Praxis
Starten wir in den Praxisteil mit einer schnellen Kaffeepause. Klingt komisch, ist aber so. Tatsächlich benötigt das VIVO S9 wie auch andere Dexibell-Pianos zum Hochfahren knappe 50 Sekunden. Die geballte Ladung an Klängen hat offenbar ihren Preis, wenn es um ein schnelles Einschalten geht, denn während des Ladens kann man dabei zusehen, wie die einzelnen Klänge in den 1,5 GB großen Arbeitsspeicher geladen werden. Das sollte man also unbedingt im Hinterkopf behalten, denn im Live-Betrieb könnte eine derart lange Boot-Zeit stören.
Klang
Pianos
Schön ist auch, dass Artefakte wie z. B. loopende Samples im Ausklang oder Pitch-Shifting bei benachbarten Tasten gänzlich ausbleiben. Besonders gut gefällt mir der Diskantbereich, der bei fast allen Pianos besonders gut gelungen ist. Im Übrigen bietet Dexibell auch weitere Sounds auf seiner Hersteller-Seite an und man kann davon ausgehen, dass das Angebot zukünftig noch erweitert wird. Die Sounds lassen sich nämlich alle austauschen und so kann man das VIVO S9 nach eigenen Vorstellungen konfigurieren.
True To Life Editor
Klanglich lassen sich die verschiedenen Sounds nach Belieben editieren. Über den dafür vorgesehenen T2L-Editor hat man auf Tastendruck über T2L-Knopf sofortigen Zugang zu diversen Parametern, wie z. B. Hammer-, Release- und Dämpfergeräusche sowie Saitenresonanzen. Diese Werte stehen im Ursprungszustand auf 0 und können im Wertebereich zwischen -64 und +63 angehoben bzw. abgesenkt werden. Auch bei den E-Pianos ist es möglich, instrumentenspezifische Geräusche wie z. B. „Bell“, „Growl“ oder „Cabinet Resonance“ zu justieren.
Aus meiner Sicht ist das ein sehr gelungenes Feature, mit welchem die Sounds noch etwas mehr Lebendigkeit erhalten. Für mich sind die Nebengeräusche jedenfalls ein ganz besonders wichtiger Teil des Instruments. In den nachfolgenden Beispielen habe ich die Parameter stark angehoben, was den „Japan Grand“ noch viel intimer und atmosphärischer klingen lässt. Beim Rhodes klingen die Nebengeräusche auch sehr interessant, wobei man sie in der gewählten Extremeinstellung schon etwas übertrieben sind – hier sollte man also etwas vorsichtiger sein.
Orgeln
Im Gegensatz zum VIVO S7 besitzt unser Testkandidat eine eigene Orgel-Sektion, wie sie in ähnlicher Form z. B. beim Nord Electro zu finden ist. Hier kommen nicht nur die neun motorisierten Fader zur Zugriegelsteuerung ins Spiel, sondern gleich ein ganzes Tastenfeld zur Auswahl der fünf integrierten Orgel-Simulationen, sowie Chorus-, Percussion- und Rotary-Sektion. Hören wir uns zunächst die beiden Tonewheel-Simulationen an, die in ihrem Grundsound zwar recht ähnlich sind, bei vollen Zugriegeln aber feine Unterschiede zeigen. Zwei Tonewheel-Orgeln unter einem Dach? Das ist wirklich fein! Ich habe in beiden Beispielen mit den Zugriegeln sowie mit der Rotary-Speaker Simulation experimentiert.
Für eine Orgelsimulation klingt das nicht schlecht, wenngleich ich hier anmerken muss, dass einige Orgel-Clones hier noch authentischer klingen. Einem echten Kenner fallen die Details auf: die Percussion, das Scanner-Vibrato und vor allem die Leslie-Simulation können mich nicht ganz überzeugen. Übrigens verfügt die Orgel über drei Einheiten Upper Manual, Lower Manual sowie Pedal und lässt sich bei Bedarf auch mit Fußbasspedal oder zweitem Manual (mit angeschlossenen MIDI-Keyboard) verwenden. Die Steuerung der motorisierten Zugriegel hat etwas sehr Luxuriöses. Vor allem beim Aufrufen von Presets zeigt sich ihr großer Vorteil: Die Zugriegel springen sofort auf ihre entsprechende Position – so kennt man es eigentlich nur von hochpreisigen Mischpulten!
Für dich ausgesucht
Weiter geht es mit den verbleibenden Orgelmodellen, zu denen die Modelle Farfisa, Vox und Kirchenorgel gehören. Auch hier bedienen die Zugriegel die entsprechenden Register, welche übrigens unterstützend auch im Display angezeigt werden. Die einzelnen Orgelmodelle gefallen mir sehr gut, weil sie sehr eigenständig klingen, besonders druckvoll sind und mit einer ordentlichen Portion Tiefbass daherkommen!
Weitere Klänge
Natürlich finden wir im Vivo S9 noch eine ganze Menge weiterer Klänge, die sich in den Kategorien der Sound/Memory-Sektion verstecken. Die meisten dieser Sounds findet man auch in vielen anderen Keyboards, jedoch ist die Auswahl hier etwas begrenzt. Grundsätzlich legt Dexibell auch hier mehr Wert auf die Qualität einzelner Sounds – weniger also auf das Prinzip „Masse statt Klasse“ – sehr lobenswert. Tatsächlich klingen viele Sounds dieser Kategorien, zu denen u. a. klassische Strings, Pads und Bläser gehören, sehr ordentlich.
Ein Kritikpunkt zu den Sounds richtet sich speziell an die Dynamik des VIVO S9: Bei manchen Sounds des Stagepianos sind mir drastische Lautstärke-Unterschiede aufgefallen, sodass ich oftmals zum Nachpegeln angehalten war. Ganz besonders stark ist mir das bei den Orgelmodellen aufgefallen – die einzelnen Zugriegel addieren sich in der Lautstärke so stark, dass ich doch etwas überrascht war.
Morphing
Effekte
Ein besonderes Merkmal des VIVO S9 ist die großzügige Effekt-Sektion, welche neben dem globalen Reverb-Effekt sowie dem Master-EQ mit sechs weiteren Effekten ausgestattet ist. Für die drei Parts Main, Coupled und Lower sind jeweils zwei dieser Effekte zuständig, welche über den FX Select-Taster angewählt und separat aktiviert werden. Betätigt man den Taster FX Select, dann wird im Display sichtbar, welcher Effekt gerade ausgewählt ist. Hier kann man jederzeit frei aus den verschiedenen Modulationseffekten wie z. B. Tremolo, Vibrato, Flanger, Chorus, Phaser oder z. B. Delay wählen. Besonders praktisch sind die beiden Drehencoder, die jeweils direkten Zugriff auf zwei der wichtigsten Parameter bieten, wie z. B. Intensity und Rate bei einem Chorus. Über die Auswahltaster unterhalb des Displays erreicht man auch das „App Parameter“-Menü, in welchem alle weiteren Einstellmöglichkeiten der Effekte zu finden sind. Hier bleiben keine Wünsche offen.
Ein weiterer Effekt bleibt alleine der Orgel-Sektion vorbehalten: Neben dem Morphing-Taster finden wir den Overdrive-Regler, welcher den Orgelsimulationen zu einer gehörigen Portion „Crunch“ verhilft. Dieser lässt sich wahlweise hinzuschalten und kann dann mittels Drehencoder im Wertebereich zwischen 1 und 100 geregelt werden. Von softer Verzerrung bis hin zu gnadenlosem Overdrive ist hier alles möglich!
Main, Coupled, Lower und Pedal
Das Dexibell Vivo S9 ist vierfach multitimbral und verfügt über vier Parts, die im Sound/Memory-Bereich aktiviert werden können. Nach dem Hochfahren des S9 ist regulär nur der Main-Part aktiv. Einen Layer erzeugt man mit dem Coupled-Taster: Dann wird dem Main-Sound ein zweiter Sound „angekoppelt“. Wird der Lower-Part aktiviert, wird die Tastatur in zwei Bereiche gesplittet: Jetzt können Main- und Coupled-Part auf der oberen Hälfte und der Lower-Part in der unteren Hälfte gespielt werden. Der Splitpunkt lässt sich im Menü natürlich einstellen.
Für die untere Tastaturhälfte kann auch der Pedal-Part aktiviert werden – alternativ lassen sich sogar Pedal- und Lower-Part zusammen spielen. Speziell für die Orgel-Sektion ist der Pedal-Part interessant, denn er kann sowohl über die Tastatur, als auch alternativ über ein externes MIDI-Fußbasspedal eingesetzt werden und simuliert dann ein Fußbassregister, wie man es z. B. von einer echten Hammond-Orgel kennt. Auch andere Klänge können für den Pedal-Part ausgewählt werden. Für den Orgelmodus lässt sich übrigens auch noch ein externes MIDI-Keyboard anschließen, dann kommt man als Spieler in den Genuss zweier Manuale. Sind alle vier Parts gleichzeitig aktiviert, dann klingt das VIVO S9 sehr mächtig!
Chord Enhancer / Chord Freeze
Die Chord-Enhancer-Funktion ist ein interessantes Feature, um einen volleren Klang zu erzeugen. Wirksam wird der Chord-Enhancer beim Spielen von Strings, Choir oder Pad-Sounds und generiert passend zu gespielten Akkorden einen tiefen Grundton. Bei Dreiklängen in der Grundstellung erklingt beispielsweise ein Grundton zwei Oktaven tiefer. Die „Chord Freeze“-Funktion ist im Gegensatz dazu eher ein kleines „Gimmick“, einen praktischen Verwendungszweck konnte ich hierfür noch nicht finden. Wird der zugehörige Taster aktiviert, dann merkt sich das VIVO S9 den gedrückten Akkord und friert diesen ein. Der gespielte Akkord wird dann anschließend beim Drücken einer einzigen Taste wieder aufgerufen und je nach Taste entsprechend transponiert. Wer also immer schon wissen wollte, wie ein 12-Ton-Cluster-Voicing in allen 12 Tonarten und denkbaren Oktavlagen klingt, der sei hier zum „Ausprobieren“ eingeladen.
