Der Bassist Martin Engelien im Workshop-Interview! In dieser Folge unserer Reihe über die deutsche Bassszene treffen wir auf Martin Engelien. Spätestens mit der Bassline zum Klaus-Lage-Hit “1000 und 1 Nacht” im Jahr 1984 war Martin Engelien aus der deutschen Musikszene nicht mehr wegzudenken. Im Laufe seiner Karriere hat der 1956 geborene Vollblutmusiker nicht nur in unzähligen Projekten mitgewirkt, sondern sich auch als Produzent, Toningenieur und Inhaber eines eigenen Plattenlabels etabliert. Dieses Jahr feiert gleich drei Jubiläen: Seinen 65. Geburtstag, sein 50-jähriges Bühnenjubiläum, sowie das 25-jährige Bestehen seines Herzensprojekts – der bekannten Sessionreihe “Go Music”. Zu jedem einzelnen Anlass gratulieren wir natürlich recht herzlich! Martin war so freundlich, uns unsere Interviewfragen zu beantworten und in seinem Studio einige interessante Videos zu drehen, die uns einen exklusiven Einblick in seine Lieblings-Basslines ermöglichen.
Hi Martin, erst einmal natürlich ganz herzlichen Glückwunsch zu deinen drei Jubiläen! Du hast eine lange und beeindruckende Karriere hingelegt – als Bassist, als Produzent, Studio- und Label-Inhaber sowie noch einiges mehr. Wie bist du zum Bass gekommen und wer sind deine größten Einflüsse?
Martin Engelien: Erst einmal Dankeschön für die Blumen! Meine musikalische Entwicklung begann praktisch mit meiner Einschulung in das Gymnasium und dem obligatorischen Blockflöten-Unterricht. Im Schulorchester erlebte ich dann zum ersten Mal, wie es sich anfühlt, Applaus zu erhalten. Einige Zeit später bekam ich von einem Nachbarn eine Gitarre geschenkt, bis im Alter von 13 Jahren der Bass regelrecht von mir Besitz ergriff! Der Vater eines Freundes hörte sehr viele Jazz-Platten, und durch die geschlossene Zimmertür eroberte das hüpfende Feeling einer coolen Walking-Bass-Line sofort mein Herz. Ich war fasziniert von diesem Gefühl der Macht eines Basses, durch geschlossene Türen zu dringen. Zu meinem 14. Geburtstag habe ich mir daher von allen Verwandten Geld gewünscht, um im lokalen Musikgeschäft das Objekt meiner Begierde zu kaufen. Meine Wahl fiel auf einen übergroßen Framus Halbresonanz-Bass mit schwarzen Nylonstrings und orangener Paisley-Lackierung. Ein Jahr später kam dann aber auch schon der erste Fender Jazz Bass ins Haus! Die Bands, die mich damals beeinflussten, waren Cream, Steamhammer, Canned Heat, Jethro Tull, Santana und ähnliche, die auch auf ihren Studioalben eher sessionmäßig musizierten. Von daher war Bluesrock mit ausgiebigen Jam-Parts bei mir an der Tagesordnung. Bass-Einflüsse aus der Zeit sind vor allem Jack Bruce, Steve Davy, Paul McCartney, oder John Entwistle. Mit 18 Jahren trat der Kontrabass in mein Leben und ich hörte immer mehr Jazzmusiker. Bassisten wie Ron Carter, Charles Mingus, Niels-Henning Ørsted Pedersen, Malachi Favors etc. Aber mein größter Einfluss ist und bleibt Altmaster Stanley Clarke – für mich der absolute Chef am E- und Kontrabass! Ich schätze mich glücklich, mit diesem außergewöhnlichen Menschen einmal einen halben Tag in einem Tonstudio bei Leverkusen verbracht zu haben, wo er mir unter anderem auf meinem eigenen Bass zeigte, wie er “School Days” spielt. Das waren beeindruckende Stunden, die in seinem anschließenden Konzert im Rahmen der “Leverkusener Jazztage” gipfelten, was ich Backstage mitbekommen konnte.
Hattest du früher auch mal Unterricht? Oder bist du Autodidakt?
Martin Engelien: Es gab da auf dem Gymnasium mal eine Schülerband namens Trademark. Der Bassist, Helmut Gräbe, war ein paar Jahre älter als ich. Bei ihm nahm ich ein paar Stunden Unterricht. Aber, ganz ehrlich: Nach fünf Stunden konnte ich alles, was er so konnte. Seit damals habe autodidaktisch weitergemacht. Ähnlich war es mit dem Kontrabass, nach dem Kauf des Instrumentes nahm ich ein paar Stunden bei Alois Kott, um eine korrekte Haltung des Bogens und des Körpers am Instrument zu erlernen. Ich habe es schon damals vorgezogen, viel mit unterschiedlichen Musikern zusammen zu spielen und zu jammen. Denn das ist ja das, was am Ende des Tage für jeden Musiker ausschlaggebend ist.
