Leider keine Sonnenbrille im Zubehör
Wie alle Cranborne-Geräte ist der Carnaby HE2 „designed and engineered in the UK” und wird in China gefertigt. Das Gerät fühlt sich absolut wertig an, ist tadellos verarbeitet und leichter, als ich dachte. Voller Vorfreude schließe ich den HE2 an, drücke den zentral platzierten Power-Button – und bin schier geblendet. Der Carnaby HE2 speichert nämlich den letzten Status und der stammt aus dem Fotoshooting.
Die LEDs sind für meinen Geschmack wahnsinnig hell, vor allem die weißen LED-Ringe um die Filter-Encoder. Ein frontaler Blick aus einem halben Meter Entfernung würde eine Sonnenbrille als Lieferumfang durchaus rechtfertigen. Wie ich später herausfinde, kann man die Helligkeit aus dem Plug-in heraus steuern. Default-Wert ist übrigens 50% – wer 100% ertragen soll, erschließt sich mir nicht. Für mich gut erträglich waren max. 10%. Dann wiederum sind die Buttons unter den Bändern leider schon sehr dunkel, aber die weißen LEDs an den Filtern sind bei höheren Werten einfach krass. Nicht optimal.
Der Carnaby HE2 in der Praxis
Nach dem kurzen Schock für die Augen erfreuen sich nun meine Ohren an dem, was der Carnaby HE2 mit jeglicher Art von Audio anstellen kann. Da ich Einzelsignale schon mit dem Carnaby 500 getestet habe und der HE2 mit seinen Features klar Richtung Mixbus und Mastering konzipiert ist, nehme ich mir nur Stereosignale zur Brust und setze den Carnaby HE2 zunächst auf „Stereo“. Als erstes hört ihr meinen bewährten „Van6“-Elektro-Loop. Schon das „alle Regler auf 12 Uhr“-File macht klar, welches Klangformungspotenzial der Carnaby HE2 hat. Anschließend drehe ich in jedem Band den Boost soweit auf, dass die LEDs jeweils dynamisch blinkend Aktivität in allen Bändern signalisieren.
Mehr davon!
Sofort stellt sich das Feeling ein, das ich schon beim Carnaby 500 hatte: Wer aus der Kiste was Schlechtes rausholen will, muss sich gewaltig anstrengen. Ich würde so weit gehen und Cranbornes Harmonic-EQ-Schaltung ein hohes Suchtpotenzial zu attestieren. Toll übrigens: Im Stereo-Modus ist es egal, auf welcher Seite man dreht, es wird immer vom jeweils anderen Kanal übernommen. Als Nächstes booste ich den Input für noch mehr Sättigung, regle mit dem Output herunter, booste alle drei Bänder in passenden Frequenzen fast auf Anschlag und aktiviere die Filter, um oben und unten etwas Kontrolle zu behalten. Schon beim Carnaby 500 musste man mit den Höhen etwas aufpassen, gut also, dass man beim HE2 mit dem Tiefpassfilter etwas abrunden kann. Die Einstellungen sehen extrem aus, sie sind es auch. Aber hört rein: Wie kann man davon nicht mehr wollen? Apropos mehr: Ich schalte den Carnaby jetzt auf Mid/Side um, denn ich will noch mehr – mehr Seitensignal nämlich. Und etwas Sparkle nehme ich auch noch dazu. Klasse!
Boost, not cut!
Der Sound des Carnaby HE2 überzeugt auf ganzer Linie. Im Mid/Side-Modus bleibt das Ergebnis schön monokompatibel, wenn man nicht übertreibt. Die Möglichkeit, Mitte und Seite unabhängig mehr oder weniger in die Sättigung zu fahren, ist einfach etwas anderes als reiner Pegel. Für mich stellt sich als zentrales neues Feature tatsächlich die Möglichkeit heraus, alle Bänder einzeln aktivieren und aus dem Signalweg nehmen zu können. So kann man wirklich schön in jedem Frequenzbereich hören, wo der HE2 seine Stärken am besten ausspielen kann und zielstrebig boosten. Cutten will ich mit dem Carnaby nämlich überhaupt nicht. Denn auch Boosts, die wirklich extrem aussehen, klingen nie so.
