Was haben nahezu alle Rock- und Metalbands seit Ende der 70er-Jahre gemeinsam? Sie nennen die kanadische Band Rush als einen ihrer größten Einflüsse! Wohl kaum eine andere Band hat ihren Legenden-Status so sehr verdient wie das Trio aus Neil Peart, Alex Lifeson und Geddy Lee. Letzterer ist nicht nur Songwriter, Sänger und Frontman des Trios, sondern auch einer der prägendsten Bassisten der letzten 40 Jahre. Seine Spieltechnik und sein erdbebenartiger Sound beeinflussten seit Ende der Seventies nahezu alle nachfolgenden Rockbassisten. Rush erreichten einen riesigen weltweiten Erfolg und erhielten unzählige Awards, darunter die Aufnahme in die „Rock & Roll Hall of Fame“. Durch diverse Cameo-Auftritte oder Zitate in TV-Shows und Filmen wurden sie endgültig zum Teil der internationalen Popkultur. Das alles klingt eigentlich eher nach der typischen Karriere einer erfolgreichen Popband, oder? Bei Rush jedoch haben wir es mit Progressive Rock in seiner reinsten Form zu tun, was den Erfolg des kanadischen Trios noch umso größer erscheinen lässt. Höchste Zeit also, dass wir uns Rush – und allen voran natürlich Geddy Lee – einmal ausführlich widmen.
Geddy Lee: Die Anfänge
Geddy Lee wurde am 29. Juli 1953 als Gershon Eliezer Weinrib im kanadischen Willowdale, Ontario, geboren. Laut Geddy wuchs er in keinem besonders musikalischen Umfeld auf. Erst nach dem Tod seines Vaters erfuhr er, dass dieser ein semiprofessioneller Musiker gewesen war, seine Karriere jedoch beendet hatte, nachdem er gezwungen worden war, in einem Konzentrationslager zu spielen.
Geddys Schwester Susi bekam Klavierunterricht, wofür auch ein Instrument angeschafft wurde. Dieses erregte jedoch mehr Geddys Aufmerksamkeit, wodurch er erstmalig mit Musik in Berührung kam. Die zweite große Initialzündung war 1964 der legendäre TV-Auftritt der Beatles in der „Ed Sullivan Show“ in den USA. Hier bekam Geddy erstmalig einen Eindruck davon, welche Wirkung Rockmusik vor allem auf die jüngeren Generationen haben kann.
Im Alter von 13 Jahren begann Geddy, Platten von The Beatles, The Beach Boys, Motown, Cream, Jimi Hendrix und anderen zu kaufen. Dies vertiefte sein Interesse für Musik noch mehr. Wie das Schicksal es wollte, verkaufte sein Nachbar eines Tages eine gebrauchte Akustikgitarre – Geddy griff daraufhin sofort zu! Nach dem Lernen von ein paar Akkorden gründete er mit Kindern aus der Nachbarschaft die erste Band. Da aber keiner Bass spielen wollte, wurden Strohhalme gezogen und Geddy „verlor“, da er den kürzesten erwischte – was für ein Glücksfall für die Basswelt!
Wenig später lernte Geddy in der Schule einen gewissen Alex Zivojinovich (später Alex Lifeson) kennen, der Gitarre spielte. Die beiden wurden schnell enge Freunde, spielten aber noch in unterschiedlichen Bands. Am 13. September 1968 kam dann der Telefonanruf, der die Musikwelt verändern sollte: Alex fragte Geddy, ob dieser nicht bei einem Gig seiner Band Rush aushelfen wolle, da der Bassist verhindert sei. Das „Aushelfen“ wurde dann sehr schnell ein dauerhafter Zustand.
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Geddy Lee: Einstieg bei Rush
Rush konzentrierten sich in ihrer Anfangszeit zunächst noch auf das Covern von Rock- und Blues-Songs. Doch mit Geddys Einstieg wechselte der Fokus langsam in Richtung der ersten Eigenkompositionen. Das Trio, damals noch mit Drummer John Rutsey, machte sich schnell einen Namen in der lokalen Szene. 1974 folgte der erste Plattenvertrag und das selbstbetitelte Debütalbum. Kurz darauf ersetzte Neil Peart John Rutsey am Schlagzeug. Diese Besetzung sollte sich bis zum offiziellen Ende von Rush im Jahr 2018 nicht mehr ändern.
Neil brachte nicht nur Einflüsse aus Hard Rock, Jazz und klassischer Musik, sondern auch ein großes literarisches Talent mit in die Band ein. Fortan war er für sämtliche Lyrics von Rush zuständig, die von Geddys markanter Stimme gesungen wurden. Mit den folgenden Alben entwickelte Rush sich von herkömmlichen Songstrukturen zu einer bahnbrechenden Progrock-Band mit allem, was dazugehört: Ungerade Taktarten, ausschweifend lange Kompositionen mit verschiedenen Teilen, virtuose Instrumentalparts, an Literatur und Philosophie angelehnte Texte, etc. Auch Geddys Stil änderte sich von der klassischen Songbegleitung zu etwas gänzlich Neuem, doch dazu später mehr.
