Heute denkt man bei elektronischen Musikinstrumenten vor allem an Synthesizer. Aber schon lange bevor es soweit war, erdachten Tüftler auf der ganzen Welt eine ganze Reihe elektrischer und elektronischer Instrumente. Damit begründeten sie eine lange Geschichte, die später die Synthesizer von Bob Moog, Donald Buchla und anderen möglich machte, ganze musikalische Epochen, Stile und Genres hervorbrachte und noch lange nicht zu Ende geschrieben ist. In unserer Reihe Musik und Strom – die Geschichte der Musikelektronik könnt ihr in die Welt der frühen elektronischen Musikinstrumente eintauchen und die Entwicklung vom Clavessin électrique und Telharmonium bis hin zu den heutigen Synthesizern nachlesen. In Folge 1 fangen wir ganz am Anfang an – bei einem Pariser Jesuitenpater im Jahr 1759.
1759 – Das Clavessin électrique
Jean-Baptiste Delaborde war katholischer Priester und Erfinder. Er erfand das erste Musikinstrument, das in irgendeiner Form Elektrizität verwendete, das Clavessin électrique (oder Clavecin électrique). Ob das jetzt 1759 oder 1760 war und wie der Erfinder genau hieß, weiß man alles nicht so genau. Aber weil das „elektrische Cembalo“ und alle erhaltenen Unterlagen in der französischen Nationalbibliothek stehen, konnte man rekonstruieren, wie das Clavessin électrique funktioniert hat.
Das „elektrische“ am Clavessin électrique war die Klaviatur, die zwei Oktaven umfasste: Durch Reibung entstand elektrischer Strom, der kleine Hämmer in Bewegung setzte. Die Hämmer schlugen dann auf kleine Glocken. Das Instrument war also eigentlich ein Glockenspiel, das mithilfe der Elektrizität bedient wurde.
Streng genommen hat Jean-Baptiste Delaborde damit nicht die elektrische Klangerzeugung erfunden (die Glöckchen erzeugten den Klang ja auf eine herkömmliche, akustische Weise), sondern das erste elektrische Interface – also eine Schnittstelle zwischen Mensch und Maschine, die auf elektrischem Wege funktionierte. Bis elektrische Spannung in Schall umgesetzt werden konnte (und andersherum), vergingen noch mal 100 Jahre – das passierte erst bei der Erfindung des Telefons um 1860, quasi nebenbei. Manchmal wird behauptet, dass das erste elektrische Instrument das Denis d’or eines gewissen Procopius Diviß aus dem Jahr 1730 gewesen sein soll. Dabei handelt es sich aber eher um eine Art monströses Klavier mit 790 Saiten, das als besonderen Spaß dem Spieler manchmal einen kleinen elektrischen Schlag versetzte. Tja, so war das in Barock und Rokoko – Spiel und Spaß mit Elektrizität!
1876/1877 – Telefon und Phonograph
Mikrofon, Lautsprecher, Verstärker, Oszilloskop
In den zwanzig Jahren, die von den ersten Versuchen bis zur Marktreife von Telefon (1876) und Plattenspieler (1877) vergingen, wurden viele grundlegende Erfindungen gemacht, die elektronische Musik überhaupt ermöglichen.
Für dich ausgesucht
Als im März 1857 der Franzose Édouard-Léon Scott de Martinville das erste Mal eine Tonaufzeichnung machte, hatte er gar nicht vor, seine Aufnahme wieder abzuspielen. Er interessierte sich lediglich für die Visualisierung von Klang und schaffte es, die Schwingungen einer Membran mit einer Schweineborste auf eine rußgeschwärzte Platte zu kratzen. Damit hatte er den Oszillographen erfunden. Diese allererste Aufnahme der Geschichte kann man übrigens unter www.firstsounds.org anhören.
Wer das Telefon erfunden hat, ist bis heute umstritten. Entscheidend für die weitere Entwicklung der elektronischen Musikinstrumente ist, dass damit gleichzeitig Mikrofon, Lautsprecher und Verstärker erfunden wurden – im Hörer und in der Sprechmuschel. Dazu muss man wissen, dass Mikrofon und Lautsprecher im Prinzip das gleiche sind, nur anders herum. Im Mikrofon wird Schall über eine Membran und einen elektrischen Leiter in elektrische Spannung umgewandelt, im Lautsprecher passiert das Ganze in entgegengesetzter Richtung. Mikrofon und Lautsprecher sind also beides Schallwandler. Jetzt noch ein Kupferkabel dazwischen, und schon kann man Klang übertragen.
