Typische Musikerkrankheiten, ob physischer oder psychischer Art, sind Themen, über die man in einer Leistungsgesellschaft nicht gerne spricht und die in der Ausbildung zum Musiker in der Vergangenheit gerne vernachlässigt und sogar tabuisiert wurden. Dabei muss man sich vor Augen führen, dass das Musikersein ganz konkrete Anforderungen an unseren Körper stellt, für die er ursprünglich nicht geschaffen wurde. Das beginnt mit dem Halten eines Instruments über zigtausend Stunden in einem Musikerleben und über Geräuschpegel, die häufig jenseits dessen sind, was ein Ohr unbeschadet überstehen kann. Von der ständigen psychischen Belastung in Auftrittssituationen und dem Wettbewerbsdruck, gerade in einer You-Tube Welt, ganz zu schweigen.
Zwar wurde schon in medizinischen Büchern des 15. Jahrhunderts über spezifische Musiker-Erkrankungen berichtet, aber man geht davon aus, dass heute bis zu 80% aller professionellen Instrumentalmusiker im Laufe ihres Berufslebens betroffen sind. Dabei geht es um verschiedenartige Beschwerden mit temporären oder chronischen Beeinträchtigungen quer durch alle Genres, von Klassik bis Rock/Pop/Jazz. Höchste Zeit also, diesen Themen einen Beitrag zu widmen.
Waren Inhalte wie “Lampenfieber, Talent und sinnvolles Üben” Gegenstand meines letzten Gesprächs mit Prof Dr. Andreas Lehmann, besuche ich diesmal Frau Prof. Dr. Maria Schuppert, ihres Zeichens Professorin für Musikermedizin an der Hochschule für Musik Würzburg und Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Musikphysiologie und Musikermedizin, um mit ihr die eher körperlichen Aspekte des Musikerseins zu besprechen und Fragen zu stellen, die auch mich persönlich immer wieder umtreiben.
Auch hier musste ich erneut feststellen, wie sehr doch körperliche und psychische Aspekte untrennbar zusammenhängen. Sehr überrascht hat es mich, wie stark das Thema Musikergesundheit mittlerweile Einzug in die Literatur und die Lehrpläne der Hochschulen gefunden hat und zu einem sehr ernst genommenen Thema der Forschung geworden ist.
Allgemeines
Frau Prof. Dr. Maria Schuppert, was verbirgt sich hinter dem Begriff “Musikermedizin” und was ist die Motivation hinter diesem Zweig an Musikhochschulen?
Primär geht es um die Prävention und Behandlung von spielbedingten schmerzhaften Überlastungen und Fehlbelastungen, seelischen Belastungen bis hin zu Angststörungen, neurologischen Erkrankungen, aber auch z.B. internistische, HNO-ärztliche und gesangs-phoniatrische Beschwerden, die die Berufsfähigkeit von Musikern beeinträchtigen.
Dazu gibt es die deutsche Fachgesellschaft für Musikphysiologie und Musikermedizin, die interdisziplinär mit Medizinern, Musikern und Therapeuten besetzt ist. Dort existiert eine Arbeitsgruppe “Lehre” innerhalb der Gesellschaft, in der man sich einmal im Jahr intensiv darüber austauscht, wie ein Curriculum auszusehen hat.
Schwerpunkt ist, was Musiker gesund, psychisch und körperlich fit hält. Themen wie Lampenfieber und Auftrittsangst gehören zu den komplexesten und zentralen Themen und es geht um die Frage, was das Besondere beim Musizieren ist, was das Musikstudium von anderen Studiengängen unterscheidet und was das Besondere am Musikerberuf ist. Zum Beispiel die jahrzehntelange Ausübung. Man fängt wie Sportler im Kindesalter an, wechselt aber nicht mit 35 in den Trainerberuf und stellt sich ab dann keinem Wettbewerb mehr. Das Auftreten wird immer dazugehören.
