Die polnische Bassistin Kinga Glyk wirbelt seit einigen Jahren die europäische Musikszene ordentlich durcheinander. Kürzlich sorgte sie auf YouTube mit einer Aufwärmübung, welche eigentlich aus einer berühmten Schule für Violine stammt, für Aufsehen. Mittlerweile wurde ich bereits mehrfach im Unterricht auf die Übung angesprochen. Vor wenigen Tagen konnte ich auf dem Guitar Summit 2022 einen 45-minütigen Workshop von Kinga besuchen – und auch da wurde sie zu diesem Video befragt! Es liegt also nahe, dass die Bass-Virtuosin damit einen Nerv getroffen hat. Daher gibt es heute eine andere Art von „Bassriff der Woche“: Die „Übung für Violine Nummer 2“ von Henry Schradieck (so die richtige Schreibweise des Namens des 1846 in Hamburg geborenen Geigers) aus dem Standardwerk „Die Schule der Violintechnik“.
Kinga Glyk: “Schradiek II“ – Originalvideo
Hier kannst du Kinga genau auf die Finger schauen:
Analyse
Die „Übung II für Violine“ besteht aus insgesamt 24 Takten, proppevoll gefüllt mit Sechzehntel-Noten. Das sind 384 Noten, die man sich merken muss, wenn man das Ganze auswendig spielen möchte. Aber man kann sich die Sache einfacher machen: Anstatt nämlich die komplette Übung von vorne bis hinten zu spielen, kommt man schneller zum Erfolg, wenn man in zweitaktigen Abschnitten (= eine Zeile) denkt.
Genau so hat Henry Schradieck diese Übung auch aufgebaut: Je zwei Takte bergen eine bestimmte Herausforderung in sich, nämlich bestimmte unterschiedliche Kombinationen unserer vier Finger, verteilt auf die D- und G-Saite.
Für dich ausgesucht
So übst du Kingas “Schradiek II warm-up” richtig
Die Fingerkombinationen bewegen sich meist in einem Bereich von vier Bünden. Erst später kommen kleine Lagenwechsel hinzu. Es macht daher also Sinn, auch in diesen zweitaktigen Abschnitten zu üben.
Man kann die Übung entweder Zeile für Zeile aufbauen oder sich einfach immer wieder andere zwei Takte herauspicken. Die Zeilen selbst kann man ebenfalls wieder in weitere kleine Abschnitte (z. B. eine oder zwei Viertelnoten) zerlegen. Bei Übungen dieser Art geht es nämlich in erster Linie um Genauigkeit und Sauberkeit ‑ Geschwindigkeit ist davon „nur“ ein Nebenprodukt. Exaktes Legato-Spiel ohne „Löcher“ ist hier das erklärte Ziel!
So wird deine Bass-Spielechnik profitieren
Als Motivationshilfe habe ich einige Punkte aufgelistet, welche Punkte deiner Spieltechnik sich durch diese Übung verbessern können. Das geschieht natürlich nicht von heute auf morgen, doch erste Resultate sollten nicht allzu lange auf sich warten lassen:
- Unabhängigkeit der einzelnen Finger
- bessere Kontrolle über die Finger, speziell Mittelfinger und kleiner Finger
- Sauberkeit der Bewegungen
- bessere Beweglichkeit der Finger
- Kondition
- Geschwindigkeit
- besseres Legato-Spiel
Du selbst bist immer dein bester Lehrer, da du dich zu Hause konzentriert beobachten und den Fokus dahin lenken kannst, wo es nötig ist. Hier sind ein paar Punkte, auf die du beim Üben achten solltest:
- Legato spielen, also ohne kleine Pausen zwischen den Tönen
- Ton erst dann loslassen, wenn man den nächsten spielt
- möglichst den nächsten Ton vorbereiten, in dem man den „zuständigen“ Finger bereits in der Luft positioniert
- Finger möglichst nah an den Saiten behalten
- auch wenn es schwer fällt: „locker bleiben“, also nicht zu viel Kraft einsetzen und niemals mehr drücken als nötig
- möglichst nicht mit dem Daumen drücken
- langsam üben, Tempo nach und nach steigern
- Metronom erst dann hinzunehmen, wenn Fingersätze klar sind, sonst hat man einen Stressfaktor mehr
Kinga Głyk – Schradiek II warm-up (violin exercise) – Transkription
Ich habe die Übung für Bass in Noten und Tabulatur übertragen. Das Original, welches Kinga zum Download anbietet, steht nämlich im Violinschlüssel und kommt ohne Tabulatur. Für diese habe ich mich exakt an Kingas Interpretation gehalten. Es sind aber natürlich auch andere Fingersätze denkbar.
Da Kinga in ihrem Video die komplette Übung in unterschiedlichen Tempi spielt, kann man ihr wunderbar folgen und auf die Finger schauen. Ein weiteres Video meinerseits oder eine Audioaufnahme sind daher unnötig. Allerdings fällt es schwer, sich auf die angesprochenen zwei Takte zu fokussieren, da Kinga stets einen ganzen Durchgang spielt. Daher habe ich exemplarisch drei etwas anspruchsvollere Zeilen ausgewählt und diese als einzelne Übung extrahiert.
Viel Spaß beim Üben und bis zum nächsten Mal,
euer Thomas Meinlschmidt