“Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr”, lautet eine Mahnung, die sich seit Generationen vor allem an lernmüde Kinder richtet, denen man suggerieren möchte, dass sie Versäumtes im fortgeschrittenen Alter nicht mehr aufholen werden. Dass diese fragwürdige Weisheit von vielen ernstgenommen wird, empfinde ich als sehr bedauerlich, denn es gibt sicherlich einige spätberufene Musik-Aspiranten, die sich durch diesen Satz vom Vorhaben, noch ein Instrument zu lernen, abhalten ließen. Aber ist das auch tatsächlich gerechtfertigt?
Was es mit der landläufigen Meinung bzgl. des Lernprozesses in einem gewissen Alter auf sich hat, wollen wir heute auf den Prüfstand stellen. Doch so viel sei bereits gesagt: Es gibt auch für die “Best-Ager” keinen Grund, sich entmutigen zu lassen!
1. Lernpsychologische Aspekte
Was das Lernen anbelangt, besitzt der Mensch in jungen Jahren, ungefähr bis zur Pubertät, sicherlich die höchste Neuroplastizität. Das bedeutet, dass sich die Nervenbahnen in dieser Zeit am aktivsten formen, und dieser Umstand ist natürlich bedeutend, wenn man den Anspruch hat, zu den musikalischen Spitzenleistern zählen zu wollen. Kinder, die schon frühestmöglich musikalisch gefördert werden und lernen, korrekt zu üben, werden mit Sicherheit einen Vorsprung haben, den auch der Jungrocker nicht mehr aufholen kann, der mit 14 die Les Paul in die Hand nimmt und auf Knietiefe hängt. Aber geht es um musikalische Höchstleistungen, wenn man mit 50 beschließt, ein Instrument zu lernen? In den meisten Fällen wohl eher nicht.
Stand der Dinge ist: Trotz aller Veränderungen im Alter bleibt das Gehirn über die komplette Lebensdauer anpassungsfähig, auch wenn eher das erfahrungsbasierte Wissen die Oberhand gewinnt. Deshalb brauchen neue Lerninhalte unter Umständen etwas länger, bis sie in Fleisch und Blut übergegangen sind und mit zunehmendem Alter ändert sich auch die Art und Weise, wie wir lernen. Aber der alte Hänschen-Hans-Spruch ist definitiv widerlegt.
2. Motorische Aspekte
Selbstverständlich geht das Alter auch nicht ganz spurlos an Muskeln und Gelenken vorbei – das gilt für Sportler genauso wie für Musiker, auch wenn Koordination ein Leben lang trainierbar bleibt. Sowohl Grob- als auch Feinmotorik sowie Muskelmasse und Elastizität bauen im Alter ab und nach dem 60. Lebensjahr ganz deutlich, wobei hier extreme individuelle Unterschiede zu beobachten sind.
Im Bereich zwischen 30 und 50 Jahren ist man jedoch noch weit davon entfernt, drastische Auswirkungen zu bemerken. Wer hier einen Motivationsschub erleben möchte, der sollte altgediente Konzertmusiker beobachten, die auch im hohen Alter noch feinmotorische Höchstleistungen erbringen.
3. Motivation
Kommen wir nun zu den “weichen” Argumenten, die ausschlaggebend sind, wenn es darum geht, ein Instrument zu lernen, wie z.B. die Motivation.
Nimmt man als Kind die Aufgabenstellungen des Lehrers und die eingeforderte Übezeiten gewöhnlich relativ kritiklos an, kann es im Alter unter Umständen schwer fallen, jüngere Lehrer als Autorität zu akzeptieren oder aber das kindliche Feuer der Motivation in sich zu entfachen. Haben Kinder die nächste Unterrichtsstunde oder die Hausaufgabe als konkrete Zielsetzung, muss man sich als Erwachsener häufig selbst Ziele setzen oder durch Auftritte oder Vorspielen ein gewisses Maß an Selbstdisziplin einfordern. Andererseits, und das beschleunigt Lernprozesse immens, sieht man sehr häufig ältere Schüler, die aufgrund ihrer Reife auch eine viel klarere Vorstellung von dem haben, was sie vom Instrument erwarten und umsetzen wollen. Daraus lässt sich in der Regel eine hohe Motivation ziehen, die man jedoch im Idealfall auch über einen längeren Zeitraum aufrechterhalten muss. Insofern kann ein gewisses Alter auch durchaus Vorteile mit sich bringen.
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4. Zeitmanagement
Eines der größten Probleme erwachsener Schüler ist sicherlich, einen halbwegs konstanten Zeitplan aufzustellen, um ein stetiges Üben zu gewährleisten.
Häufig machen einem die Notwendigkeiten und Probleme des Alltags einen Strich durch die Rechnung und so wird es immer wieder Tage oder möglicherweise Wochen geben, in denen das Instrument in der Ecke bleibt. So etwas kann den Lernprozess natürlich verlangsamen oder lähmen. Hat man in jungen Jahren direkt nach der Schule doch immer noch ein Stündchen Zeit, dem Hobby zu frönen, und das zu einer Tageszeit, in der man noch einigermaßen frisch im Kopf ist, so ist nach einem achtstündigen Arbeitstag sicherlich mehr Überwindung und Selbstdisziplin gefragt, will man die Konzentration für ein anspruchsvolles Instrument aufbringen. Hier gilt es, einen guten Zeitplan aufzustellen, der täglich mindestens 20 Minuten zielgerichtetes und ungestörtes Üben möglich macht. Das ist ab einem gewissen Lebensabschnitt schwieriger, aber dennoch möglich. Übrigens gibt es auch viele Schüler, die sich dank Schulstress und G8 mit ganz ähnlichen Problemen konfrontiert sehen. Ich denke, mit einer Zielsetzung von fünfmal 20 Minuten pro Woche, vorzugsweise zu energetisch günstigen Uhrzeiten, wird man langsam aber sicher Fortschritte erzielen!
Fazit
Die Frage, ob man jemals zu alt ist, ein Instrument zu lernen, kann man eindeutig verneinen, sofern es keine medizinisch relevanten Einschränkungen in körperlicher oder geistiger Hinsicht gibt.
Ob man der nächste Mozart, Pat Metheny oder Lang Lang wird, ist sicherlich fraglich, aber die Möglichkeit, das Instrument auf einem Niveau zu bedienen, auf dem man selbst Spaß und Befriedigung empfindet und mit dem man problemlos beispielsweise in Bands mitwirken kann, wird immer gegeben sein.
Letztendlich entscheidet alleine euer inneres Verlangen, eure Vision und eure zeitlichen Kapazitäten über die Möglichkeit, auch im höheren Alter noch über sich hinauszuwachsen.
Insofern möchte ich alle ermutigen, diesen Schritt zu gehen, denn der Wille, etwas wirklich aus sich heraus und aus eigenem Antrieb zu wollen, kann wirklich Wunder bewirken und hat einen wesentlich stärkeren Einfluss auf Ge- oder Misslingen als alle anderen Faktoren.
querfeldein sagt:
#1 - 27.03.2018 um 08:59 Uhr
Dem kann ich nur zustimmen. Weit jenseits des halben Jahrhunderts habe ich mich meiner uralten Bassisten-"Laufbahn" entsonnnen und mit Tasten / Saiten wieder angefangen. Man wird kein Shredder mehr aber für langsame "gefühlvolle" Blues-Licks reicht es noch. Nur mit einer "Band" - das halte ich für reine Glücksache. Hier Gleichgesinnte in ähnlichem Alter und gleichem Niveau zu finden dürfte den meisten nicht gelingen. Welche Jungspund band sucht schon einen Opa oder es werden "Musiker" gesucht die eine entstandene Lücke schließen können. Aber dem Internet und Bonedo sei Dank ist die Welt ja voll von Jams.
Urs sagt:
#2 - 04.07.2022 um 14:43 Uhr
Ich begann mit 52 Gitarre zu spielen und bin mittlerweile 63. Zu Beginn lernte ich im Gruppenunterricht, dann mit Youtube und Lernbüchern und die letzten beiden Jahre mit Privatunterricht. Ich spiele viel, bin in Frühpension und habe viel Zeit. Aber entgegen aller Kommentare, die uns Alten hier immer wieder Mut machen wollen, komme ich nahezu überall an meine Grenzen. Es gibt Stücke, da machen meine Finger ab der dritten Strophe nicht mehr das, was sie sollen, mit dem Plektrum schaffe ich schnelle Passagen selbst nach Monaten systematischen Übens nicht und eigentlich kann ich nicht ein einziges Stück vorführreif spielen. Klar, Strumming mit Standardgriffen funktioniert ab Blatt, aber Picking, Blues, Jazz, Pentatonik etc. erwiesen sich als unlernbar für mich. Sicherlich mangelt es auch an Talent, aber den Leuten zu suggerieren, jeder könne auch ab 60 noch ein Instrument lernen ist einfach gelogen.