In unserer neuen Reihe “Mixen in der DAW” möchten wir uns den Besonderheiten von Audioproduktionen widmen, die nahezu vollständig “In the Box” (ITB) stattfinden. Auch wenn zahlreiche Software versucht, weitgehend Feel und Look von Outboard-Gear zu vermitteln, gibt es auf der einen Seite entscheidende Unterschiede für das Arbeiten in beiden “Welten” – und auf der anderen Seite sind manche Zusammenhänge doch wieder näher als gedacht.
Verschiedene Probleme und Verquickungen dieser Art werden wir deshalb praxisnah aufgreifen. Dabei ist keiner der vorgestellten Tipps als eisernes Gesetz oder auch nur als Richtlinie zu verstehen. Stattdessen soll ein Einblick in die besonderen Bedingungen von DAW-Produktionen vermittelt werden. Wenn dann noch Workflow und/oder Klangergebnis davon profitieren, optimal! Deshalb noch der ausdrückliche Hinweis: Bei den meisten Tipps ist es am besten, selbst auszuprobieren, wie sich das Arbeiten mit den vorgeschlagenen Hinweisen “anfühlt” und – vor allem natürlich – wie das Resultat klingt.
Das Problem – Eine Summe geringer Verzerrungen
Wir starten mit einer Folge über die Level- und Metering-Praxis von ITB-Produktionen. Der Titel „Big Picture Levels“ gibt bereits einen ersten Hinweis darauf, warum das wichtig sein könnte. Was sich auf den ersten Blick wenig spektakulär liest/anhört, wird in Internetforen heiß diskutiert und zieht dort etliche argumentative »Grabenkämpfe« nach sich. Wer in diese spannende Auseinandersetzung einsteigen möchte, wird zum Beispiel unter folgendem Link fündig: http://www.gearslutz.com/board/so-much-gear-so-little-time/463010-reason-most-itb-mixes-don-t-sound-good-analog-mixes-restored.html
Im Kern geht es bei dieser Diskussion darum, dass DAW-Produktionen aus dem Homerecordingbereich in etlichen Dimensionen oftmals weniger »groß« wirken als professionelle Studio-Produktionen. Das betrifft beispielsweise das Dynamikverhalten oder die empfundene »Räumlichkeit« und »Tiefe«. Aber auch die »klangliche Ausgewogenheit« der Signale im Frequenzbild oder die »Reinheit« von Signalen kann ins Auge bzw. »ins Ohr« fallen. Einer der Gründe: Nicht wenige solcher weniger gut klingender ITB-Produktionen addieren zahlreiche geringfügige Verzerrungen in den Einzelsignalen zu einem Klangbild, das für qualitätsverwöhnte HiFi-Ohren einfach nicht »sauber« und »teuer« genug klingt. Durch diese »platten« und »matten« Signale wirken die Ergebnisse dann nur wenig »plastisch« und klanglich einfach nicht »dreidimensional«. Eine Reihe subjektiver Eindrücke, die die wahrgenommene Soundqualität beachtlich beeinträchtigen können.
Um uns auf den Weg zu machen, zukünftig ein klanglich »großes Bild« zu zeichnen, schauen wir uns deshalb in dieser Folge zunächst eine spezielle Aussteuerungspraxis an: Gain Staging. Diese Arbeitstechnik ermöglicht es uns, zu einer exzellenten Signalqualität zu gelangen, die (optimalerweise) weitgehend frei von ungewollten Signalverzerrungen ist.
dB ist nicht dB
Doch bevor wir uns der praktischen Seite der »Big Picture Levels« widmen, sollten wir uns noch klar machen, was die zentralen Begriffe in den nachfolgenden Abschnitten überhaupt bedeuten. Dafür schlagen wir zunächst einen kleinen Pfad durch das Unterholz technischer Bezeichnungen und unterscheiden verschiedene Typen von Dezibel-Angaben (dB). Für die Diskussion um analoge und digitale Aussteuerungen konzentrieren wir uns dabei auf zwei Einheiten: Zum einen auf den Spannungspegel in dBu (Decibel unspecified) und zum anderen auf den digitalen Aussteuerungspegel in dBFS (Decibel Fullscale). Auf die Einheit dBu (manchmal auch dBVU) stößt man bei der Arbeit mit Outboard-Equipment. Auf die Einheit dBFS trifft man dagegen beim Metering mit digitalem Equipment, insbesondere in DAWs.
Den Technikfreaks unter euch wird bereits klar sein: Eine allgemeingültige Umrechnung beider Einheiten ist nicht möglich. Schließlich handelt es sich bei Angaben in dBu um per Voltmeter gemessene Effektivwerte eines (analogen) Spannungspegels und bei Angaben in dBFS um die Binärzahlen einer Spitzenwertskala. Während Angaben in dBu quasi Mittelwerte angeben (nah am RMS-Wert), werden mittels dBFS Spitzenwerte (Peaks) gemessen.