Es gibt viele Parallelen zum Leistungssport, aber auch erhebliche Unterschiede. Die Zeitdauer, die wir bei körperlicher Fitness auf den Punkt genau und auch mit voller mentaler Stabilität präsentieren müssen, geht über Jahrzehnte, und schon alleine das rechtfertigt dieses Fach.
Was ist das Besondere an der Ergonomie und am Bau von Instrumenten und Zubehör, wenn man sich bewusst macht, dass nicht alles optimal ist, sprich, es in der Evolution des Menschen nicht vorgesehen war, dass er sein Leben lang ein Instrument spielt? Man hält ein Instrument beispielsweise auf eine bestimmte Art und das entspricht nicht unbedingt unseren physischen Anlagen. Damit umzugehen und das über Jahrzehnte, ist wichtig und die Koordination und das Üben aus neurowissenschaftlicher Perspektive gehören ebenfalls dazu. Was können uns Neuro- und Trainingswissenschaften dazu sagen und wie können wir dort die Pädagogik ergänzen?
Es geht um schmerzhafte Überlastungen und wie sie entstehen. Was kann ich selbst tun? Welche Muster kann ich erkennen und wie sieht die Prävention aus? Thema ist hier die Schärfung des Bewusstseins für die Zusammenhänge. Unsere Aufgabe ist es, die Information und die Sensibilisierung auf eine musikerbezogene Art und Weise, denn wir wollen keine Medizinervorlesungen halten. Alles muss eng am Musikerberuf orientiert sein.
Zeigt sich das Interesse dafür eher bei klassischen Musikern oder auch im Rock/Pop/Jazz Bereich?
Es kommen sehr viele aus dem Jazzbereich, aber auch Themen wie Rücken, spezifische Aspekte beim Musizieren im höheren Alter oder im Kindesalter, Wachstumsphasen, Koordination und, wie erwähnt, Lampenfieber gehören dazu.
Sehr gute Literatur gibt es übrigens u.a. von Claudia Spahn oder von Gerhard Mantel mit dem Titel “Mut zum Lampenfieber”. Letzterer ist besonders wertvoll, weil er nicht aus der Mediziner- und Psychologenperspektive kommt, sondern aus der des Praktikers. Auch Helmut Möller aus Berlin hat in Form zahlreicher Artikel und Buchkapitel sehr interessante Beiträge verfasst. Letztlich muss man erkennen: Wir brauchen Lampenfieber, aber Auftrittsangst ist eben dieses kleine Quäntchen zu viel. Lampenfieber versetzt uns erst in die Lage, bestmögliche Ergebnisse zu erzielen. Wird die Linie überschritten, verschlechtert sich die Leistung jedoch – sich diesen Zusammenhang bewusst zu machen, ist wichtig. Was passiert bei Stress im Körper auf einer psychologischen, auf einer körperlichen und auf einer Verhaltensebene? An allen drei Stellschrauben können wir ansetzen.
Ein Seminar ist z.B. “Stressbewältigung und sicher auftreten”. Wie bekomme ich die Introspektion, um meine Reaktionsweisen zu erkennen? Dafür machen wir Auftrittstraining mitsamt Videofeedback. Und ich vermittele die “Progressive Muskelrelaxation” als eine der sehr wichtigen Entspannungsverfahren.
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Welche Methoden stehen bei Auftrittsangst zur Verfügung?
Es gibt sehr viele Möglichkeiten, mit der Auftrittssituation umzugehen. Man muss den Betroffenen klarmachen, dass es sich zwar um einen längeren Prozess handelt, dass aber auch viel möglich ist – das ist die Grundvoraussetzung.
Auch wenn man nicht standardisiert ansetzen kann, da jeder Musiker anders ist, so kann man doch mit einem bestimmten System vorgehen. Es gibt einige Stellschrauben und bei jedem funktioniert etwas anderes, aber ich sehe viele Erfolge, wenn man sich konsequent kümmert und die Bereitschaft zur Eigenarbeit da ist, denn die ist notwendig. Nach dem Motto: “Mach mal heile, verschreib mir einen Betablocker” funktioniert das nicht.