Für dich ausgesucht
Wie kam deine Karriere ins Rollen und was waren für dich die wichtigsten musikalischen Stationen?
Martin Engelien: Den Grundstein für meine Karriere habe ich mit der Tatsache gelegt, dass ich freiwillig zum E-Bassgegriffen habe! Wir reden hier schließlich über das Jahr 1970. In diesen Tagen sprossen Bands wie Pilze aus dem Boden, aber alle Musiker wollten Gitarre spielen! Ich war bereits mit 15 oder 16 Jahren recht schnell ein ganz passabler Bassist und dementsprechend begehrt. Meine damaligen Mitmusikanten waren allesamt bedeutend älter als ich, fuhren Auto und waren teilweise sogar schon verheiratet. Das zog sich durch mein ganzes schulisches Leben. In der 13. Klasse hatte ich über 300 Fehlstunden wegen verschiedener Tourneen. Nicht selten musste ich am Montag vor dem Direktor erscheinen und über meine Abwesenheit der letzten Woche Rechenschaft ablegen, was verständlicherweise nicht selten zu kontroversen Diskussionen führte. Nach dem Abitur musste ich als ordentlicher Pazifist und anerkannter Wehrdienstverweigerer Ersatzdienst leisten. Aber auch diese Stelle habe ich mir unter den Kriterien ausgesucht: “Ich mache alles, Frühdienst, Spätdienst, Rund-um-die-Uhr-Dienst. Wenn aber der Herr ruft, dann muss ich weg!” Auch das hat geklappt! Nach dem Zivildienst habe ich hauptsächlich mit meiner Jazzband Noctett und meinem Fusion-Ensemble Virgin’s Dream Konzerte und Tourneen in ganz Europa gespielt, zum Beispiel hatte ich gegen Ende der 1970er-Jahre ein kurzfristiges Engagement in einer der führenden europäischen Jazzrock-Bands namens Toto Blanke’s Electric Circus. Über Toto Blanke habe ich mit Top-Musikern wie Joachim Kühn, Charlie Mariano, Jan Akkerman oder auch Jasper van’t Hof gespielt – übrigens ein guter Freund, mit dem ich heutzutage immer noch musiziere. Ab 1980 bis 1984 war ich Bassist bei Peter Bursch’s Bröselmaschine. 1983 lernte ich Klaus Lage kennen und wir beschlossen, eine Band zu gründen, welcher ich bis 2002 angehörte. Neben meinem Posten als Bassist war ich auch der Musical Director sowie auch teilweise der Produzent der Band. Der erste Song der Klaus Lage Band war “1000 und 1 Nacht” – ein Song, der aus der deutschsprachigen Musikgeschichte nicht mehr wegzudenken ist! Für beide “Tatort/Schimanski”-Kinofilme und für den letzten “Tatort/Schimanski”-Fernsehfilm haben wir die Titelsongs gestellt und dramaturgische Filmmusik geschrieben. Es gibt drei Goldene Schallplatten, einmal sogar Platin, sowie zahlreiche Preise wie die “Goldene Europa”, “Song des Jahres”, “Bassist des Jahres” und ähnliche. 1988 wurde mir die Ehre zuteil, ein Album für einen der berühmtesten deutschen Jazzmusiker, dem Posaunisten Albert Mangelsdorff, zu produzieren und dort auch Bass zu spielen. Dieses Album namens “Listen & Lay Back” sollte tatsächlich das erfolgreichste Album dieser einzigartigen Jazzikone werden. In der Folge hatten wir fünf Jahre ein gemeinsames Projekt namens “Albert Mangelsdorff & Members”, machten viele Tourneen, TV-Auftritte und produzierten zwei weitere Alben. Von 1991 bis 2003 gab es ein wunderbares Projekt namens T.M. Stevens & The BOOMbasstic, wo wir tatsächlich mit zwei Bässen aufgetreten sind. Im weiteren Verlauf waren wir dann bis zur Auflösung in 2003 mit zwei Gitarristen, zwei Bassisten und einem Drummer unterwegs. Das war also ein echter Bass-Spaß! 1985 hat Thijs van Leer seine Band Focus wieder ans Laufen bringen wollen, was aber nach einem Jahr eingestellt wurde. In dieser Focus-Besetzung war ich ebenfalls Bassist. Und schließlich erblickte im Jahr 1996 meine Herzensprojekt “Go Music” das Licht der Welt …
Ein sehr gutes Stichwort: Erzähl uns doch bitte mal etwas zu “Go Music”!
