SCHÖNE NEUE MIDI-WELT
Seit Version 7 ist Pro Tools für den MIDI-Musiker interessanter geworden. Es bietet viele neue Funktionen, die ihre Praxistauglichkeit schon unter Beweis gestellt haben.
INSTRUMENT-TRACKS
Die Integration von Software-Instrumenten oder externe Synthesizern war bis zur Version 7 nur mäßig gelungen. Pro Instrument waren ein MIDI- und ein Aux-Track nötig. Damit waren das Edit- und das Mix-Fenster schnell mit vielen Spuren gefüllt. Die mit Version 7 eingeführten Instrument-Tracks besitzen die pro Klangerzeuger notwendige MIDI- und Audio-Komponente in einem Track. So spart man Platz im Edit- und Mix-Fenster, hat aber trotzdem Zugriff auf Standard-MIDI-Controller und die Automations-Parameter bei Software-Instrumenten.
REALTIME-MIDI-PROCESSING
Unter diesem Begriff versteht Digidesign Abspielparameter, die während der Wiedergabe verändert werden können (vergleichbar dem Inspector in Logic oder Cubase), wie zum Beispiel die Anschlagdynamik von MIDI-Noten, deren Länge, die Quantisierung, das Timing (Delay) sowie die Transposition. Pro Tools bietet damit endlich ein Feature, das die ursprünglichen MIDI-Sequencer wie Cubase oder Logic seit Ewigkeiten anbieten.
Die Bearbeitung von MIDI-Daten entspricht der seit Jahren unveränderten Pro Tools-Logik: MIDI-Noten sieht man in einer Pianorollen-Darstellung, zusätzlich gibt es eine Event-Liste. Ein Noten-Editor ist jedoch nicht vorhanden. Und speziellere Editoren, wie etwa der Cubase-Drum-Editor, gibt es leider auch nicht. Digidesign möchte bei der Zwei-Fenster-Darstellung (Edit- und Mix-Fenster) bleiben und die Benutzung des Programms nicht durch weitere Editoren verkomplizieren. Für die Pianorollen-Darstellung öffnet sich aus diesem Grund auch kein extra Fenster. Stattdessen schaltet man zur Bearbeitung von MIDI-Daten zwischen einem übersichtlichen Edit-Fenster und detaillierter Darstellung der MIDI-Noten um. In der Praxis gibt es dafür zwei gute Hilfsmittel: Das Kommando “e” auf der Computer-Tastatur (bei eingeschaltetem “Commands Focus Mode”) und die mit Pro Tools 7.3 eingeführten Window Configurations, mit denen man die Anordnung der Fenster auf dem Bildschirm in bis zu 99 verschiedenen Konfigurationen speichern kann. Mit dem Befehl “e” zoomt man sehr stark in die Darstellung einer Region hinein. Klickt man anschließend erneut “e” wird die vorher angezeigte Zoom-Stufe wieder aufgerufen. So kann man das Fehlen spezieller Editoren in vielen Fällen verschmerzen.
Was mir im Test jedoch gar nicht gefiel, ist die Darstellung der Anschlagdynamik: Pro Tools zeigt dazu “Fähnchen” – die Höhe symbolisiert den Velocity-Wert. Spätestens bei Akkorden ist diese Darstellung jedoch ziemlich unübersichtlich. Nachtrag zur Darstellung in einem Notensystem: Digidesign hat vor geraumer Zeit die Firma Sibelius übernommen und bietet die Möglichkeit, MIDI-Noten über einen Befehl namens “Send to Sibelius” direkt an die Notations-Software zu übergeben. Allerdings muss man diese Software extra kaufen (Preis: Sibelius 5 ca. 700 Euro, die „kleine“ Version Sibelius First kostet ca. 129 Euro).
EDITING
Zu den größten Stärken von Pro Tools gehörte schon immer das Audio-Editing. Auch in diesem Bereich gibt es einige Neuerungen: Am wichtigsten sind die so genannten “Region Groups”. Mit diesem Verfahren kann man beliebige Kombinationen von Audio- und MIDI-Regions auf verschiedenen Spuren zusammenfassen. Das Verschieben und Kopieren ganzer Blöcke eines Songs wird damit enorm vereinfacht. Man markiert die Regions, die zur Gruppe gehören sollen, wählt den Eintrag “Region Group” aus dem Menu “Region”, und schon wird die Gruppe in einem Rahmen zusammengefasst. So kann man beim Komponieren schnell aus den beiden Pattern Strophe und Refrain einen ganzen Song-Ablauf zusammenstellen. Auf die einzelnen Regions hat man auch jederzeit Zugriff, denn man kann eine Region-Group zu jeder Zeit wieder auflösen, auch nur an einzelnen Stellen im Arrangement.
Aber auch für das Handling von Rex- und Acid-Files sind die Region-Groups ein sinnvolles Werkzeug: So kann man die vielen kleinen Schnipsel viel besser handhaben. Wenn der betreffende Eintrag in den Preferences angehakt ist, werden Rex- und Acid-Dateien direkt als Region-Groups in eine Pro Tools-Session importiert.
Eng im Zusammenhang mit den Region-Groups steht die neue Loop-Funktion: Dank dieser können einzelne Regions oder Region-Groups beliebig oft wiederholt werden. Praktisch: Im Region-Looping-Fenster kann man unmittelbar einstellen, ob die Wiederholung bis zum Ende der Session bzw. Start der nächsten Region auf der Spur geht, man eine bestimmte Anzahl an Wiederholungen wünscht oder die Dauer des Loop-Abschnitts bestimmen möchte.
Mit Pro Tools 7.3 kam eine weitere interessante Funktion hinzu: Dynamic Transport. Damit wird der Wiedergabebereich von der Timeline-Selektion entkoppelt. Dazu ein Beispiel: Um den Übergang von der Strophe zum Refrain zu gestalten, wählt man zum Beispiel die letzten zwei Takte der Strophe und die ersten beiden des Refrains als Wiedergabebereich aus. Dieser Abschnitt wird nun gelooped wiedergegeben. Alle Selektionen im Edit-Fenster sind nun unabhängig davon, auch wenn man die Wiedergabe unterbricht und neu startet.
Ebenfalls neu: Man kann für jeden Track bestimmen, ob er Tick- oder Sample-basiert arbeitet. Bislang orientierten sich Audio-Tracks immer an der Absolutzeit (Samples), während MIDI-Noten im Tick-Raster arbeiteten. Dieser Unterschied wirkt sich vor allen Dingen bei Tempo-Veränderungen innerhalb der Session aus: Sample-basierte Audio-Regions verändern ihre Startpositionen dann nämlich nicht.
ELASTIC TIME
Und damit wären wir bei einem der Kernmerkmale der aktuellen Pro Tools-Version 7.4: Elastic Time. Funktional betrachtet ist Elastic Time zunächst nichts anderes als Timestretching/Compression mit sehr guten Algorithmen. Aber die Einbindung in den Workflow macht den Unterschied, denn diese Funktion hat mich in der Praxis wirklich begeistert. Jeder Audio-Track kann einzeln in den Elastic-Time-Modus versetzt und unabhängig mit einem der fünf Algorithmen (Monophonic, Polyphonic, Rhythmic, Varispeed, X-Form) bearbeitet werden. Gängigste Anwendung dieser neuen Möglichkeiten ist sicherlich die Quantisierung von Audio-Dateien. Im Edit-Fenster stehen für die Elastic-Audio-Funktionalität die neuen Ansichten Analysis und Warp zur Verfügung.
Mehr zum Thema Elastic Time in diesem Video:
Hier könnt ihr euch die Audiofiles gesondert anhören:
MISCHEN
Das Pro Tools-Mischpult hat sich verbessert, auch wenn man das auf den ersten Blick nicht merkt. Von den Veränderungen unter der Haube hat vor allen Dingen die RTAS-Engine profitiert, die unter Pro Tools 6 nicht gerade als besonders effizient galt. Selbstverständlich kann Pro Tools mit mehreren Prozessorkernen arbeiten, und die vielen neuen Software-Instrumente der A.I.R.-Group laufen hervorragend.
Bis zu zehn Sends (vorher waren es fünf) stehen seit Pro Tools 7 pro Kanal zur Verfügung und TDM-Systeme können bis zu 160 Ein- und Ausgangskanäle parallel verwalten. Mit LE- und M-powered-Systemen kann man Signale auf bis zu 32 Busse routen.
Dass man bei Digidesign sehr im Workflow eines Benutzers denkt, wird auch an der folgenden neuen Funktionalität sichtbar: Sends und Inserts können einfach zwischen Tracks verschoben und kopiert werden, indem man sie mit der Maus herüber bewegt.
HANDHABUNG
Mit Pro Tools 7 sind die Menus des Programms neu strukturiert worden. Als langjähriger Pro Tools-Benutzer ist man zunächst ein wenig verwirrt. Lässt man sich auf die neue Logik ein, wird einem schnell klar, dass die Veränderungen die Software übersichtlicher machen. Die “heilige Kuh” Tastaturkommandos wurde aber nicht geschlachtet. Durch den erweiterten Funktionsumfang gibt es aber einige zusätzliche. Im übrigen ist ein geübter Anwender mit Pro Tools dank der Tastaturkommandos sehr schnell. Dank der übersichtlichen Fensterstruktur (Edit-Fenster und Mixer) findet sich aber auch der Einsteiger schnell zurecht. Die Feinheiten lernt man – wie bei allen anderen Sequencern auch – erst mit der Zeit kennen. Der Funktionsumfang ist mittlerweile so groß, dass es wohl kaum jemanden gibt, der jede Ecke des Programms kennt. In der Praxis ist es ein ganz großes Plus von Pro Tools, dass neben der klaren Struktur des Programms alle Funktionen zu Ende gedacht sind. Das beste Beispiel dafür ist Elastic Time: Timestretching und Warp Marker sind keine neue Erfindung von Digidesign, aber die Einbindung dieser Techniken in den Workflow ist einzigartig. Ähnliches gilt für den Import von Audiodateien oder die Übernahme von Session-Daten aus einem anderen Song und einiges mehr.