Der heutige, achte Workshop unserer kleinen Serie „Legendäre Drummer – Legendäre Grooves“ führt uns nach England, genauer gesagt nach Bristol. Bristol ist bzw. war die Hauptstadt des sogenannten TripHop, jener psychedelischen Spielart der elektronischen Musik, die in den 1990er Jahren mit Bands wie Massive Attack, Tricky (beide aus dem Kollektiv „The Wild Bunch“ enstanden), Morcheeba, Lamb, Nighmares On Wax u.a. die Musikszene prägte und in bis dato unbekannte Sphären von Drogenrausch-geschwängerten, leicht depressiven Sounds und Mid- und Slow-Tempo Beats vorstieß.
Was viele nicht wissen, ist, dass im TripHop auch durchaus echte Drums bei den Produktionen eingesetzt wurden, auch wenn diese im Endprodukt meist in Loop-Form oder als Samples zu finden sind. Der Drummer, den ich heute vorstellen möchte, hat im Laufe der Jahre auch mit einigen Bands der Bristol TripHop-Szene gearbeitet, seit einigen Jahren und bis heute ist er der zweite, ergänzende Live-Drummer von Radiohead: Clive Deamer.
Eine der zweifellos bahnbrechendsten Combos dieser Szene sind Portishead, die ihre Band nach dem Namen einer Kleinstadt nahe Bristol, aus der sie stammen, benannt haben. Ihr 1994 erschienenes Debut-Album „Dummy“ kann getrost als Meilenstein der Popmusik-Geschichte bezeichnet werden; bis heute gibt es keinen Künstler oder Act, der so klingt wie das Trio um Sängerin Beth Gibbons, Sample-Wizard Geoff Barrow und Gitarrist Adrain Utley. Im Studio (und vor allem live) wurde das Personal unter anderem um Drummer Clive Deamer erweitert, der mit seinen reduzierten, präzisen, nahezu stoischen Beats entscheidenden Anteil am Gesamtbild von Portishead hat. Der Song, den ich herausgesucht habe, heißt „Glory Box“ (Album „Dummy“) und basiert auf einem Track von Isaac Hayes aus dem Jahre 1971: Ike’s Rap 2 (Album „Black Moses“).
Video: Isaac Hayes, „Ike’s Rap 2“ , from Album Black Moses, 1971
(Originale Sample-Quelle für „Glory Box“, und weitere)
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Mehr InformationenWorkshop
Schauen wir uns im Workshop nun genauer an, was Clive bei „Glory Box“ getrommelt hat. „Glory Box“ kommt in sehr entspannten 60 bpm daher, das Feel ist sechzehntelig, leicht angeshuffled und bekommt so einen Jazz-HipHop-Touch, der durch das tight gestimmte Kit noch unterstützt wird. Deamer hat den Viertakter auffallend soft eingespielt, was den Beat, bei entsprechender Aussteuerung der Drums, besonders knackig, fast artifiziell und gesampled wirken lässt. Die Snare ist hoch gestimmt, die beiden Toms sind super trocken (ich würde vermuten, sie wurden mit Tüchern o.ä. gedämpft).
Interessant ist auch, dass die Kick-Figur nicht dem prägenden, achteligen Bass folgt, sondern diesen – bis auf die sehr leisen Noten auf der „4+“ in Takt 1 und 3 – mit Sechzehntel-Noten umspielt. So grooved das Ding schwer und den Bass komplementierend vor sich hin. Ebenfalls wichtig für das besondere Feel des Grooves ist die stoische, HipHop-typische Achtel-Hi-Hat. Besonderes Augenmerk liegt dann noch auf den im zweiten und vierten Takt variierenden Snare-Synkopen, die wie eine clevere, eigenständige Komposition der Drums wirken. Jeweils auf der letzten Sechzehntel-Position der Takte 2 und 4 rundet eine leise gespielte „Rolle“ auf den beiden Toms in drei 32tel Noten (RLR), gefolgt von einer Kick-Note auf der folgenden „Eins“, die Beat-Abschnitte ab.
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Dieses viertaktige Pattern wiederholt sich unverändert auch in der ersten Strophe, welche allerdings insgesamt nur sechs Takte lang ist, sodass das Muster hier quasi eineinhalb mal gespielt wird.
Von hier aus geht es in den ersten Chorus von „Glory Box“. Interessanterweise hat man sich entschieden, den viertaktigen Refrain mit vertauschten Takten in Sachen Drum Pattern zu versehen; will heißen, wenn das Verse-Muster aus den Takten 1, 2, 3 und 4 besteht, nutzt der erste Chorus die Takt-Reihenfolge 1, 4, 3 und 2. Anders gesagt, die Takte mit den „melodiösen“ Snare-Synkopen wurden einfach gegeneinander getauscht. Ein effektiver „Trick“, um ein Gefühl von ständiger Veränderung und Bewegung im Fluss des Songs zu erzielen, ohne jedoch die grundsätzlichen Bausteine des Beats zu verändern.
