Das Vocal-Recording gilt als eine der Königsdisziplinen beim Aufnehmen. Schließlich handelt es sich bei der Stimme um eine Schallquelle, die wir in all ihren Facetten sehr gut kennen.
Und auch die hoffentlich zahlreichen Konsumenten, die letztlich unsere Aufnahmen hören werden, verfügen in dieser Hinsicht über eine enorme Erfahrung, denn jeder von uns hat in seinem Leben in der Regel bestimmt einige Tausend Stimmen gehört, und viele davon singend. Machen wir im Studio oder beim Homerecording von Vocals also etwas falsch, bleibt das kaum unentdeckt. Und ist das wichtigste Signal einer Mischung nicht optimal, kann der Rest noch so toll sein, aber er wird den Gesamteindruck nicht retten können.
Im Zusammenhang mit der Stimme gibt es ein grundsätzliches Problem, das gleichzeitig aber auch eine ganz besondere und durchaus positive Eigenschaft ist: Wie sich ein Mensch fühlt, spiegelt sich sehr schnell in seiner Stimme wieder. Jeder kennt wohl die Situation, dass sich das Gegenüber am Telefon nur mit seinem Namen meldet und man unmittelbar das Gefühl hat, dass mit ihm irgend etwas nicht in Ordnung ist:“Was ist mit dir denn los? Traurig? Was getrunken? Beides?“. Einen verunsicherten oder wütenden Sänger braucht man nicht vor dem Mikrofon, es sei denn, der Song verlangt eine verunsicherte oder wütende Stimme.
Fehler 1: Ihr betrachtet den Sänger als reine Schallquelle
So albern es klingen mag, aber diesen Fehler machen vor allem Anfänger recht häufig: Ihr seid schwer damit beschäftigt, alles richtig zu verkabeln, zu pegeln, in der DAW alles korrekt einzustellen und im Blick zu haben, beherzigt Tipps aus Workshops, hört natürlich auf die Stimme – und vergesst, dass da ja ein Mensch steht und keine Jukebox. Fragt euch einfach, wie ihr euch fühlen würdet, wenn jemand um euch herum extrem beschäftigt ist, euch keines Blickes würdigt und das erste Wort nach zehn Minuten aus den Kopfhörern „Sing’ mal was!“ lautet. Uncool, oder? Kommunikation heißt also das Zauberwort, aber dabei solltet ihr nicht den folgenden Fehler begehen:
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Fehler 2: Ihr verunsichert den Sänger mit unnötigen Technik-Informationen
Vor dem Mikrofon soll der Sänger sich auf seinen Job konzentrieren. Deshalb wird er sich in der Regel auch nicht für die neuen tollen Plug-Ins interessieren oder dafür, dass der Preamp auf einer Schaltung beruht, die vor allem im Broadcast eingesetzt wird und ihr den Entwickler des Kompressors persönlich auf der NAMM getroffen habt. Labert ihn nicht zu, sondern spart euch das für den nächsten Gear-Talk mit anderen Recording-Nerds auf. Auch wenn es manchen schwer fällt zu glauben: Der Sänger vor dem Mikrofon möchte das eigentlich alles nicht wissen. Euch interessiert es ja wahrscheinlich auch nicht, welche Technik dafür sorgt, dass ihr bei bonedo diesen Text hier lesen könnt. Redet lieber über Musik.
Fehler 3: Ihr hört die Vocal-Linie beim Pegeln das erste Mal
Wenn ihr kein Demo hattet oder die Datei über den Dropbox-Link der Band aus Zeitmangel nicht heruntergeladen habt – mit Verlaub, ein Riesenfehler – lasst euch zumindest beim Recording der anderen Instrumente vom Sänger vorsingen und erklären, was da kommen wird. Das wird auch schon für die Aufnahme des Playbacks hilfreich sein. Denn nicht selten wird dann erst klar, dass es keine gute Idee war, dem Gitarristen diese „hektischen und irgendwie zusammenhangslosen Arpeggien“ auszureden – obwohl diese vielleicht grandios die Phrasierung der Vocals unterfüttert hätten.
