Praxis
Nun aber zum Eigentlichen: dem Sound. Das Grundkonzept des Nord Piano ist relativ leicht zu umreißen. Es produziert auf Sample-Basis die Sounds von sechs Instrumentenarten: Grand Piano, Upright Piano, E-Piano, E-Grand, Clavinet und Harpsichord. Innerhalb der Gruppen sind Varianten wählbar, denen jeweils komplett verschiedene Samples zu Grunde liegen. Der Clou dabei: Der Benutzer kann sich eine große Anzahl von aufwendig gesampelten Instrumenten von der Clavia-Website herunterladen und somit das Instrument, also die einzelnen Varianten pro Gruppe, nach seinem Geschmack via Software und USB bestücken. Mit ca. 500MB Speicher lässt sich da eine Menge anfangen, da Clavia einen eigenen Kompressionsalgorithmus entwickelt hat, der die Sample-Daten optimal kompakt zusammenstaucht. Mein armes Nord Stage der älteren Generation muss gar mit 128MB Speicher auskommen – und auch das geht ganz gut.
Clavia hat kürzlich die neueste Version (V5) seiner Piano-Sample-Library online gestellt, in der Sounds für alle sechs Instrumentengruppen des Nord Piano versammelt sind. Auf der Hersteller-Website kann man sich die einzelnen Sounds in Ruhe anhören und in verschiedenen Größen herunterladen.
Bevor wir uns mit den einzelnen Sounds befassen, sei schon mal gesagt, dass einem hier von Clavia eine wirklich einzigartige Möglichkeit gegeben wird, die Instrumente ganz nach den eigenen Vorlieben mit Sounds zu bestücken. Wer also z. B. häufig verschiedene Upright-Pianos benötigt, kann sich gleich 7 Varianten in den Speicher laden, bei denen komplett unterschiedliche Klaviere liebevoll gesampelt wurden. Die unterschiedlichen Größen der Sample-Sounds sorgen dafür, dass man auch bei knapp werdendem Speicherplatz auf Vielfalt nicht verzichten muss. Dabei muss man bei den mittleren und kleinen Versionen lediglich bei den Saitenresonanz-Samples Abstriche machen, alle Layer, und damit die Sound-Substanz, bleiben erhalten.
Ein schönes Feature, besonders für die Piano-Sounds, ist, dass sich die Soundausgabe sehr leicht auf Mono schalten lässt. Dies kann in manchen Setups sehr hilfreich sein, wenn das teilweise breite Stereo-Bild der Sounds sich nicht darstellen lässt.
Fangen wir bei unserem kleinen Streifzug bei den Flügel-Sounds an. Generell muss ich sagen, dass die Pianos-Sounds, also sowohl Klaviere als auch Flügel, für mich über jeden Zweifel erhaben sind. Sicherlich ist da das eine oder andere Geschmackssache. Aber alle Sounds lassen sich hervorragend artikulieren, bieten ein weites dynamisches Spektrum, wirken ziemlich voll und natürlich, verlieren sich aber andererseits auch nicht in Live-Situationen, wo sie markant und durchsetzungsfähig bleiben.
Für dich ausgesucht
Ich verwende live und im Studio sehr häufig das „Studio Grand 2“, bei dem ein Yamaha-Flügel gesampelt wurde. Auf der Bühne bietet dieser Sound von der Ballade bis zum Rock-Gehämmer alle Möglichkeiten. Besonders verblüfft aber hat mich, dass er auch unter strengen Studio-Laborbedingungen 1a funktioniert. So haben wir uns beim aktuellen Album von Gregor Meyle zum Beispiel dazu entschieden, weder echten Flügel aufzunehmen noch mit Plug-ins zu Werke zu gehen, sondern tatsächlich beim Nord Stage-Sound zu bleiben, den ich beim Einspielen mit der Band verwendet habe. Das Ergebnis, finde ich, kann sich echt sehen rsp. hören lassen.
„Grand Lady D“ basiert auf einem Steinway Grand D. Dieser Neuzugang in der Sample-Library hat mich ebenfalls voll und ganz überzeugt. Er ist ein wenig mittiger als das Studio Grand, jedoch gleichermaßen ausgewogen und für ein breites Spektrum an Spielweisen bestens geeignet.