Dieselbe Takt-Reihenfolge findet sich dann auch im ebenfalls viertaktigen Chorus-Appendix (oder Post Chorus)…
… und zieht sich weiter durch den wiederum sechstaktigen zweiten Verse,…
… um dann, im folgenden, ebenfalls viertakigen zweiten Chorus ohne erneute Vertauschung weiterzulaufen. Somit unterscheiden sich die Chorus-Beats jeweils quasi „spiegelverkehrt“ voneinander. Schaut euch am besten das Notenbild an, dann seht ihr es deutlich.
Das Muster läuft dann auch im zweiten Chorus Appendix unverändert weiter, der somit ebenfalls – verglichen mit seinem „Gegenstück“ aus Runde 1 – vertauscht wurde.
Ich bin nicht sicher, ob man Clive Deamer bei den Aufnahmen einfach gebeten hat, den Viertakter lediglich einmal sauber einzuspielen, um dann Loops aus seinem Beat zu basteln und diese schließlich in den verschiedenen Anordnungen zusammengeschnitten hat (da der Groove außer der Hi-Hat keine Becken enthält, wäre dies auch zu dieser prä-Computer-Produktions-Zeit keine allzu aufwändige Herangehensweise gewesen), oder ob Clive den ganzen Track mit dieser Vorgabe live weggetrommelt hat. Dass er durchaus in der Lage wäre, das gewünschte Sample-hafte Feel auch über die gesamte Länge des Songs zu spielen, steht für mich außer Frage, schließlich ist diese besondere Fähigkeit eines von Deamers beeindruckenden Hauptmerkmalen als Drummer.
Das nun folgende betörende, achttaktige Gitarrensolo von Adrian Utley unterlegt Clive Deamer mit zwei Runden der ursprünglichen Beat-Variante (1, 2, 3, 4),…
… und auch im dann kommenden Outro des Gitarrensolos, welches man auch als Bridge bezeichnen könnte, bleibt er ohne weiteren Dreher bei diesem Muster.
Ich finde diese Art der Drum-Komposition durch Vertauschen gegebener Groove- Bausteine total interessant und wirkungsvoll. Dadurch entsteht eben ein zunächst etwas verwirrender Eindruck von Groove-Patterns, die es zu durchblicken für mich schon ein paar Minuten der Analyse bedurfte.
Live Video: Glory Box, Live @ Roseland, NYC, 1997
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Mehr InformationenAuf der äußerst sehenswerten Live-DVD „Portishead – Roseland NYC“ aus dem Jahre 1997 spielt das Trio, neben vielen anderen Perlen ihres Schaffens, auch den umjubelten Song „Glory Box“, personell erweitert um eben Clive Deamer an den Drums, Jim Barr am Bass, John Baggot (Keys und Piano), Andy Smith (additional Decks), Andy Hague (Trompete) sowie das New York Philharmonic Orchestra.
In der Live-Version beschränkt sich Deamer auf eine zweitaktige Variante des Schlagzeug-Patterns, dafür spielt er aber grundsätzlich etwas freier, erlaubt sich sogar einige wenige geschmackvolle Fills und bringt durch den Einsatz seines Ride-Beckens in den Refrains und im Gitarrensolo eine weitere Farbe ins Spiel. In Verbindung mit der gewaltigen Power des fantastisch agierenden Orchesters ist so eine unvergessliche Version des Songs entstanden.
Auf YouTube findet sich erfreulicherweise auch ein kompletter Mitschnitt des Roseland-Ballroom-Konzertes. Ein Glas Wein dazu, und ein Konzerterlebnis der absoluten Extraklasse ist garantiert!
Hier habe ich euch zum besseren Verständnis nochmal eine kleine Demo-Aufnahme des Tom-Licks aufgenommen, mit dem Clive die Takte 2 und 4 des Patterns abschließt.
Zum Schluss noch ein kurzes Demo, welches die ternäre Subdivision überspitzt darzustellen versucht, die für das leicht swingende Feel des Grooves verantwortlich ist.
Clive Deamers Arbeit mit Portishead beleuchtet einen Bereich des Schlagzeugspiels, der gerne unterschätzt wird. Reduziertes, aber ungeheuer präzises, geschmackvolles und songdienliches Drumming stehen bei ihm ebenso im Vordergrund wie Sound-Design am Kit. Wahrlich meisterhaft umgesetzt und die Seele berührend.
Ich erinnere mich immer wieder gerne an mein persönliches Erlebnis mit Portishead, seinerzeit – Mitte der Neunziger – im Kölner „Gloria“. Eine der großartigsten Shows, die ich je besucht habe. Das Wunder der Musik. Legendär.
Viel Spaß beim Auschecken wünscht Euch
Harry Bum Tschak
Alle Noten findet ihr hier zum download: