5 - 04.05.2012 um 17:10 Uhr
Hi Eric,
danke für dein Kompliment und für den Hinweis - jetzt sollte aber alles funktionieren!
Viele Grüße,
Alex
Sebastian sagt:
#6 - 30.06.2012 um 12:05 Uhr
Der Amp ist wirklich klasse.
Ich kann ihn nur empfehlen. Ich spiele ihn selbst seit ca. 5 Monaten.
Es braucht zwar etwas Zeit um den "richtigen" Sound für sich selbst zu finden, wenn man diesen jedoch gefunden hat, macht er richtig Spaß!
hans-juergen sagt:
#7 - 04.09.2013 um 12:03 Uhr
Mit welcher Box wurde getestet, wie bestückt?
Thomas Dill sagt:
#8 - 04.09.2013 um 12:29 Uhr
Hallo Hans-Jürgen,zu hören ist eine alte Marshall 4x12 Box mit Celestion Greenback Speakern.