Upright Pianos geraten gerne mal zur Karikatur und hören sich dann wie die verstimmte, kurzatmige Plastikvariante eines echten Piano-Klangs an. In früheren Versionen der Piano-Library von Clavia war das nicht wesentlich besser. Beim Upright kam keine rechte Freude auf. Das änderte sich schon in der Version 4 der Library mit einem „BlueSwede“ getauften Sound, bei dem man das Piano eines schwedischen Herstellers gesampelt hatte.
In der neuesten Library nun wimmelt es geradezu von phantastischen Upright-Sounds, hier exemplarisch vorgestellt durch ein Petrof- (Black Upright) und Schimmel-Klavier (Romantic Upright). Wie man hört, sind diese Upright-Sounds recht unterschiedlich von ihrem Klangcharakter und ihrer Räumlichkeit. Beide aber haben mich nachhaltig begeistert.
Wie erwähnt: Ich halte die Piano-Sounds insgesamt für Weltklasse. An klanglicher Qualität, Spielbarkeit und breiter Vielfalt ist diese Library schwer zu toppen, ob nun von der Plug-in-Konkurrenz oder den Hardware-Kollegen.
Ein relativ neues Feature sei hier noch erwähnt: die Saiten-Resonanz. Im Bemühen um eine größere Realitätsnähe und Komplexität des Sounds ist Clavia bei den Saiten-basierten Sounds dazu übergangen, für die Schwingung der Saiten und die Interferenz zwischen den von den einzelnen Saiten erzeugten Klängen eigene Samples zur Verfügung zu stellen. Damit soll genau das gelingen, was ja lange einen extrem hörbaren Unterschied zwischen den echten Instrumenten und ihren Digitalnachbauten ausgemacht hat: eine Reproduktion der Beeinflussung des einen Tons durch den anderen und das damit entstehende, mehr oder minder unkalkulierbare Klangspektrum eines echten, schwingenden Klaviers. Clavias Ansatz ist durchaus begrüßenswert. Mir scheint der Erfolg allerdings unterschiedlich groß, je nachdem, wann das Feature zum Tragen kommt. In getragenen Sustain-Passagen ergibt sich durchaus eine schöne Gesamtschwebung, der Klang wird dichter und räumlicher (wobei der Effekt doch ein wenig klingt, als käme einfach ein Hall hinzu). Wechselt man jedoch vom Staccato ohne Pedal ins Legato mit Pedal, kann sich das ziemlich unnatürlich anhören. Vielleicht lässt sich das noch verfeinern. Bis dahin sei nicht unerwähnt, dass man das Ganze auch schlicht ausschalten kann.
Bei den E-Pianos fließen die Glückshormone ebenfalls, allerdings etwas weniger üppig als bei den Akustikpianos. Wieder können wir uns in der Piano-Library V5 fleißig bedienen.
Bei den Rhodes-Samples gibt es zunächst mal keinen Grund zur Klage. Zwar gefallen mir persönlich einige der Sounds überhaupt nicht, weil sie entweder wahnsinnig knochig daherkommen oder sich auf Skurril-Glockiges beschränken. Keine Ahnung, welche Einsatzgebiete für dergleichen denkbar ist. „MK I“ und „MK V“ machen dann aber wieder richtig Laune, so dass man das geliebte Fender Piano von schmatzend-rhythmisch bis flächig-perlend aus dem Stereo-Out des Nord Pianos schicken kann.
In der Kategorie „Electric Grand“ treffen wir auf das gute alte CP-80, das vom Nord Piano adäquat reproduziert wird. Ich muss jedoch gestehen, dass ich diesen Sound, soweit ich mich erinnere, noch überhaupt nie benutzt habe. Aber wer zum Beispiel in einer Phil Collins-Coverband spielt, weiß vermutlich, was er damit tut.
Vom Wurlitzer wird die ansonsten so hoch liegende Messlatte der Library doch etwas untersprungen. Hier hat Clavia auch seit Jahren nichts getan, obwohl man bei den anderen Sounds geradezu vorbildlich aktiv ist. Das Wurlitzer, von dem es zudem nur eine einzige Variante gibt, lässt sich – da spreche ich aus Erfahrung – live durchaus passabel in Szene setzen, insbesondere unter Zuhilfenahme eines Tremolos. Im Gegensatz zu den meisten anderen Sounds des Nord Pianos wird man ein großes Aha damit aber nicht auslösen. Der Sound ist doch ziemlich dünn und leblos geraten, und er hat die etwas dumme Angewohnheit, bei sehr hartem Anschlag recht holzklotzartig zu klingen oder in den tieferen Registern komisch zu sirren. Bei anderen Synths würde man sich über den Sound vermutlich freuen, von Clavia hätte man sich etwas mehr erhofft.