Da die Spannung in dem Kupferkabel aber so gering ist, dass sie nicht in der Lage ist, eine Lautsprecher-Membran zu bewegen, muss das Signal verstärkt werden. Bevor das Signal also in den Lautsprecher gelangt, geht es erst noch durch einen Verstärker. Allerdings darf man diese frühesten Verstärker nicht mit den heutigen elektrischen Verstärkern vergleichen, die gibt es erst seit 1920. Aber für einen Telefonhörer hat’s gereicht.
Exkurs: Schallplatte, Oszilloskop und Oszillograph
Das Prinzip der Schallplatte ist einfach, aber die technische Umsetzung ist ziemlich schwierig. Wie beim Telefon wird Schall in ein elektrisches Signal umgewandelt. Dieses Signal wird dann aber nicht über Kabel an einen anderen Ort geleitet, sondern mit einer Nadel auf einen Untergrund übertragen. 1857 waren das noch Schweineborste und Rußwalze, später Wachs und Schellack.
Erst 1948 wurde die Vinylschallplatte erfunden, die von einer Diamantnadel abgetastet wird. Die Bewegung der Nadel in der Rille entspricht dabei genau dem, was man in einem Oszilloskop sehen kann, allerdings um 90° gedreht. Je weiter die Nadel innerhalb der Rille horizontal ausgelenkt wird, desto lauter ist die Musik. Das Oszilloskop stellt die Schwingung visuell dar, wobei die Lautstärke an der Y-Achse gemessen wird, also vertikal. Würde die Schallplattennadel mit Tinte auf einem Blatt Papier schreiben, könnten wir das gleiche Bild sehen wie auf dem Oszilloskop.
Der Unterschied zwischen einem Oszilloskop und einem Oszillographen besteht darin, dass der Oszillograph das ganze Stück abbildet, das Oszilloskop dagegen nur einen Bruchteil davon, nämlich eine Momentaufnahme der Schwingung. Wenn man ein Instrument bauen könnte, das in der Lage wäre, genau das zu spielen, was man auf dem Oszilloskop sieht, dann könnte dieses Instrument alles spielen, was man aufnehmen kann: ein Orchesterstück von Tschaikowsky, ein Dampfschiff, das Brusttrommeln eines Gorillas… Aber keine Sorge, es dauert nur noch 100 Jahre bis zur Entwicklung des Fairlight CMI.
1876 – Der Musical Telegraph (Oszillator)
Im Streit, wer denn nun das Telefon erfunden hat, gibt es einen großen Verlierer, und das ist Elisha Gray. Ob der nun früher oder später als Graham Bell beim Patentamt war – egal, Bell war am Ende der Erfinder der Gelddruckmaschine Telefon (und die Bell Laboratories werden uns 1957 wieder begegnen). Elisha Gray ging aber wenigstens in die Musikgeschichte ein, weil er zufällig (!) entdeckte, wie er den Klang einer selbstschwingenden elektronischen Schaltung kontrollieren konnte. Weil aber eine selbstschwingende elektronische Schaltung nichts anderes ist als ein Oszillator, hat Gray damit die elektrische Klangerzeugung erfunden.
Eigentlich war Gray auf der Suche nach einem Verfahren, wie man über eine Leitung mehr Nachrichten als mit dem bisherigen, monofonen Morse-Telegraphen senden konnte. So entwickelte er erstmal einen achttönigen Telegraphen. Schließlich baute er das Ganze auf 24 Töne aus, setzte eine Klaviertastatur davor und später auch noch einen passenden Lautsprecher dazu. Dann nannte er das ganze „Musical Telegraph“, ging damit auf Tournee und spielte 1877 das wohl erste Konzert mit elektronischer Musik überhaupt.
