Im heutigen Kapitel soll es um einen Akkordtypus gehen, der in Folge 3 zwar kurz angerissen wurde, dem wir aber zum damaligen Zeitpunkt keine weitere Beachtung geschenkt haben – dem verminderten Akkord.
WORKSHOP
Verminderte bzw. auf neudeutsch “diminished” Akkorde werden uns – im Gegensatz zum Jazz – in der Popmusik zwar eher seltener begegnen, dennoch findet man sie in einigen Stücken, und viele wissen dann nicht, wie sie mit diesem unbekannten Wesen umgehen sollen. Und genau dem wollen wir heute abhelfen. Vielleicht regt ja auch der etwas ungewöhnliche und seltener anzutreffende Klang den einen oder anderen unter euch dazu an, neue kompositorische Wege zu beschreiten, wer weiß.
Zunächst müssen wir ein paar Begriffe klären und voneinander trennen, die immer wieder für Verwirrung sorgen. Man unterscheidet zwischen dem verminderten Dreiklang, dem verminderten Vierklang und dem halbverminderten Vierklang. Der verminderte Dreiklang ist ein Akkord, der aus zwei kleinen Terzen besteht, also Grundton, kleine Terz und verminderte Quinte. Das ist bei den beiden anderen Akkorden auch der Fall, aber der verminderte Vierklang hat jetzt als vierten Ton eine verminderte Septime (die enharmonisch verwechselt einer großen Sexte entsprechen würde), wohingegen der halbverminderte Vierklang eine kleine Septime als vierten Ton besitzt.
Im Notenbild stellt sich das folgendermaßen dar:
An dieser Stelle möchte ich auch noch einmal auf die verschiedenen Bezeichnungsmöglichkeiten der verminderten Drei- und Vierklänge hinweisen: z.B.
Für dich ausgesucht
Cdim C als verminderter Vierklang: Cο
Cdim, Cο7, Cdim7
Ihr könnt sehen, dass manche Bezifferungen nicht ganz eindeutig sind, da hilft nur Zuhören oder aus dem Gesamtzusammenhang erschließen. Wenn das ganze Stück aus Vierklängen besteht, ist es eher unwahrscheinlich, dass ein Cο für den Dreiklang steht. Aber abgesehen davon solltet ihr zuerst einmal den Dreiklang probieren, der ja ohnehin im Vierklang enthalten ist. Dann könnt ihr schauen, ob der Vierklang nicht vielleicht auch passt!
In unserem Exkurs wollen wir uns heute aber auf den verminderten Dreiklang und den verminderten Vierklang (der übrigens auch gerne “vollvermindert” genannt wird, im Gegensatz zu “halbvermindert”) beschränken.
Der verminderte Dreiklang begegnet uns zumindest indirekt sehr häufig. Betrachten wir einen Dominantseptakkord, in diesem Beispiel G7, und denken uns den Grundton weg:
Was ihr sehen könnt, ist ein astreiner Bdim-Dreiklang, was bedeutet, dass in jedem Dominantseptakkord ein diminished Triad versteckt ist. Das können wir uns beim Begleiten von Songs zunutze machen, denn manchmal ist die Rhythmsection in einer Band so vollgestopft, dass grundtonlose oder reduzierte Akkordvoicings viel besser passen, da sie eine schlankere Figur abgeben und immer eine Lücke finden.
Verminderte Dreiklänge hört man auch sehr häufig im Blues – klar, der (Dur-) Blues besteht ja auch ausschließlich aus Dominantseptakkorden. Betrachten wir einen Blues in G, so begegnen uns folgende Akkorde: G7 als Tonika, C7 als Subdominante und D7 als Dominante. Streichen wir bei allen Vierklängen den Grundton heraus, landen wir bei: Bdim, Edim und F#dim.
Demnach könnte eine Bluesbegleitung folgendermaßen aussehen …
… und so klingen:
Hier das Playback, in dem ihr euch mit den verminderten Dreiklängen und deren Umkehrungen austoben könnt.
Doch nicht nur in der Begleitung der Bluesform, sondern auch bei den typischen Bluesintros, – endings und Akkordübergängen begegnen uns die verminderten Dreiklänge. Ein typisches Introklischee wäre z.B.