Soundangebot & Speicherverwaltung
Ein kurzer Blick in das Benutzerhandbuch gibt Aufschluss über die interne Speicherverwaltung des Dexibell VIVO S9: Tatsächlich beträgt Flash-Speicher insgesamt 3GB und ist in zwei exakt gleichgroße Bereiche unterteilt. Die eine Hälfte davon besteht aus nicht überschreibbaren Factory-Sounds, in der anderen Hälfte hingegen können User-Sounds geladen werden, welche z. B. auf der Herstellerseite angeboten werden. Ebenfalls unterstützt das Piano auch Sounds in SoundFont2-Format – auch diese Sounds können also in das VIVO S9 installiert werden. Der komplette Sound-Speicher ist damit genau doppelt so groß wie der 1,5 GB große Arbeitsspeicher. Über das Sound Library Menü muss daher eine Auswahl getroffen werden, welche Sounds beim Hochfahren des Pianos geladen werden: Bei voller Ladung passt eben nur die Hälfte des Flash-Speichers in den RAM. Glücklicherweise geht diese Auswahl recht einfach von der Hand und bietet außerdem den Vorteil, dass man selber entscheiden kann, welche Sounds man braucht, und welche nicht. Nebenbei bemerkt: Mit einer kleineren Auswahl an Sounds verkürzt sich übrigens auch die Ladezeit merklich.
Memory Set
Was wäre ein Stagepiano ohne die Möglichkeit, Sounds und Presets abzuspeichern? Im Dexibell VIVO S9 nennen sich diese User-Presets „Memories“ und werden in sogenannten Memory Sets abgelegt. Im internen Speicher des VIVO S9 finden insgesamt 81 User-Memories Platz, und der Speichervorgang ist dank der Write-Taste im Sound/Memory-Bereich schnell durchzuführen. Wem die 81 Speicherplätze zu wenig sind, der kann die Settings auch auf einem USB-Speichermedium abspeichern – hier ist die Anzahl der möglichen Speicherplätze dann unbegrenzt.
Masterkeyboard-Funktion
Das Sexibell VIVO S9 Stagepiano lässt sich auch als Masterkeyboard einsetzen und bietet vier Zonen zur Steuerung externer Quellen. In der Sound/Memory-Sektion können diese vier Zonen über die Taster A-D aktiviert werden. Hält man diese Tasten etwas länger gedrückt, dann erscheint ein Menü, mit welchem die ausgewählte Zone individuell konfiguriert werden kann, u. a. in puncto MIDI-Kanal, Oktavlage und diversen MIDI-Controllern und CC-Befehlen.
“X Mure” App für weitere Möglichkeiten
Wer ein iPhone oder iPad besitzt, der kann sich die App „X Mure“ herunterladen und die Pianos der Dexibell Vivo-Reihe um eine Arranger-Funktion erweitern. Voraussetzung für den Betrieb mit einem iPhone oder iPad ist allerdings ein Apple iPad Camera Connection Kit zum Verbinden der Geräte. Die App X Mure besteht aus den drei Modi „Touch“, „Vivo“ und „Instrument“, in denen audiobasierte Begleitrhythmen abgespielt und in Echtzeit gesteuert werden können. Leider ist nur der Vivo-Modus kostenlos, die anderen Modi müssen kostenpflichtig freigeschaltet werden.
In der App lässt sich über den Splitmodus des VIVO S9 die Arranger-Funktion mit der linken Hand steuern. X Mure erkennt dann die gespielten Akkorde und reagiert entsprechend „live“ darauf, indem die Akkorde des Backing-Tracks angepasst werden. Die audio-basierten Rhythmen bieten wie bei einem Arrangerkeyboard vier verschiedenen Variationen und typische Fill-Ins. Für Vivo-Anwender sind alle Rhythmen frei nutzbar, andernfalls müssen sie teilweise kostenpflichtig freigeschaltet werden.
Die App ist eine Bereicherung für den Spieler und schon alleine der VIVO-Modus bringt einige interessante Features mit sich. Wer beispielsweise über die Realbook-App „iReal Pro“ verfügt, der kann die Akkordfolge eines ausgewählten Jazz-Titels von der iReal Pro App im XML-Format exportieren und in X Mure importieren. Jeder Begleitrhythmus aus der VIVO-App folgt dann dem Akkordschema des importierten Titels. So kann man auch ein Experiment wagen und sich beispielsweise überzeugen, ob ein Standard à la „How High The Moon“ auch im Pop-Gewand klingt!