Zwei Sounds bleiben uns noch bei unserem Überblick: Clavinet und Harpsichord. Ersteres würde ich getrost in die Kategorie „Obere Mittelklasse” einsortieren. Zwar fehlt dem Sound in allen vier gesampelten Pick-Up-Positionen eine gewisse natürliche Lebendigkeit, aber es lässt sich damit gediegen funken. Ohnehin verwendet man das D6 ja meistens mit Wah-Wah-Effekt oder ähnlichem, so dass sich die etwas fehlende Nuancierung, zumal auf der Bühne, nicht allzu negativ bemerkbar macht.
Ich muss gestehen, dass meine Hörerfahrungen im Bereich Harpsichord, zu Deutsch Cembalo, recht überschaubar sind. Dennoch würde ich mich zu der Aussage hinreißen lassen, dass niemand auf die Idee käme, mit dem Cembalo aus dem Nord Piano eine Solo-CD bestreiten zu wollen oder mit den Berliner Philharmonikern zu konzertieren. Dafür sind beide angebotenen Sample-Varianten doch etwas zu spitz und plakativ. Für den gelegentlichen Band-Einsatz (bei welcher Musik auch immer) oder in einem Arrangement-Kontext dürften diese Harpsichords ganz gut funktionieren. Interessant fand ich eine gemutete Variante des Cembalo-Sounds, deshalb auch dazu ein kleines Hörbeispiel.
Effekte
Wie bereits beschrieben, lassen sich die Clavia-Instrumente sehr intuitiv und vor allem ohne großes Menügerutsche bedienen. So auch beim Nord Piano. Im Grunde müsste man, wenn es nicht in Sekundenbruchteilen weitergehen muss, von den 120 Speicherplätzen kaum Gebrauch machen, denn sehr schnell lässt sich zwischen den verschiedenen Sounds umschalten und der gesamte Klangcharakter verändern. Dies gilt natürlich auch für die diversen Effekte, die das Piano an Bord hat.
In der Sektion „Effect 1“ geht es los mit Tremolo, Pan und Auto-Wah. Die beiden ersten liegen in jeweils drei Intensitätsstufen vor, die sich per Druckschalter wählen lassen. Beim Auto-Wah gibt es eine etwas entspanntere und eine flott zupackende Variante. Während man beim Flaggschiff Nord Stage in der Effektsektion mit Hilfe zweier Regler agiert und z. B. die Geschwindigkeit eines Tremolos, aber auch das Mischverhältnis zwischen Effekt und Originalsignal regeln kann, muss man sich beim Nord Piano (genau wie beim Nord Electro 3) mit einem „Rate“-Regler begnügen. Die Intensität des Effektes wird bei Tremolo und Pan über die jeweils 3 festen Varianten geregelt. Das ist bei Pan und Tremolo verkraftbar, beim Auto-Wah aber führt dies dazu, dass man sich doch recht eingeschränkt fühlt: entweder cleaner Sound oder Vollgas-Filter mit den entsprechenden Folgen beim Frequenzgang. Da hätte ich die Nord Stage-Lösung ehrlich gesagt besser gefunden.
Ansonsten kann man bei Pan und Tremolo ja nicht so wahnsinnig viel falsch machen. Entsprechend vergnüglich ist das Ergebnis, wenn man die Effekte z. B. auf Rhodes und Wurlitzer loslässt. Das Auto-Wah macht seine Sache, wie in unserem Clavinet Hörbeispiel zu begutachten, ebenfalls gut, ist aber eben entsprechend unflexibel.
In der zweiten Effektsektion stehen Phaser-, Flanger- und Chorus-Effekte zur Verfügung, wiederum in jeweils drei Intensitätsstufen. Besonders der Chorus weiß hier zu gefallen, aber auch die beiden anderen Modulationseffekte machen ihren Job ordentlich. Auch diesmal wünscht man sich aber, nicht nur mit dem „Rate“-Regler die Geschwindigkeit der Effekte bestimmen zu können, sondern auch stufenlosen Einfluss auf das Mischverhältnis zu haben. Mit der von Clavia hier angebotenen Lösung, also wiederum jeweils drei Abstufungen, lässt sich arbeiten, optimal finde ich sie nicht.
Der im Nord Piano verbaute Equalizer wartet im Vergleich zum Nord Stage dagegen mit einer Erfreulichkeit auf, denn er verfügt über durchstimmbare Mitten. Während Höhen und Bässe bei festen Frequenzen greifen, kann man im Mittenbereich im Grunde über das gesamte (sinnvolle) Spektrum gehen, von 200 Hz bis 8 kHz. Das finde ich extrem nützlich, da gerade Piano-Sounds in der einen oder anderen Situation schon mal der Feinabstimmung bedürfen, z. B. um durch Anhebung einer bestimmten Mittenfrequenz die Durchsetzungsfähigkeit des Sounds zu verstärken. Überhaupt lässt sich mit dem EQ sehr gut arbeiten. Auch die festen Frequenzen für Höhen und Bässe scheinen mir sinnvoll gesetzt, und die Bänder packen gut zu, wobei sich klugerweise die maximale Anhebung und Absenkung ein einem Bereich bewegen, in dem man den Klang nicht völlig entstellt.
Da Keyboarder vor allem Wurlitzer und Rhodes seit jeher gerne über Gitarrenamps schicken, ist es im Grunde ein Muss, dass das Nord Piano mit entsprechenden Amp-Simulationen aufwarten kann. Die Skandinavier stellen einem auf der Suche nach der angemessenen Zerre drei Modelle zur Seite: einen mit „small“ bezeichneten kleinen Brüllwürfel, eine Jazz-Chorus- und eine Fender Twin-Simulation. Wer hier ausgereifte Nachahmung à la Guitar-Rig u. ä. erwartet, wird eher nicht fündig. Dennoch scheint sich im Vergleich zu meinem älteren Nord Stage in dieser Ecke einiges getan zu haben. Vor allem Jazz-Chorus und Twin liefern eine sehr brauchbare, warme Verzerrung, während der kleine Amp Sixties-mäßigen Rasierer-Sound produziert. Wer hier das Geschraube nicht übertreibt, dürfte mit diesem Tool für die meisten Alltagsaufgaben gut gerüstet sein. Davon abgesehen leisten die Amp-Simulationen auch ohne allzu große Zerrattacken gute Dienste, indem sie nämlich die Sounds angenehm ausdünnen, was vor allem bei dem bekanntermaßen bassigen Rhodes hervorragend funktioniert.
In die Amp-Sektion integriert ist ein (leider nur alternativ zu den Amps wählbarer) Kompressor, der mich sehr überzeugt hat. Bei den vom Nord Piano produzierten Sounds werden gerne, anders als z. B. bei Drums, bei der Kompression etwas längere Attack- und Release-Zeiten genommen. Das hat Clavia offenbar ähnlich gesehen, so dass der verbaute Dynamik-Bearbeiter entspannt pumpend den Klang verdichtet.
Was zu guter Letzt in einer Effekt-Sektion nicht fehlen darf, sind die Reverbs, die im Nord Piano in Form von jeweils zwei Room-, Stage- und Hall-Effekten realisiert sind. Diesmal ist dankenswerterweise das Mischverhältnis zwischen trockenem Klang und Effekt regelbar – das wäre andernfalls auch extrem unhandlich geworden.
Die Hallprogramme sind für ein E-Piano gut bis sehr gut. Auch hier wird man keine Altiverb-Standards erwarten, aber selbst bei sehr langen Hallfahnen und einem ordentlichen Effektanteil müssen sich die Reverbs nicht verstecken. Zudem decken die gewählten Raumgrößen sicher alles ab, was man gemeinhin so benötigt (ohnehin gilt bei Hall ja wie so oft: weniger ist mehr …)
So mancher wird in der Effekt-Sektion ein Delay vermissen, das sich im Nord Stage sogar als tapbare Version findet. Vielleicht aber wollte Clavia das Ganze nicht zu sehr ausufern lassen, und zweifellos ist Delay im Piano-Kontext der verzichtbarste Effekt.