Den wirklichen Durchbruch brachte 1976 das Album „2112“. Es folgten „A Farewell to Kings“ (1977), „Hemispheres“ (1978) und „Permanent Waves“ (1980). Als absoluter Meilenstein in Rushs langer Karriere und der Geschichte des Progressive Rock gilt jedoch das Album „Moving Pictures“, welches im Jahr 1981 erschien. Geddy Lee hatte schon länger mit Synthesizern experimentiert, was auf „Moving Pictures“ aber erst so richtig zum Tragen kam und der Band einen ganz neuen Sound bescherte.
Dieser Trend verstärkte sich in den 80er-Jahren, was nicht unbedingt bei jedem Fan auf Gegenliebe stieß, da sich Rush etwas von ihren rockigen Wurzeln entfernte. Dem Erfolg der Band sollte das allerdings keinen Abbruch tun, und das Trio bestritt zahlreiche erfolgreiche Welttourneen. Zudem erschienen regelmäßig neue Alben wie „Signals“ (1982), „Grace Under Pressure“ (1984), „Power Windows“ (1985), „Hold Your Fire“ (1987), „Presto“ (1989) und „Roll The Bones“ (1991).
Auf „Counterparts“ (1993) und „Test for Echo“ (1996) besannen sich Rush langsam wieder auf ihre Wurzeln – die Synthesizerklänge traten etwas in den Hintergrund. 1997 starb Neil Pearts Tochter auf tragische Weise bei einem Unfall. Im Jahr darauf verlor Neil auch noch seine Frau an Krebs. Rush kam aufgrund dieser Schicksalsschläge zum Stillstand, und viele Fans hatten bereits die Befürchtung, dass dies das Ende der Band sei. Nach fünf Jahren Pause kehrte das Trio aber 2002 mit dem Album „Vapor Trails“ zurück. Es folgte noch zwei weitere Studioalben – „Snares & Arrows“ von 2007 und „Clockwork Angels“ von 2012, die jeweils von Welttourneen begleitet wurden.
Apropos Tourneen: Rush werden weltweit von ihren Fans als eine Art Kult verehrt. Kein Wunder, denn die Musik des Trios ist weitab vom Mainstream angesiedelt und Neil, Alex und Geddy sind sicherlich nicht die typischen Rockstars. Fan von Rush wird man also nicht, da man zufällig etwas im Radio hört, sondern, weil man mit viel Leidenschaft bei der Sache ist. Dies lässt sich gut auf den zahlreichen Live-Alben der Band hören.
Nach 41 Jahren stieg Neil Peart schließlich aus persönlichen Gründen bei Rush aus, 2018 wurde das offizielle Ende der Band verkündet. 2020 verstarb Neil Peart leider an einem Gehirntumor.
Geddy Lee: Musikalischer Stil
Geddy Lee selbst erhielt unzählige Auszeichnungen von (Bass-)Fachmagazinen; die wichtigste Ehrung der Band fand jedoch im Jahr 2013 statt, als Rush in die „Rock & Roll Hall of Fame“ aufgenommen wurden. Von ihrem Heimatland Kanada bekamen sie die höchste Auszeichnung für Künstler: Den „Governor General’s Performing Arts Awards for Lifetime Artistic Achievement“. Dies ist nur ein Bruchteil der individuellen und gemeinsamen Awards.
Einen großen Anteil an diesem Erfolg hat Geddys individueller Stil, auf den wir jetzt etwas genauer schauen. Bei über 40 Jahre Progrock kommt da natürlich einiges zusammen, daher diesmal in Form von Stickpunkten:
- Kraftvoller Anschlag (oft auch aus Handgelenk statt aus Fingergelenk) in Nähe des Halses, viel Attack, Anschlag der Saiten auch bei Aushol-Bewegung des Fingers
- Häufig schneller doppelter Anschlag einer Note, gerne als Auftakt
- Viele Artikulationen wie Hammer-On, Pull-Off und Slides
- Häufige Verwendung von Double Stops, vor allem mit Quinten, Quarten und Terzen
- Wenig klassische Moll-Pentatonik, stattdessen viele Tonleitern, Arpeggios und Chromatik
- Schnelle Registerwechsel für kurze Fills oder melodische Einlagen
- Sehr fließender, bewegter, melodischer Stil, wenig typisches Rock-Bassspiel, wie z. B. Achtel auf dem Grundton
- Die Bassline bildet häufig eine Gegenmelodie zum Gesang
- Nicht zwangsläufig Grundton im Bass, gerne auch Quinte oder Terz, dann aber in höheren Lagen
- Häufige Verwendung ungerader Taktarten
- Rhythmische Überlagerungen (ungerade Gruppierungen über geraden Puls)
- Wechsel zwischen binärem und ternären Feeling im Song
Geddy Lee: Equipment
Eine über 40-jährige Karriere bedeutet natürlich tonnenweise Equipment. Sämtliches Gear, was Geddy im Laufe der Jahre benutzte, würde wohl problemlos ein ganzes Buch füllen. Daher müssen wir uns an dieser Stelle deutlich einschränken. Bei seinen Instrumenten konzentrieren wir uns auf drei wichtige Exemplare, welche auch für verschiedene Phasen von Rush stehen:
Rickenbacker 4001: Der schwarze „Ricky“ steht für die Anfangstage von Rush. Glaubwürdigen Quellen zufolge nutzte Geddy seinen 4001 von der ersten Tour 1974 bis circa 1983. Danach kam er eher sporadisch bzw. bei einigen Shows aus nostalgischen Gründen zum Einsatz.
