Kürzlich haben wir ja bereits Diana Ross’ größten Hit „Upside Down“ ausführlich behandelt. Von demselben Album stammt auch „I’m Coming Out“, dem im Laufe der Jahrzehnte eine ganz besondere Bedeutung zukommen sollte. Wie sämtliche Songs des Albums „Diana“ stammt er aus der Feder des genialen Duos Nile Rodgers und Bernard Edwards. Der Legende nach hatten beide den Song bereits der LGBTQ+ Community gewidmet. Diana Ross war dies jedoch anscheinend nicht bewusst – und umso überraschter war sie daher angeblich, als sie mehr und mehr zu einer Ikone der LGBTQ+-Bewegung avancierte. Musikalisch gesehen haben wir es bei „I’m Coming Out“ mit einer genialen Bassline von Bernard Edwards zu tun!
„I’m Coming Out“ – Video
Hier gibt es den Song zu hören:
„I’m Coming Out“ – Rhythmik
Der Chorus besteht aus einem vier Takte langem Loop, welcher ganz discotypisch nahezu ohne Variationen wiederholt wird. Auffällig ist, dass nur in Takt 1 die Zählzeit 1 gespielt wird. In den restlichen drei Takten wird die 1 jeweils um eine Achtelnote antizipiert. Hier entscheidet das Thema „Tonlänge“ über „Sieg oder Niederlage“. Im Einzelnen sieht das so aus:
- Die Downbeats (1 und 3) werden staccato (kurz) gespielt
- Die Achtel auf der Zählzeit 2 wiederum legato (lang)
- Die Achtelnote auf der 4+ von Takt 1 und 2 akribisch bis zur nächsten 1 halten
- Die Achtelnote auf der 4+ in Takt 3 liegenlassen
Dieser Kontrast zwischen kurzen und langen Noten sowie der überraschende Wechsel, wenn sich das Verhältnis ändert, ist nicht nur genial, sondern für diesen Groove auch absolut entscheidend! Bis auf die Zählzeit 2 (zwei Sechzehntel statt zwei Achtel) kopiert der Vers das beschriebene Rezept des Chorus. Einzig der Pre-Chorus bildet eine Ausnahme: Bernard wechselt hier zu einem fast durchgängigen Sechzehntel-Raster. Tonale Akzente sind die 1, die 2+ und die 2te (= dritte und vierte Sechzehntel der Zählzeit 2). Der Rest besteht aus Dead Notes.
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„I’m Coming Out“ – Tonmaterial
„I’m Coming Out“ befindet sich in der Tonart F-Dur mit den Tönen F, G, A, Bb, C, D und E. Der ganze Song kommt mit Stufenakkorden von F-Dur aus, und auch Mastermind Bernard Edwards nutzt nahezu ausschließlich die Töne der entsprechenden Tonleiter. Einzig eine chromatische Annäherung von G nach F bildet hier eine Ausnahme. Im Wesentlichen reduziert sich Edwards auf den Grundton des jeweiligen Akkordes. Der rhythmische Aspekt wiegt in „I’m Coming Out“ deutlich schwerer als der melodische.
Interessant und auch ein typisches Stilmerkmal von Bernard Edwards ist die Verwendung von Leersaiten als perkussiver Effekt. In diesem Fall bilden die leer gespielten E- und A-Saiten häufig den Auftakt zu einem Viertel-Puls.
„I’m Coming Out“ – Spieltechnik und Basssound
In den 70ern und Anfang der 80er-Jahre spielte Bernard Edwards vornehmlich zwei Hauptinstrumente: Einen Fender Precision Bass und einen 1977er Music Man Stingray mit Flatwound-Saiten. Letzterer war sicher der Bass, den man auf den meisten Hits von Chic, Sister Sledge und auch auf dem Album „Diana“ hören kann. Charakteristisch für dieses Instrument ist sein knurriger Sound mit sehr drückenden Tiefmitten, dezentem Low End und milden Höhen.
Die Bassline zu „I’m Coming Out“ spielt Bernard mit Fingern auf besagten Bass, im Pre-Chorus wechselt er zu seinem berühmten Finger-Pick. Dabei presst er Daumen und Zeigefinger der Anschlagshand zusammen und nutzt diese als Ersatz für ein Plektrum. Vor allem für perkussive Passagen eignet sich diese Technik hervorragend – man muss nämlich nicht erst hektisch zu einem Plektrum greifen!
In Sachen Amps vertraute Bernard Edwards wie nahezu jeder Bassist in dieser Zeit der Marke Ampeg. Die Aufnahme klingt mir aber eher nach dem direkten Weg ins Pult als nach einem Amp mitsamt mikrofonierter Box. Doch hier mag ich mich auch täuschen – wer nähere Infos hat, teile sie bitte in den Kommentaren mit. Wichtiger ist jedoch sicherlich die Kombination aus Stingray, geschliffenen Saiten und Fingerstyle bzw. Finger-Pick.
„I’m Coming Out“ – Transkription
Hier findet ihr die Noten, TABs und das von mir eingespielte Klangbeispiel – have fun!
Viel Spaß und bis zum nächsten Mal, euer Thomas Meinlschmidt