Falls es jetzt noch nicht „Klick“ gemacht haben sollte, ist das kein Problem. Hier ein Praxisbeispiel, das die Zusammenhänge verdeutlicht: Schauen wir einmal ins Handbuch eines Audio-Interfaces. Für das RME Fireface 800 gibt der Hersteller beispielsweise +19 dBu als höchsten Ausgangspegel an, sofern die „Hi Gain“-Funktion des Audio-Interfaces aktiviert ist.
• Wählt man also als Referenzpegel „Hi Gain“, so folgt daraus am Ausgang des Audio-Interfaces ein maximaler Effektivwert von +19 dBu.
• Wird am Audio-Interface für den Ausgangspegel dagegen der Studiostandard von +4 dBu gewählt, so beträgt der höchste Ausgangspegel noch +13 dBu.
• Wird aber als Ausgangspegel der Line /Consumer-Pegel von -10 dBV (= -7,78 dBu) gewählt, so beträgt der höchste Ausgangspegel nur noch +2 dBV (= +4,22 dBu).
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VU-Meter vs. RMS-Meter
Der Einfachheit halber gehen wir hier davon aus, dass sowohl VU-Meter als auch RMS-Meter den Mittelwert eines Audiosignalpegels anzeigen – wenngleich es sich bei einem VU-Meter eigentlich nur um einen „Quasimittelwertmesser“ handelt. Nur bei einer reinen Sinusschwingung zeigen beide Geräte definitiv das Gleiche an, nicht jedoch bei anderen Musik- oder Sprachsignalen. Und auch die zugrunde liegenden Skalen beider Geräte sind verschieden: Die Anzeige eines VU-Meters ist in der Regel logarithmisch, die eines RMS-Meters linear skaliert.
Was ist Gain Staging?
Gain Staging ist eine Mix-Technik, bei der der Master-Fader während des gesamten Abmischens weitestgehend auf der Nullstellung (Unity Gain) verbleibt und stattdessen die Eingangspegel der Einzel- und Gruppenkanäle so geregelt werden, dass eine Übersteuerung des Masterkanals verhindert wird. Denn überschreitet der Spitzenpegel eines digitalen Audiosignals den Wert von 0 dBFS, kommt es zur digitalen Übersteuerung (Clipping). Resultat ist ein kratziger Sound, da das übersteuerte digitale Signal nicht mehr »smooth« (nämlich angemessen interpoliert) analog rückgewandelt werden kann. Zugleich werden durch das Gain Staging die Signalpegel der Einzelkanäle auf »konservativem« Niveau gehalten.
Was sich zuerst einmal unspektakulär liest/anhört, führt in der Praxis zu beeindruckenden Resultaten hinsichtlich Workflow und Klang eines Mixes: Einzelsignale und Gesamtmix klingen im Ergebnis natürlich und brillant und sind weitgehend frei von ungewollten Verzerrungen.
Resümee
Wer bis hierhin mitgelesen hat, dem kann ich nur gratulieren: Jetzt ist das technische Grundverständnis da, um die praktischen Tipps des zweiten Workshop-Teils locker nachvollziehen zu können. Wir haben festgestellt, dass wir die Einheiten dBu und dBFS auseinander halten müssen. Und wir haben auch gesehen, warum beide Pegel in einem Verhältnis zueinander stehen, das von der Kalibrierung des Equipments abhängt. Außerdem haben wir mit dem RMS-Meter noch das passende Tool gefunden, mit dem wir uns auf den Weg machen können, einen Mix zu erarbeiten, der »sauber« klingt und ordentlich Dynamik und Tiefe aufweist. Und wir wissen auch schon, wie wir das erreichen wollen: Durch konsequentes Vermeiden auch noch so geringster Verzerrungen.
Ausblick
In der nächsten Folge wird es endlich praktisch. Dann setzen wir all diese Punkte in einem Mixprojekt in die Tat um.
Download-Tipps
PSP VintageMeter. VU-Meter (VST). Freeware. URL: http://www.pspaudioware.com/plugins/tools_and_meters/psp_vintagemeter/ [Stand: 16.11.2012].
Sleepy-Time Records Mono Channel / Stereo Channel. VU-Meter / Gain-Control (VST). Freeware. URL: http://sleepytimerecords.com/audioplugins [Stand: 16.11.2012].
tom sagt:
#1 - 19.12.2013 um 18:21 Uhr
Wow! Wahnsinns Beitrag und das mal eben so und nicht in käuflicher Form? Weiter so!
klausens_klaus sagt:
#2 - 17.01.2014 um 20:25 Uhr
Wann kommt denn der zweite Teil?
Nils Westermann sagt:
#3 - 04.02.2014 um 06:16 Uhr
Hi! Vielen Dank für den Beitrag. Ich finde es immer bemerkenswert, wenn sich jemand hinsetzt und über Themen schreibt, die die Profiwelt mit der Amateurwelt verbinden können.
Kai sagt:
#4 - 27.07.2014 um 14:55 Uhr
Hallo Carsten,super Erklärung - danke!Aber eines hast Du doch an dem folgenden Punkt vergessen - Zitat:
"Denn überschreitet der Spitzenpegel eines digitalen Audiosignals den Wert von 0 dBFS, kommt es zur digitalen Übersteuerung (Clipping)".Verstehe mich bitte nicht falsch und BITTE KORRIGIER MICH GGF. IN ALLEM WAS JETZT KOMMT:Ich stimme Deiner "Masterfader-immer-auf-0dB!"-Strategie voll zu, auch wenn ich mich wundere, dass der folgende Einwand hier in den Kommentaren noch nicht gekommen ist:"Meine DAW hat doch 32 Bit Floatingpoint.
Da kann ich doch jede Spur aufreissen,
ohne dass etwas verzerrt.
Und für den Export schiebe ich halt den
Masterfader runter, damit der 16 Bit
Integer Export für die CD nicht übersteuert."Die Aussage ist EIGENTLICH völlig richtig*:
Wenn man das so macht hat man tatsächlich KEIN fieses digitales Clipping, welches Du anführst.
AAABER:
Man verliert dabei jede Menge Auflösung, da jedes Signal bzw. Sample über der 0dB-Anzeige nur noch in viel gröberern Stufen dargestellt werden kann.
Anmerkung:Und darum ging es hier ja: Die Signale im gesamten Mixingprozess in ihrer feinen Auflösung belassen - Zitat:
"Im Kern geht es bei dieser Diskussion darum, dass DAW-Produktionen aus dem Homerecordingbereich in etlichen Dimensionen oftmals weniger »groß« wirken als professionelle Studio-Produktionen. (...)"Eigentlich bedeutet die bewusste Ausnutzung von 32 Bit Floatingpoint über 0dB nichts anderes, als dass man schon im Mix eine Art der DATEN-Kompression durchführt (nicht der Audiokompressor ist gemeint, sondern sowas Ähnliches wie es auch bei der wandlung in mp3 geschieht, um Speicherplatz zu sparen).Das könnte man jetzt schön mit dem Beispiel Entfernungsmessung mit 3 Stellen plus einem Multiplikator erklären, aber das lass ich jetzt.Etwas ganz anderes darf man auch nicht vergessen:
Es soll ja noch PlugIns geben die intern nur 24Bit Auflösung haben. Die DAWs sind oder sollten dann zwar so schlau sein dass zwischendurch umzurechen, aber dabei geht dann auch schon wieder (NOCHMAL ZUSÄTZLICH) Auflösung verloren.Lange Rede, gar kein Sinn: ;-)Die
"Masterfader-immer-auf-0dB!"-Strategie
im Artikel bleibt trotz 32 Bit Floatingpoint richtig.Grüße, KaiPS.:
Man könnte jetzt die ketzerische Frage stellen:
"Wozu brauchen wir dann überhaupt 32 Bit FP, wenn man's nicht nutzen darf?"
Antwort:
"Es KANN ja mal z.Bsp. zwischen zwei PlugIns im Insert über 0 dbFS gehen, was man gar nicht merkt, weil hinter'm zweiten Plugin wieder alles ok ist"Daher MEINE KETZERISCHE BEHAUPTUNG:
Wir brauchen überhaupt kein 32 Bit Floatingpoint, sondern weiterhin nur 24 Bit.
Stattdessen bräuchten wir DAWs, die garantiert immer warnen und anzeigen WO im Signalfluss die 0dbFS überschritten werden.*) ...ausser nat. bei der Aufnahme, wo man in jedem Falle auf die i.d.R. 24Bit Begrenzung des AudioInterfaces achten muss
Kai sagt:
#5 - 27.07.2014 um 16:08 Uhr
Korrektur bzw. Ergänzung damit das eingangs erwähnte Statetement m.E. wirklich EIGENTLICH richtig ist:"Meine DAW hat doch 32 Bit Floatingpoint.
Da kann ich doch jede Spur aufreissen,
ohne dass etwas verzerrt.
Und für den Export schiebe ich halt den
Masterfader runter, damit der 16 Bit
Integer Export für die CD
bzw. der 24 bit DA-Wandler zur Abhöre
nicht übersteuert."