72er Fender Jazz Bass: Zu den Aufnahmen der legendären Platte „Moving Pictures“ wollte Geddy neues Equipment ausprobieren. Schon seit einigen Jahren besaß er einen 72er Fender Jazz Bass, den er für 200,- Dollar in einem Pfandladen erworben hatte. Bisher fristete dieser Bass ein eher trauriges Dasein, kam er doch weder im Studio noch live zum Einsatz. Doch während der Aufnahmen zu „Moving Pictures“ und im Anschluss daran wurde dieser spezielle Bass zu Geddys berühmter „Number One“. Die gemeinsame Erfolgsgeschichte veranlasste Fender 1998 zu einem Signature-Modell, welches in Japan (später Mexico) gefertigt wurde. Später folgten eine „Made in USA“- sowie eine Custom-Shop-Version dieses Bassmodells.
Wal MK I und MK II: Die 80er-Jahre brachten nicht nur andere Frisuren, sondern auch mehr Synthie-Sounds und moderne E-Bässe mit sich. Allen voran waren dies mehrere Modelle der britischen Edelbass-Company Wal mit ihrer ausgeklügelten proprietären Elektronik.
Neben diesen drei Exemplaren gibt es natürlich noch unzählige andere Bassmodelle, die Geddy im Einsatz hatte. Erwähnenswert sind definitiv noch der Steinberger L2 (wegen seiner Form auch „Paddel“ genannt) und der legendäre Rickenbacker 4080 Double Neck Bass.
In über vier Jahrzehnten sammeln sich zudem zahlreiche Bassverstärker an, darunter Klassiker wie Ampeg SVT, Sunn, Traynor, Trace Elliot oder Orange. Wegen dieser Fülle beschränken wir uns auf Geddys aktuellen Stand. Grundsätzlich ist das spezifische Equipment weniger wichtig, sondern auf welchem Weg Geddys Sound zu Stande kommt.
Im Wesentlichen setzt sich dieser aus zwei Komponenten zusammen: Einem (vorzugsweise durch Röhren-Endstufe) fett saturierten und komprimierten Low End und einem mehr oder weniger stark verzerrten Top End. Wie alle Rockbassisten erreichte Geddy dies früher mit zwei unterschiedlichen Verstärkern. In Kooperation mit der New Yorker Firma Tech21 entwickelte er den 2112 Preamp (und mittlerweile mehrere Ableger davon), der Geddys Sound in einem kompakten Format ermöglicht und ideal für die „Silent Stage“ ohne Verstärker und Boxen ausgestattet ist.
Geddy Lee: Der Autor
Erst relativ spät in seiner Karriere begann Geddy sich näher für die Geschichte seines Instruments zu interessieren. Vorher nutzte er laut eigener Aussage seine Bässe in erster Linie als Mittel zum Zweck, aber nun wollte er „alles wissen“. Häufig bezeichnet sich Geddy in seiner Biografie selbst als Nerd, der sich komplett in einem Hobby verlieren kann, seien es Baseball oder Briefmarken.
Genau so passierte es auch mit dem Sammeln von Bässen. In nur wenigen Jahren entstand eine unglaublich umfangreiche und beeindruckende Kollektion an Vintage-Instrumenten und exotischen Modellen. Zum Glück hat Geddy diese in einem wunderbaren Buch namens „Big Beautiful Book Of Bass“ für uns alle zugänglich gemacht. Über 250 Instrumente, allesamt wunderschön in Szene gesetzt, machen dieses Buch zu etwas ganz Besonderem. Ich kann das Werk daher wirklich nur jedem ans Herz legen, denn derart schön und ausführlich wurden Bässe noch nie gezeigt.
2023 legte Geddy dann ein zweites Werk nach: Seine Autobiografie „My Effin Life“ ist eine äußerst unterhaltsame, spannende und auch lehrreiche Lektüre. Das Buch erregte viel Aufmerksamkeit auch außerhalb der Musikwelt, denn es beschreibt auf eindrucksvolle Weise die Kindheit in einer Familie, die den Horror des Holocaust überlebt hatte und nach Kanada ausgewandert war.
Ebenso zeichnet Geddy ein lebendiges Bild der langweiligen und gleichförmigen Vororte kanadischer Städte (und die Befreiung daraus durch Rockmusik). Ich habe mir „My Effin Life“ extra für diesen Artikel gekauft und kann es wirklich jedem empfehlen – egal, ob man Fan von Geddy Lee ist oder nicht.
Lieber Geddy, vielen Dank für über 40 Jahre Musik und zwei (hoffentlich bald mehr) wunderbare Bücher!
Thomas Meinlschmidt