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Cranborne Carnaby HE2: ein Alleskönner
Nun will ich natürlich noch anderes Material testen, belasse den Carnaby aber im Mid/Side-Modus. Ich nehme zwei meiner bewährten Testfiles zur Hand: Den Rocktrack und das „No.3“ betitelte Instrumental mit Klavier. Beide haben in der rohen Form unterschiedliche Schwachstellen – und hier offenbart sich die große Stärke des Carnaby HE2: Anders als bei den meisten „normalen“, phasenbasierten EQs fühlt man sich hier wirklich mit der Musik verbunden. Klingt esoterisch, aber ich meine es genau so: Hier drehe ich nicht nur irgendwo rein oder raus mit teils unerwünschten Nebeneffekten, hier „gewichte“ ich Dinge musikalisch anders. Bei „No.3“ möchte in den Bass mehr „singen“, das Klavier mehr „Raum einnehmen“, die Drums „fetter“ und die Akustikgitarren „vordergründiger“ klingen lassen – mit dem Carnaby HE2 kein Problem. Gebraucht habe ich maximal eine Minute und das Ergebnis klingt in meinen Ohren bombastisch! Beim Rocktrack übrigens auch…
Sehr verbunden
Zu guter Letzt schließe ich den HE2 per USB-C an den Mac an und möchte natürlich die Steuerung per Plug-in ausprobieren. Dazu ist ein Firmware-Update nötig, das auf der Cranborne-Homepage detailliert beschrieben und in der Praxis vorbildlich unkompliziert ist. Die Software ist offiziell noch in „Beta“, weil noch nicht alle Komponenten final sind. Laut Sean Karpowicz wird das AAX-Plug-in in den nächsten Wochen fertig und die Netzwerksteuerung um Weihnachten. Da wir im Studio hauptsächlich mit Cubase arbeiten, checke ich also das bereits finale VST3-Plug-in.
Carnaby-Plug-in in der Praxis
Ich lade eine Instanz des Carnaby Control-Plug-ins direkt vor dem externen Insert. Zunächst muss ich das Plug-in mit der Hardware verbinden – bei mehreren physischen Carnaby HE2 könnte ich also alle parallel betreiben und steuern. Auch die Hardware zeigt mir oben auf der Front den Verbindungsstatus an. Klasse! Um es kurz zu machen: Das Plug-in macht genau, was es soll, die Parameter-Änderungen funktionieren reibungslos und beidseitig. Im Gegensatz zur Hardware wird mir im Plug-in stets die genaue Frequenz in Bändern und Filtern angezeigt – super, wenn man mal ganz zielstrebig unterwegs sein muss. Wie oben erwähnt, kann ich im Plug-in endlich auch die Helligkeit der LEDs verstellen. Toll ist die Möglichkeit, Automationen direkt im Plug-in zu fahren – denn das bei digital gesteuerten Encodern gefürchtete Knacken bei Parameter-Wechseln gibt es beim Cranborne HE2 nicht.
Total Recall, aber…
Auch wenn das Plug-in die Parameter aus jeder Session speichert: Toll ist natürlich die Möglichkeit, auch Presets speichern und laden zu können. Doch Obacht! Aktuell speichert das VST3-Plug-in zwar alle EQ-Einstellungen in einem Preset, aber NICHT den Arbeitsmodus – zumindest nicht, wenn man das Plug-in in einer neuen Session frisch insertiert, verbindet und ein Preset lädt. Da der Default-Modus des Carnaby HE2 immer Dual-Mono ist, lädt das Preset auch in Dual-Mono, obwohl es z.B. in Stereo gespeichert wurde. Das habe ich Sean Karpowicz bereits rückgemeldet, hoffentlich können Cranborne Audio schnell Abhilfe schaffen. Die Standalone-Version der Software habe ich nicht getestet, da sie in einem DAW-basierten Studio recht bedeutungslos ist.
Carnaby HE2 vs. Carnaby 500
Wer mit schmalen Budgets auskommen muss (und wer muss das heutzutage nicht?) und in erster Linie auf der Suche nach gutem analogem Frontend für das Recording ist, ist mit dem Carnaby 500 gut beraten. Für ungefähr das gleiche Geld bekommt man doppelt so viele Kanäle, die man dank Optosync-Feature auch präzise für Stereo-Anwendungen matchen kann. Wer aber hauptsächlich mit Mixing und Mastering beschäftigt ist, wird auf die zusätzlichen Features des HE2 wie Mid/Side, Inserts und natürlich Recall in der DAW nicht verzichten wollen.
Berry sagt:
#1 - 20.10.2024 um 13:48 Uhr
Hi Christopher, wieder mal ein sehr informativer Test über ein wirklich innovatives Gerät...