Martin Engelien: Gerne! In meiner Heimatstadt Essen und im umliegenden Ruhrgebiet inklusive Düsseldorf gab und gibt es viele Häuser für Musik. Die “Grugahalle”, “Westfalenhalle” etc. bis hin zu Jazz- und Rockclubs jeglicher Größe in jeder Stadt. Die “Essener Pop und Bluesfestivals”, die legendären “Rockpalast”-Nächte, legendäre Konzerte wie Return To Forever mit Stanley Clarke am Bass … jede damals angesagte Band spielte sage und schreibe vor meiner Haustür! Weather Report z. B. habe ich dadurch satte 18 Mal gesehen. Sehr früh erkannte ich, dass ich wirklichen Spaß nur bei Konzerten erleben konnte, bei denen die Bands wirklich spontan spielten und nicht das gleiche Programm mit den gleichen Soli und einstudierten Ansagen boten. Wenn ich eine Band sehe, von der ich den Eindruck bekomme, dass ich beim nächsten Konzert wieder exakt Dasselbe sehen und hören werde, habe ich sofort keine große Lust mehr, noch ein weiteres Konzert zu besuchen. Wenn ich aber den Eindruck habe, dass ich morgen Abend schon wieder etwas ganz was Anderes erleben könnte, bin ich sofort wieder da. Diesem Dogma folge ich noch heute! Beseelt von diesen Eindrücken rief ich bereits mit 19 Jahren ein Projekt namens “Combination” ins Leben, das im Grunde genommen bereits das Konzept von “Go Music” verfolgte. Ich organisierte Konzerttermine und fragte dafür jedes Mal unterschiedliche Musikerkollegen an. Ab auf die Bühne, geprobt wurde nicht. Um mich musikalisch fit zu halten, verfolge ich dieses Prinzip des Musizierens mit voller Inbrunst. Ich liebe diese Mischung aus Rock, Pop und Blues in der Mentalität der 1960er- und 1970er-Jahre mit dieser ganz speziellen Freiheit des Jazz. Die Möglichkeit, in jedem Moment etwas kreieren zu können, nicht nur zu reproduzieren. Ich habe an vielen Orten dieser Erde mit unterschiedlichsten Menschen Musik gemacht, mit denen manchmal verbal keine Kommunikation möglich war, da wir keine gemeinsam Sprache sprachen. Allein die Kraft der Musik hat uns verbunden – die universalste Weltsprache, die es gibt! Ab 1984 hatte ich als Bassist allerdings derart viel zu tun, dass die “Go Music”-ähnlichen Aktivitäten schon fast den Stellenwert einer Liebelei bekamen. Mit der Klaus Lage Band haben wir – sehr zur Freude unserer Crew jeden Tag beim Soundcheck gejammt. Bei den “Wetten, dass..?”-Sendungen Mitte der 1980er-Jahre kam mir die Rückbesinnung auf das “einfach Musikmachen”, als ich die Kameraproben vieler berühmter Bands verfolgte und mit Erschrecken entdeckte, dass dort großartige Musiker im Grunde zu Kamerastatisten degradiert wurden. Seitdem habe ich verstärkt darauf hingearbeitet, möglichst ein- zweimal im Jahr solche “Go Music”-ähnlichen Konzerte zu veranstalten und zwischen Weihnachten und Neujahr sogar eine kleine Tour auf die Beine zu stellen mit Musikern von BAP, Grönemeyer, Westernhagen, Zucchero, Lindenberg und anderen. Im Rahmen einer solchen Tour im Dezember 1995 wurde im “Jazzkeller Krefeld” die Idee geboren, diese Improvisationskonzerte zu einer monatlichen Institution zu etablieren. Im Mai 1996 war es dann soweit, und seither organisiere ich diese Konzerte als eine monatlich stattfindende Konzertreihe. Damit gilt der Wonnemonat Mai des Jahres 1996 als die Geburt der “Go Music”, und der “Jazzkeller Krefeld” als ihre Wiege. 25 Jahre später kann ich mit Stolz sagen, dass es seit 1996 rund 250 verschiedene Bandzusammenstellungen gegeben und dass die Zahl der mitwirkenden Akteure aus vielen Teilen der Welt die 300er-Grenze locker überschritten hat. Es ist wunderbar zu erleben, dass es auf der ganzen Welt Menschen gibt, die den Spirit des Musikmachens in sich tragen, gerne ausleben und dementsprechend gerne wiederkommen. Ich stelle Monat für Monat eine andere Band zusammen, die zehn bis zwölf Tage in Folge zusammen spielt. Die Mitglieder wiederholen sich natürlich öfter, aber die Bandkonstellationen sind nie dieselben, darauf achte ich peinlichst! So bleibt das Projekt frisch! Die Vorbereitungen sind auch nicht sehr zeitintensiv. Ich sage dem singenden Kollegen, er möge doch ca. 20 Songs auswählen, daraus suche dann etwa 15 Songs für die Setlist aus und schicke sie mit den zugehörigen Tonarten an die beteiligten Kollegen. Dabei sage ich immer, dass ich keinen Wert auf Arrangements und deren Abfolgen in den Originalsongs lege. Es reicht, wenn man weiß, wie die einzelnen Parts funktionieren. Alles andere erledigen wir dann auf der Bühne. Man könnte es so erklären: Ich frage dich, ob du schon mal “Come Together” von den Beatles gehört hast. Wenn du “ja” sagst, dann reicht das schon! Mittlerweile gibt es sechs einzelne CDs sowie zwei Doppel-CDs und eine DVD. Eine weitere Doppel-CD wird zum 25-jährigen Bestehen in diesem Sommer erscheinen.