1897 – Das Telharmonium
Um das 200 Tonnen schwere Telharmonium von Thaddeus Cahill zu transportieren waren 30 Eisenbahnwaggons nötig – ein unschlagbarer Rekord. Aber die drei zwischen 1897 und 1911 konstruierten Instrumente waren nicht nur monumental, sondern auch genial. Die Tonerzeugung war so flexibel, dass erst Instrumente der 1950er Jahre mithalten konnten. Die Manuale umfassten sieben Oktaven, wobei jede Oktave in 36 Töne unterteilt wurde, die von 40-4000 Hz gestimmt werden konnten. Das Instrument wurde üblicherweise von zwei Spielern vierhändig gespielt und war in reiner Intonation gestimmt.
Das Telharmonium arbeitete mit Rotoren und Zahnrädern, weshalb es auch Dynamophon genannt wird. Die Anzahl der Zähne und die Rotationsgeschwindigkeit bestimmten dabei die Tonhöhe. Da der elektrische Verstärker noch nicht erfunden war, musste das Instrument die ganze Leistung selbst erzeugen – jeder der Tongeneratoren war ein kompletter Stromgenerator. Aus diesem Grund gab es zu der allein schon riesigen Konsole einen noch viel riesigeren Unterbau.
Einerseits war das Telharmonium ein Erfolg, denn die Konzerte in der Telharmonium Hall in New York City waren ein einzigartiges Spektakel. Es gab aber auch viele Probleme, welche die weitreichenden Ziele von Cahill und seiner ‘New England Electric Music Company’ zunichte machten. So sollte ‘Telharmony’ über das Telefon in Hotels, Restaurants, Theater und auch Privathäuser übertragen werden. Die Telefonleitungen waren aber noch nicht abgeschirmt genug und es gab Beschwerden, dass man immer Musik hören musste, wenn man telefonierte. Außerdem wurden das Radio und der elektrische Verstärker erfunden und machten dem Telharmonium seinen Rang streitig. Und nicht zuletzt war das Telharmonium sehr schwer zu spielen, denn die Pianisten kamen mit der 36-tönigen Oktave nicht klar.
Warum 36 Töne pro Oktave? Das Problem des Telharmoniums war, dass die Rotoren nur „reine“ Töne ohne Obertöne produzieren konnten. Töne ohne Obertöne heißen Sinustöne, kommen in der Natur nicht vor und die meisten Leute finden sie auch nicht besonders schön. Sie hören sich sehr matt an und können sich klanglich nicht verändern. Das kann man nur, wenn man sie stapelt, also durch Additive Synthese. Das Telharmonium hatte eine Tastatur mit 36 Tönen pro Oktave, damit man künstlich Obertöne hinzufügen konnte. Blöd nur, dass die Pianisten nicht gewohnt waren, mit dreimal so vielen Tasten wie normal zu arbeiten und deshalb ständig falsch spielten. Es gab ein Problem in der Klangerzeugung, das durch ein kompliziertes Interface gelöst werden sollte.
Dem Telharmonium machten aber auch andere technische Probleme das Leben schwer: Die elektrische Spannung der Generatoren fiel häufiger ab. So konnte es passieren, dass alles plötzlich viel leiser klang, sobald eine neue Stimme dazugeschaltet wurde. Tja, und dazu kam dann noch der Ärger mit den übersprechenden Telefonleitungen. Es gibt die Geschichte, dass ein wütender Geschäftsmann in die Telharmonium-Hall stürmte und Teile des Instruments in den Hudson River warf, weil er bei seinen telefonischen Verhandlungen immer durch die Musik aus dem Telharmonium gestört wurde.
1916 war es dann zu Ende mit dem Telharmonium. Aber es war ein großer Schritt in die Zukunft, denn die Technik wurde weiterentwickelt und es entstanden später bessere Instrumente daraus. Zum Beispiel fand sich das gleiche Prinzip Anfang der 1930er Jahre in der Hammond-Orgel wieder. Und Musik über’s Telefon gab es noch lange Jahre in vielen großen Städten.
In der nächsten Folge unserer Reihe zur Geschichte der Musikelektronik geht es um einen gewissen Jean Baptiste Joseph Fourier. Der war mit Napoleon in Ägypten, legte in Frankreich Sümpfe trocken und erfand nebenbei auch noch die Fourieranalyse.