Fehler 4: Ihr interessiert euch nicht dafür, wovon der Text handelt
Vielleicht geht es um die große verflossene Liebe, um Weltschmerz oder um die überfahrene Katze. Vielleicht handelt der Text aber auch eher sinnbefreit von den kleinen Senfkörnern im Gurkenglas. Wie dem auch sei: Hört hin, alles andere wäre Ignoranz. Nur wenn ihr den Text hört und versteht, könnt ihr ein Gefühl dafür bekommen, was er dem Vokalisten, der ihn möglicherweise geschrieben hat, bedeutet. Und auch wenn er nicht auf Deutsch ist, könnt ihr vielleicht den einen oder anderen Fehler aufdecken. Die Welt ist voll von „Ich bin zumindestens voll heiß am Rappen am sein.“ oder „Quand est le grand chef? Je!“. Zugegeben, manchmal bekommt man Hornhaut auf der Unterlippe, weil man sich verzweifelt auf Letztere beißt, um sich das Lachen zu verkneifen. Und der sprachlich entzauberte Rapper, der nach dem Hinweis, dass „precious“ nicht „prischiuus“ ausgesprochen wird, am liebsten im Boden versinken würde, performt vielleicht nicht mehr so, wie es der Track eigentlich bräuchte.
Fehler 5: Ihr wisst alles besser und sprecht dem Sänger seine Wünsche ab
„Du willst also ganz im Dunkeln singen? Im Sitzen? Und dabei ein Fußbad in Magerquark nehmen? Nix da!“ Es gibt tatsächlich kuriose Wünsche, aber wenn der Vokalist eröffnet, dass er in der Gesangskabine nicht aufnehmen möchte, weil es ihm dort zu eng und ungemütlich ist, dann wird er sich a) überredet und b) unwohl fühlen, wenn er letztlich doch dort singen muss. Also lasst es. Wie aber sieht es bei einer Live-Session aus? Dann müsst ihr abwägen und im Zweifel eine passende Richtcharakteristik finden, die den Rest der Band weitestgehend ausblendet. Oder ihr drückt dem Sänger einfach ein Bühnenmikrofon in die Hand und lasst ihn damit arbeiten. Wenn das Ergebnis es schafft, den Spirit in ein Audiofile zu packen, kann man über manchen Mangel hinwegsehen. Denn es ist allemal besser, am Ende vor einem lebendigen und emotionalen Ergebnis zu sitzen, das vielleicht noch etwas Editierarbeit benötigt, als vor einem technisch guten, aber leblosen Take.
Fehler 6: Ihr erfüllt dem Sänger jeden Wunsch
Ja, richtig gelesen, dieser Fehler ist genau das Gegenteil von Fehler 5. Vielleich hat der Sänger gelesen, dass ein Neumann ein ganz tolles Mikrofon ist. Dann wird ihn der Einwand, euer dunkles TLM 67 sei für das Vorhaben genau die falsche Wahl, unter Umständen nicht interessieren. Und sich selbst hätte er gerne noch lauter auf dem Kopfhörer. Und Klick, obwohl die Drums zu hören sind. Und, ach ja: Die Gitarren müssten lauter. Und die Keyboards. Und der Hall auf seiner Stimme. Nein, mehr … Also: Es gibt einen Punkt, an dem ihr dem oder den Protagonisten mit einer ordentlichen Portion Feingefühl sagen müsst, dass ihr bestimmten Wünschen nicht nachkommen könnt. Dabei solltet ihr darauf achten, wer dabei ist und euch zuhört. Denn schnell fürchten sich die Angesprochenen in einem solchen Moment vor einem Gesichtsverlust, vor allem, wenn sie kurz vorher noch mit ihren Fähigkeiten und Kenntnissen vor den Bandkollegen geprahlt haben. Von dem benötigten Feingefühl besorgt ihr euch möglichst eine große Familienpackung, denn davon könnt ihr nicht genug auf Vorrat haben. Und Nerven, die braucht ihr natürlich auch.
Fehler 7: Ihr stellt den Sänger vor das teuerste Mikrofon
3500 Euro habt ihr euch vom Munde abgespart für das edle, riesige Röhrenmikro, das nach langer, langer Zeit die Übergangslösung ersetzt und stellt es voller Stolz vor den Sänger. Nichts gegen teure Röhrenmikrofone, im Gegenteil, auch wird es vielleicht sogar klanglich eine gute Lösung sein. Doch man sollte die Wirkung dieser Dinger nicht vergessen: Ein Monstrum, das geradezu bedrohlich von einem riesigen Ausleger herabhängt, mit rückwärtigem Mic, Poppfilter und sonstigem Kram bestückt, kann eher einschüchtern als zum Einsingen ermuntern – was erneut für ein einfaches Bühnenmikrofon sprechen kann. Oder die umgekehrte Situation: Selbst wenn ein Kleinmembran-Stäbchen die klanglich beste Lösung sein sollte, wird sich manch ein Sänger unter Umständen veralbert vorkommen oder sogar unwichtig, weil er in ein „Spielzeugmikrofon“ singen soll. Ob der Markenname darauf Schoeps oder DPA lautet, wird ihn dabei nicht interessieren – siehe Fehler 2.