Wie hat sich deiner Meinung nach die Musikszene in den letzten Jahrzehnten verändert und wie wirkt sich das auf die Arbeitssituation von Musikern aus?
Martin Engelien: Die Musikszene hat sich schon gewaltig verändert! Musik und Musikmachen werden leider häufig nicht mehr als wertig angesehen. Das gilt für alle Sparten der Musik gleichermaßen, kommerzielle wie Nischenprodukte. Musik ist heute irgendwie “immer da” und darf dementsprechend bloß nichts kosten. Ich habe persönlich noch erlebt, wie man in einer Eisdiele bei einem ersten Flirt dem Mädel zwei Tische weiter zeigen wollte, was für ein Kerl man ist, zur Jukebox gegangen ist und für 1,- Mark fünf Songs wählen und abspielen konnte. Da konnte man zeigen, ob man eher ein “Rolling Stones”- oder ein “Beach Boys”-Typ ist. Das musstest du bezahlen: Fünf Songs – 1,- Mark! Wenn keiner die Jukebox gefüttert hatte, war es eben still in der Eisdiele. Das ist heute kaum noch vorstellbar! Heute plärrt aus jeder Ecke in jedem Jeans Shop, beim Friseur oder eben in der Eisdiele irgendeine unbedeutende Musik von einer nie endenden Spotify-Playlist, bei der die gespielten Künstler mit einem Bruchteil eines Cents abgespeist werden. Bis Mitte/Ende der 1990er-Jahre war Musik zudem noch nicht ohne Qualitätsverluste kopierbar. Du konntest eine Schallplatte auf ein Tonband oder eine Kassette kopieren, was ich auch für den Einsatz im Auto oder mobil am Strand gemacht habe. Aber schon die Kopie von Kassette auf eine andere Kassette hatte enorme qualitative Verluste zur Folge. Dementsprechend musstest du immer auf ein Original zurückgreifen, um Musik richtig genießen zu können. Das war auch noch die Zeit, in der Alben verkauft wurden. In den 1970ern bis Ende der 1990er hast du als Musiker in Alben gedacht! Nur einen Song aufzunehmen und zu veröffentlichen, war super selten. Du bist erst ins Studio gegangen, wenn du genug Material für ein Album hattest. Ein einzelner Song war damals eine Auskopplung und diente als “Transporteur” für das gesamte Album. In Deutschland hast du für 500.000 verkaufte Tonträger eine Platinauszeichnung bekommen, 250.000 war Gold. Heute bekommst du Gold für 100.000, Platin für 200.000. Eine Tour diente zur Promotion des neuen Albums. All das hat sich gegenteilig verwandelt: Heute wird nur ein Song aufgenommen, der auf den gängigen digitalen Portalen veröffentlicht wird und hoffentlich in einer Playlist landet. In Alben denkt kaum einer der jungen Künstler. Die Hörgewohnheiten der Musikhörer haben sich ebenso sehr stark verändert: Heute sind Playlists wichtig, nicht der Künstler als solcher. Es gibt auf Spotify Playlists, da sind Künstler so unwichtig, dass die Leute nicht einmal ihre Namen kennen. Von einer anderen Warte betrachtet, hat die digitale Revolution im Musikbusiness aber auch zur Folge, dass es noch nie so einfach und auch erschwinglich war, seine eigene Musik aufzunehmen und unter die Leute zu bringen. Das fördert sicherlich einen anderen Teil von Kreativität als nur Musikalität. Ich bin der Meinung, dass heutzutage jeder, wenn er von sich selbst und seiner Sache überzeugt ist, die Möglichkeit hat, erfolgreich auf sich und sein Projekt aufmerksam zu machen und durch geschickte Eigenvermarktung eine Verbindung von Musik und Merchandise-Produkten ein Einkommen generieren zu können, auch wenn es die Millionengrenze nicht erreichen wird. Man muss nur ordentlich was dafür tun, sich richtig kümmern. Ich selber habe, wie viele meiner Kollegen, immer live gespielt und damit größtenteils mein Einkommen generiert – von 1970 bis zu dem Zeitpunkt, als Corona kam. Und wenn die Krise vorbei ist, hoffe ich, endlich wieder auf die Straße gehen zu können. Ich denke, dass hat sich für einen echten Musiker noch nie geändert und wird sich auch nie ändern!
Wie bist du persönlich denn durch die Corona-Krise gekommen und wie hat sich dein Arbeitsalltag dadurch verändert?
Martin Engelien: “Durchgekommen” ist gut, wir stecken zurzeit ja mit einem Bein immer noch drin. Wer weiß, wann wir wieder richtige Konzerte wie früher geben können?! Ich für meinen Teil muss sagen, dass ich unserer Regierung durchaus dankbar bin, dass all diese Hilfsmaßnahmen für Solo-Selbstständige eingeführt worden sind. Außer der ersten zwei Überbrückungshilfen ist jegliche Unterstützung pünktlich in der von meiner Steuerberaterin ausgerechneten Höhe bei mir eingegangen. Obendrein hat das Land NRW zwei mal Stipendien ausgeschrieben, welche ich beide erhalten habe. Die Stadt Krefeld hat sogar eine dreifache Unterstützung ins Leben gerufen, von der ich ebenfalls gut partizipiert habe. Diese mussten investiert und mit Quittungen belegt werden, was ich natürlich getan habe. So konnte ich beispielsweise mein Studio etwas aufrüsten. Mein Arbeitsalltag hat sich seit März 2020 extrem verändert: Von der normalen Nachtarbeit habe ich praktisch auf einen normalen 9-to-5-Arbeitsalltag umgelernt, hahaha! Im Ernst, ich bin jeden Tag spätestens um 10:00 Uhr in meinem Studio und schaue, dass ich es um 18:00 Uhr verlasse. So kehre ich zum Abendessen zu meiner Frau zurück, wir genießen bei schönem Wetter unseren West-Balkon, essen draußen, trinken ein Gläschen Wein und ich gehe spätestens um 00:00 Uhr ins Bett, damit ich morgens wieder frisch ins Studio gehen kann. Seit März 2020 habe ich sieben Alben produziert und elf Alben gemischt und gemastert. Obendrein habe ich auf acht Songs Bass gespielt, Kenny Aronoff und Ralf Gustke waren auf Tracks in meinem Studio – wenn auch natürlich nicht physisch! Ich konnte also durchaus ein paar Einnahmen generieren …
Erzähle uns doch mal Näheres zu deinem Corona-Hilfsprojekt für deine “Go Music”-Mitmusiker.
Martin Engelien: Das ist der Grund, warum ich die ersten zwei Überbrückungshilfen nicht bekommen habe! Als Mitte März 2020 das komplette menschliche Leben erstarrte, überlegten meine Frau und ich, was wir tun können. Wie vorher erwähnt, ist es bei den “Go Music”-Konzerten normal, dass wir allseits bekannte Stücke interpretieren. Es gibt aber auch viele Künstler, die eigene Projekte betreiben, in denen sie ihre eigenen Songs spielen. Ich gebe jedem den Platz, auch seine eigenen Songs in meinen Konzerten vorzustellen, aber immer unter der Prämisse des “Go Music”-Aspektes – nicht geprobt, aber doch gespielt! So entstehen manchmal spannende Arrangements, die manche Künstler sogar für ihre eigene Band übernehmen. Im Laufe der Jahre habe ich zahlreiche dieser Eigenkompositionen im “Go Music”-Gewand aufgenommen. Ich hatte vor, irgendwann mal ein “Go Music”-Album mit solchen Originals rauszubringen. Ostersonntag, beim Frühstück, war dann plötzlich die Idee geboren, eine “Go Music Corona Akuthilfe”-Produktion daraus zu erstellen. Wir beschlossen, jeden einzelnen Mitmusikanten gebührend am Umsatz zu beteiligen, die Komponisten und Texter sollten natürlich obendrein auch noch die Kompositionslizenzen der jeweiligen Verwertungsgesellschaft ihres Landes erhalten. Gesagt, getan! Ich fuhr sofort ins Studio und begann mit den Arbeiten. Zwei Wochen später waren 13 Originalsongs gemischt und gemastert, eine weitere Woche später hielten wir die fertig hergestellte CD in den Händen und konnten sie über meinen Shop verkaufen. 36 Kollegen sind daran beteiligt. Diese “One Earth” betitelte Produktion hat sich ausgezeichnet verkauft und ich konnte bereits nach drei Wochen jedem Beteiligten den ersten Betrag überweisen. Kurze Zeit später habe ich dann das zweite “Go Music Corona Akuthilfe”-Album namens “Hope” unter gleichen Vorzeichen fertiggestellt, bei dem zehn Originalsongs von 24 Kollegen eingespielt worden sind. Tja, und der Umsatz dieser beiden Produktionen hat eben dazu geführt, dass ich keine staatliche Hilfe in Anspruch nehmen konnte. Dass ich davon meine Kollegen gebührend beteiligt hatte, zählte beim Finanzamt nicht, allein der Umsatz war ausschlaggebend zur Berechnung.
Hoffen wir, dass dieser Spuk bald vorbei ist! Was steht dann als nächstes für dich an?
Martin Engelien: Was ich auf jeden Fall machen werde, ist das Produzieren, Mischen und Mastern weiterhin auszubauen. Das ist krisensicher – zumindest – wenn noch mal so was wie eine Pandemie über uns hereinbrechen sollte. Ich habe im letzten Jahr ein Album für Vanesa Harbek produziert. Sie ist Gitarristin, Sängerin und Trompeterin aus Buenos Aires, die “Argentinian Queen Of Blues”, die selber Songs und Texte wie auch klassische Tango-Musik schreibt. Sie lebt seit ein paar Jahren in Berlin. Wir haben das Album 2019 projektiert und wollten es im Herbst 2020 veröffentlichen. Vanesa hatte für Herbst 2020 und Januar/Februar 2021 bereits sehr viele Live-Termine im Kalender. Das Album war ebenfalls im August 2020 fertig, aber die ausgefallenen Termine haben eine erfolgreiche Veröffentlichung natürlich verhindert. Wir haben im April angefangen, alle fünf, sechs Wochen einen Song daraus als Singles digital zu veröffentlichen, bis es sich wieder lohnt, das Album zu pressen und auf Tour zu gehen. Mit Vanessa werde ich auch live spielen. Ein weiteres Projekt nennt sich “12-4-2.” Das sind zwölf Gitarrensaiten, vier Basssaiten und zwei Drumsticks – eine neue Band, mit der wir bereits im letzten Sommer ein paar Termine gemacht haben. Ein Album ist in Planung, und sobald es möglich sein wird, werden wir live spielen. Die Mitglieder sind Ben Granfelt und Thomas Blug als Gitarristen – Ben auch als Sänger – und der ehemalige Simple-Minds Drummer Mel Gaynor am Schlagzeug. Auf jeden Fall werde ich außerdem noch im Sommer diesen Jahres mit der Produktion eines Soloalbums beginnen. Die Songs sind bereits in meinem Kopf fertiggestellt.
Man hat dich im Lauf der Jahrzehnte immer wieder als Botschafter für verschiedene vornehmlich deutsche Companies gesehen. Gib uns doch mal bitte einen kurzen Abriss, für wen du alles und in welcher Form tätig warst.
Martin Engelien: Kurz? Ich werde mich bemühen, hahaha! Begonnen hat das alles 1984: Ich fand den Streamer Bass der Firma Warwick interessant und bin durch einen Außendienstler zur Firma eingeladen worden. Daraus resultierte eine elfjährige Zusammenarbeit. Ich habe sehr viele Ideen in die Firma eingebracht – z.B. stammt die Idee von mir, die Mechaniken der Kopfplatte schräg anzuordnen. 1986 lieferte ich die Initialzündung für die deutsche Bassanlagen-Schmiede Green Audio. Für Green Audio entwickelte ich den ME1-Preamp und das MES-Boxensystem. Ab 1989 bis 1991 entwickelte ich für den britischen Hersteller Trace Elliot Boxensysteme, die auch alle meine Initialen ME als Kürzel in der Beschreibung führten, und half bei der Entwicklung der Röhrenamps. Nach 1991 habe ich für Warwick als Produktmanager das komplette gelbe Amp- und Boxensortiment entwickelt. Seit 1996 gehen Warwick und ich getrennte Wege. Zwischen 1996 und 2002 war ich für die großen deutschen Musikvertriebe “Musik Meyer” und “M&T” damit beschäftigt, das Ampeg-, Crate-, Gibson/Epiphone- und Tobias-Bassprogramm als Produktentwickler und Berater zu begleiten. Daraus resultiert der Ampeg SVT4 Pro, den ich maßgeblich mitbestimmt habe. Zwischen 2002 bis 2007 war ich Produktberater für den deutschen Hersteller Behringer. Zum Beispiel habe ich sämtliche Sounds für den Bass V-amp designed und über 50 Presets geschrieben. Von 2008 bis 2011 war ich wieder über “Musik Meyer” als Clinician und Produktberater für Marshall-Amps und Music-Man-Bässe tätig. Von 2011 bis 2013 das Gleiche für Fender. Und von 2013 bis 2019 habe ich mit dem deutschen Hersteller Engl zusammengearbeitet. Bereits seit 1998 verwende ich live wie im Studio ausschließlich Cordial-Kabel, wurde 2016 Markenbotschafter für Cordial und habe die “Cordial Family Talk”-Reihe ins Leben gerufen. Für den damaligen Konzern EVI Audio – das waren maßgeblich die Firmen Dynacord und Electro Voice – habe ich zwischen 1990 und 2002 sämtliche Messeauftritte in Frankfurt und Anaheim ausgerichtet, sowie für die Hausmessen in Straubing mit meinem “Go Music”-Projekt musiziert. Zwischen 1984 bis heute habe ich zahlreiche Workshops und Clinics für alle diese Hersteller auf dem ganzen Erdball absolviert, wo ich sehr gerne mit lokalen Musikern spielte und spiele. Das sind Eindrücke, die möchte ich einfach nicht missen, denn was ich auf all diesen Reisen erlebt und gesehen habe, reicht für mehrere Menschenleben! I love my job!
Was spielst du denn aktuell an Bässen und Bassverstärken?
Martin Engelien: Fangen wir vorne an: Ich verwende Galli Strings aus Neapel in den Stärken .050 – .110 Als Bassist brauche ich dicke Saiten für die fetten Töne. Meine Live-Bässe stammen von Sandberg. Ich habe ein Signature-Bassmodell von 1996, das ist ein “Soft Aged” Creme Sandberg California im P-Bass-Style mit einem Gibson Thunderbird Hals-PU und einem Delano Bridge-PU. Im Hals sind Martin Sims LEDs. Und dann spiele ich noch sehr gerne einen serienmäßigen schwarzen Sandberg TM2. Für besondere Anlässe verwende ich den Sandberg “Hard Core” Aged Metallic Red CR Stripes Fourty Eight. Der Sound geht durch das Cordial-Metal-Kabel mit Silent Plug in mein Pedalboard, bestückt mit Hotone 4 Kanal Patch Kommander, Korg Pitchblack Tuner, Jim Dunlop Cry Baby Bass Wah, EBS Octabass, EBS Dynaverb, EBS Unichorus und Lehle Basswitch. Von da geht der Sound durch ein Cordial “25th Anniversary”-Kabel zur Live-Bassanlage meines Vertrauens: einem EBS Reidmar 750 und einer EBS Neoline 115 – übrigens eine sehr wirbelsäulengerechte Kombination mit sattem Druck!
Wie nimmst du im Jahre 2021 im Studio am liebsten deinen Bass auf? “Old School”-mäßig mit Amp und Mikro, D.I.-Signal, Preamps, …? Und legst du den Basssound vorher fest oder bastelst du ihn lieber “in the box”?
Martin Engelien: Im Studio verwende ich zahlreiche Bässe: Neben den Sandbergs hauptsächlich Instrumente von Gibson, Epiphone, Fender und Dimavery. Einige sind mit Tonabnehmern von Andreas Kloppmann veredelt worden. Und ich nehme tatsächlich alle Basssounds mit Mikrophonen ab! Ich hatte das Glück, Ende der 1980er-Jahre einmal Tony Levin zu treffen. Er saß bei einem Trace-Elliot-Essen in Anaheim neben mir und im Laufe das Abends erzählte er mir, wie sie damals den Basssound für “Sledgehammer” gebastelt haben. Das hat mich maßlos beeindruckt – seitdem verwende ich diese Technik für alle Aufnahmen mit großem Erfolg. Ich benutze als Amp wahlweise einen Dynacord Bassking T oder Ampeg V4B über ein Ampeg 210E Cabinet. Das ist eine Box mit zwei 10″-Lautsprechern, praktisch eine der vier Kammern aus einer 8×10 von Ampeg. Diese Box hat eine runde Schallreflex-Öffnung auf der Rückseite. Direkt vor dieser Öffnung, in 0,5 cm Abstand, platziere ich ein CAD Equitek E100-Mikrofon. Dann positioniere ich ein Mikro “very close up” ca. 1 – 2 cm vor einem der Lautsprecher, also ohne Bespannstoff. Diese Position checke ich je nach Soundvorstellung mit meinen Hear Safe In Ears ab. Und dann kommt noch ein Mikrophon in einem bestimmten Abstand vor die Box, das hängt vom jeweilig gewünschten Grundsound ab. Das kann zwischen 0,5 m bis schon mal 2 m oder mehr entfernt sein. Für diese Positionen verwende ich meistens Sennheiser E602 II, Sennheiser MK4 oder MK8 oder auch das Sure SM58 – je nachdem, wie der Sound gefärbt werden soll! Diese drei Mikros laufen in mein Mischpult. Ich schleife einen SPL Frontliner in den Speaker-Sound und jeweils einen SPL Kultube in das Mikro von der Schallreflexöffnung und das Raummikro. Die Schallreflexöffnung nenne ich “heiße Luft”. Das sind ultratiefe Subbässe, die man da bekommt. Aus diesen drei verschiedenen Mikros und durch musikalisch eingestellte Kompression gestalte ich einen Basssound durch unterschiedliche Lautstärken der einzelnen Signale ganz ohne EQs! Soll es fetter werden, hat die “heiße Luft” einen höheren Anteil, soll es mehr knarzen, wird der “Close Up”-Sound priorisiert. Eine Mischung aus den drei Signalen wird mono auf eine Spur aufgenommen, und fertig ist der Basssound im Stile von Tony Levin! Falls aber jemand für eine Produktion auch noch ein D.I.-Signal haben möchte, nehme ich das natürlich auch auf. Auch das mache ich sehr eigenwillig: Ich gehe mit einem Speakerkabel aus dem Cabinet in eine Cordial D.I.-Box, also hinter Amp- und Speaker-Sound, in mein Mischpult auf eine separate Spur, ohne EQs und ohne Kompression. Aus den Feedbacks und Resonanzen der Auftraggeber weiß ich, dass zu 95% der Mikrosound genommen wird und bei den verbleibenden 5% der D.I.-Sound noch ganz leicht dazugemischt wurde. Diese Art der Aufnahme setzt logischerweise eine Menge Erfahrung voraus. Mittlerweile positioniere ich die Mikros fast blind, um einen bestimmten Grundsound zu erhalten. Bei der Mischung verwende ich die Softube Console 1 und die mitgelieferten Kompressionen der jeweiligen Mischpult-Emulationen. Da sind die SSL 4000 und British Class A meine Favoriten. Und sehr gerne verwende ich auch den Tube Compressor aus dem Cubase 11 als schöne Färbung.
Du betreibst neben deinem Studio auch ein Label und einen Musikverlag. Wie kam es dazu?
Martin Engelien: Das ist in diesem Jahr exakt 20 Jahre her: Die erste CD-Veröffentlichung war eine Live-CD mit T.M. Stevens & The BOOMbasstics mit dem Titel “Boomparty 2000”. Gegen Ende des letzten Jahrtausends war es für mich bereits abzusehen, dass es mit den Plattenfirmen, wie ich sie kennen und schätzen gelernt hatte, den Bach hinuntergehen wird. Dementsprechend dachte ich, dass es für Musikrichtungen, wie ich sie mache, in Zukunft schwer werden wird, ein Label zu finden. Das gilt sowohl für Big Seller, als auch für kleinere musikalische Projekte, die ich schon immer sehr gerne betrieben und veröffentlicht habe. So was wie Men In Space, ein Drum’n Bass Projekt mit Udo Dahmen, oder S.W.E.D., die Initialen der Nachnamen von Michael Sagmeister, Peter Wölpl, Martin Engelien und Udo Dahmen. Kurzum: Musik, die eher in Nischen zu finden ist als in den Charts. Das war für mich der Grund, kurzerhand selber Hand anzulegen und ein Label wie auch einen Musikverlag richtig offiziell anzumelden und zu betreiben. Mit Barcode, VUT-Mitgliedschaft, Vertriebsstrukturen, Marketing-Maßnahmen und allen sonstigen Zutaten, die man dafür benötigt. Der Untertitel des Labels lautet “Das Label für musikalische Perlentaucher”. Mein Label “A1 Records” sowie mein “Flower-Town-Music”-Verlag gelten als Firmen mit sehr musikerfreundlichen Bedingungen, da ich ja selber einer bin, hahaha! Im Ernst, ich betreibe alles zwar sehr professionell, aber die Konditionen sind doch eindeutig “pro Musiker”, damit alle davon profitieren. Ich zahle höchste prozentuale Beteiligungen und die Artist-Preise für CDs und Vinyls liegen nur marginal über den Investitionen. Neben allen “Go Music”-Alben gibt es auch Produktionen von Jutta Weinhold, Gil Edwards, Joyce van de Pol, Robert Carl Blank oder Ben Granfelt auf dem Label. Ben wird auch sein folgendes Album bei mir veröffentlichen, und konsequenterweise wird auch das Album “Visisones” von vorhin erwähnter Vanesa Harbek bei mir veröffentlicht.
Martin, vielen Dank für das nette Gespräch und den Einblick in dein facettenreiches Leben als Künstler. Noch einmal herzlichen Glückwunsch zu deinen Jubiläen und alles Gute für die Zukunft! Zum Abschluss noch eine Frage: Du hast ja mit unzähligen Künstlern auf unzähligen Platten gespielt. Kannst du uns ein paar deiner Basslines zeigen, auf die du besonders stolz bist?
Martin Engelien: Sehr gerne! Ich werde dafür einige Videos produzieren, damit die Basslines für eure Leser noch besser nachvollziehbar werden:
Martin Engeliens neuester Release trägt den Titel: “25th Anniversary Go Music” und beinhaltet 16 Songs, die von 33 Musikern live eingespielt wurden.
Surftipp zum Thema: www.martinengelien.de