G7 – Gο7 – Gbο7 – G7(/F):
Allerdings werden in der Praxis die Grundtöne gerne weggelassen, und was bleibt, ist:
Ihr seht, dass der verminderte Dreiklang sowohl in den Dominantseptakkorden als auch in den vollverminderten Akkorden zum Tragen kommt. Und so klingt das dann:
Betrachten wir nun den verminderten Vierklang etwas genauer:
Die Intervallstruktur ist:
Grundton – kleine Terz – verminderte Quinte – verminderte Septime
Eine kleine Anmerkung zur verminderten Septime: Hier haben wir es mit einer Note zu tun, die zwei b’s vorgezeichnet hat. Denn von C zu B ist es eine große Septime, von C zu Bb eine kleine und von C zu Bbb eine verminderte Septime. Rein technisch betrachtet ist das Bbb ein A, und in der Spielpraxis der Rock und Popmusik macht es auch keinen Unterschied. Wollen wir jedoch musiktheoretisch korrekt notieren, müssen wir diesen Ton Bbb nennen.
Eine Besonderheit dieses Akkord-Typs ist (wie in Folge III erwähnt), dass jeder Ton zum nächsten den Abstand einer kleinen Terz hat. Gehen wir von der höchsten Note wieder eine kleine Terz höher erhalten wir erneut den Grundton. Wegen dieses gleichmäßigen Aufbaus kann jeder Ton im verminderten Akkord auch der Grundton sein, und wenn wir ihn in Kleinterzschritten verschieben, erhalten wir quasi immer seine jeweilige Umkehrung. Das bedeutet für Pianisten, dass es immer die gleichen Töne in verschiedener Reihenfolge zu greifen gibt, und für Gitarristen oder Bassisten, dass es sich immer um das gleiche Griffbild handelt, das man einfach nur im Abstand einer kleinen Terz in den Lagen verschieben muss.
D.h. Co = Ebo = Gbo = Bbb o (entspricht Ao)
Eine andere Sichtweise auf die Intervallstruktur des verminderten Akkordes ist das Betrachten der zwei ineinander verschachtelten Tritoni (wir erinnern uns, der Tritonus ist das Intervall einer verminderten Quinte bzw. der übermäßigen Quarte), aus denen der Dim07 besteht – nämlich zwischen Grundton und Quinte (C und Gb) und Terz und verminderter Septime (Eb und Bbb).
Der Tritonus ist ein Intervall, das sich auflösen will, aus diesem Grund finden wir es auch in Dominantseptakkorden zwischen Terz und Septime. Da sich der Tritonus aber selbst umkehrt (z.B. von C nach Gb liegt genauso ein Tritonus, wie zwischen Gb und C), kann ein und derselbe Tritonus auch in zwei verschiedenen Akkorden enthalten sein (so enthält Ab7 den gleichen Tritonus wie D7 – nämlich Gb bzw. F# und C).
Was bedeutet das jetzt für verminderte Akkorde? Nun, wenn wir dort gleich zwei Tritoni haben, lassen sich aus einem verminderten Akkord auch vier mögliche Dominanten generieren.
Im Beispiel Cο7 (mit den Tönen C, Eb, Gb, Bbb) wären das D7, F7, B7 und Ab7 (wobei ich im unteren Notenbeispiel die Akkordtöne enharmonisch richtig notieren musste – aus Eb wurde D#, aus Gb wurde F#, aus Bbb wurde A, trotzdem lassen sich die Töne erkennen):
Wenn wir jetzt unsere Grundtöne D, F, B und Ab dazu ergänzen, erhalten wir vier verschiedene Dominantseptakkorde mit erniedrigter None, sogenannte Dom7/b9 Akkorde.
Das heißt, auch in diesem Fall ist es uns gelungen, die Dim07 Akkorde in Dominanten umzudeuten.
Als kleine Eselsbrücke können wir uns merken: Um einen 7/b9 Akkord zu erhalten, müssen wir einen 07 Akkord auf der b9, Terz, Quinte oder Septime des jeweiligen Grundtons spielen.
Beispiel: E/7b9 : Fο7, G#ο7, Bο7 oder Dο7
E ist der Grundton des zu erzeugenden 7b9 Akkords, F die b9, G# die große Terz, B die Quinte und D die kleine Septime.
Zugegebenermaßen ist das Ganze nicht ganz so leicht nachzuvollziehen, oft kann es aber helfen, sich komplexere Sachverhalte in der Praxis anzuschauen. Und genau das wollen wir jetzt tun:
Ihr sollt diese Akkordfolge spielen und dabei den E7b9 Akkord gemäß dem gerade gelernten Prinzip umsetzen:
II: Fmaj7 I G7 I E7/b9 I Am7 :II
Okay, ich kann also den E7 durch einen verminderten Vierklang ersetzen, aber mit welchem der vier eben vorgestellten, F, G#, B oder D? Nun, von den Tönen her betrachtet spielt es ja keine Rolle, wie wir festgestellt haben. Gehen wir das Ganze also von der musikalischen Seite her an: Unser E7 steht zwischen G7 und Am7, und was passt dort besser dazwischen als der Basston G#! Hören wir uns den Unterschied einmal an, erst mit E7/b9, dann mit G#07
Gerade in klassischen Kadenzen, aber auch in neoklassischer Rockmusik der 80er Jahre (man denke an Gitarristen wie Richie Blackmore, Randy Rhoads oder Yngwie Malmsteen, die ihre verminderten Arpeggioläufe über solche Akkorde auspackten), findet man sehr häufig ähnliche Zusammenhänge, in denen der verminderte Akkord sowohl melodisch als auch in der Harmonie zum Einsatz kommt.
Übrigens kann man so gut wie immer zwei ganztönig voneinander entfernte Akkorde mit einem verminderten Akkord verbinden:
z.B.: Cmaj7 – C#07 – Dm7 (der C#07 steht hier für einen A7/b9)
Das ist übrigens oft auch ein Grund, warum der Komponist sich für einen verminderten Akkord entscheidet, denn durch ihn können chromatische Basslinien entstehen, die in einem Stück immer sehr reizvoll klingen.
In Pop/Rockmusik findet man sehr häufig den Zustand von sich steigend auflösenden Dim07 Akkorden.
An dieser Stelle möchte ich euch nicht verheimlichen, dass man bei vielen Jazz- und Latinstandards auch noch den Zustand von fallenden Dim07 Akkorden (z.B. “Wave” von Jobim Dmaj7-Bb07-Am7) oder verminderte Akkorde auf identischem Grundton wie dem Zielakkord, sogenannte “Auxiliary Chords” (z.B. “Corcovado” von Jobim Gm7-C7-F07-Fmaj7), beobachten kann. Diese Akkorde erfüllen nicht zwangsläufig die Funktion einer Dominante. Mir ist bis dato allerdings noch kein Fall bekannt, wo diese spezielle Form ihren Einzug ins Rock/Popbiz geschafft hätte.
Betrachten wir einige Fälle aus dem Popalltag, in denen uns der vollverminderte Vierklang begegnet: Vor ein paar Jahren ist die Band “Maroon 5” mit diesem Song einem größeren Publikum bekannt geworden:
“This Love” von Maroon 5
Hier die Introchords:
Was ihr hier beobachten könnt, ist eine Akkordfolge in Cm, die Dominante des Cm ist G7 (b9). Diese kann wie oben bereits erklärt entweder durch Ab07, B07, D07 oder F07 ersetzt werden – und genau das geschieht hier. Jeder dim-Akkord fungiert als grundtonloser G7 Akkord.
Noch ein anderes Beispiel:
“God only knows”- von den Beach Boys, der Strophenteil:
Der verminderte Akkord steht vor einem E-Dur Akkord. Die Dominante von E wäre das B7 und auch hier erhalten wir einen C07 als Ersatz für diese Dominantfunktion.
Zum Abschluss noch ein Beispiel von Stevie Wonder:
“Love´s in need of love today”
Der Eο7 leitet zum Fm7, da er nichts anders ist als die verkürzte Form eines C7, der Dominante von F. Die Wahl fällt hier auf den E07, da dadurch eine wunderbare chromatische Basslinie Eb – E – F entstehen kann.
Ich hoffe, es ist mir geglückt, euch die Ohren zu öffnen für einen Akkord, den man nicht so häufig antrifft, aber dessen Sound jeder kennt. Vielleicht gelingt es euch auch in einer Eigenkomposition, die Möglichkeiten der verminderten Akkorde auszuschöpfen. Vielleicht stellt sich der eine oder andere von euch die Frage: “Und welche Skala spiele ich jetzt, wenn ich über diesen Akkordtyp improvisieren möchte?” Keine Angst! Eine Folge werde ich gesondert dem Skalenmaterial widmen, das über “außergewöhnlicheren” Akkorden zum Einsatz kommen kann. All jenen, die sich nicht gedulden können, sei gesagt: Werft nochmal einen Blick in die Folge “Harmonisch Moll” – doch das ist nur ein Bruchteil, und in einer der nächsten Folgen gibt es noch einiges dazu zu sagen.
Bis dahin alles Gute! Haiko
Hier, wie gehabt, noch ein paar Übungen zum Vertiefen des Gelernten:
- Aus welchen Tönen besteht Dο (Dreiklang), Dο7, Dm7/b5?
- Wie lauten die Tritoni in Fο7?
- Welche Dominantseptakkorde kann ein Fο7 repräsentieren?
- Bearbeite folgende Akkordfolge unter Einsatz eines ο7 Akkordes: II: Dm7 I Fmaj7 I Cadd9 I A7 :II