Das heißt, der erste Schritt ist, Lampenfieber nicht zu dämonisieren und als natürlichen Teil des Musikerlebens zu werten?
Exakt, und auch das Thema zu enttabuisieren! Wie ich mich den Erwartungen eines Publikums stelle und wie ich damit umgehe, wird ja auch in den Medien vermittelt und auch Spitzensportler bekommen einiges an die Hand. Darum ist es eine der ureigensten Aufgaben der Hochschule, den Umgang mit Bühnensituation zu vermitteln, mit Einzelberatungen und Lehrveranstaltungen.
Manchmal kommt jemand vordergründig mit dem Thema Auftrittsangst zur Beratung, aber dann verbirgt sich dahinter doch eine größere psychische Problematik. Das sind auch die Momente, in denen ich an Spezialisten abgebe, wenn zum Beispiel eine generalisierte Angststörung vorliegt.
In den allermeisten Fällen ist die Auftrittsangst jedoch eine hochspezifische Angst, das heißt, die Betroffenen sind sonst psychisch vollkommen gesund und haben auch ausreichend geübt.
Im Seminar “Stress bewältigen und sicher auftreten”, das im eigentlichen Sinne kein Seminar ist, sondern interaktiv mit den Teilnehmern abläuft, waren interessanterweise zu Beginn der überwiegende Teil Jazzmusiker. Das Thema Auftrittsangst scheint bei Jazzern eine ebenso große Rolle zu spielen wie in der Klassik. Untersuchungen belegen, dass der Anteil in beiden Genres identisch ist und es sich nur in Nuancen unterscheidet, worin genau die Angst besteht. Vieles liegt vermutlich an der steigenden Akademisierung des Jazz/Pop-Zweiges, wodurch er wesentlich kompetitiver geworden ist und man Angst davor hat, im entscheidenden Augenblick nicht die Kreativität zu besitzen, die man bräuchte oder dass Auftritte starr oder steif werden.
Das Gehör
Kommen wir nun zu ein paar Fragen, die sich auf körperliche Themen beschränken, und ich würde ganz gerne mit dem Gehör beginnen. Gibt es konkrete Richtwerte bzgl. der Lautstärke ab wann Schaden auftreten kann?
Im Prinzip sind das die Richtlinien, die die EU auch in der “Lärm- und Vibrationsschutzverordnung” herausgebracht hat, die auch für den Musikerbereich gelten. Doch das lässt sich natürlich nicht eins zu eins umsetzen, weil der Musikerberuf kein Industriearbeitsplatz ist. Tatsächlich erreichen wir Musiker zu hohe Schallpegel, sowohl in der Klassik als auch im Rock/Pop und Jazz. Die schweizerische Unfallversicherungsanstalt (Suva) hat sehr zuverlässige Messungen vorgenommen und es existieren klare Werte, wie hoch Schallpegel über den Verlauf von acht Stunden oder einer Woche sein dürfen. Es geht weniger um einmalige Spitzenwerte, denn wir haben immer ein Auf und Ab zwischen leiseren und lauteren Passagen. Ausschlaggebend ist, was gemittelt innerhalb einer Zeitspanne zusammenkommt.
Die Sinneszellen im Ohr sind ja ein lebendes System und brauchen ihre Pausen, d.h. sie können durchaus auch einmal etwas überstrapaziert werden, wenn danach eine Ruhepause folgt. Die genaue Definition lautet: Werden gemittelt 85dB über einen Verlauf von acht Stunden überschritten, herrscht Handlungsbedarf.
Das heißt, eine normale Probenlautstärke einmal in der Woche über ca. zwei Stunden ist tolerabel?
Ganz genau, wobei noch einige Fragen relativ unklar sind. Zum Beispiel, ob es eine Rolle spielt, ob wir die Musik mögen oder nicht. Auch die emotionale Komponenten sind also nicht gänzlich erforscht. Eigenes Musizieren scheint grundsätzlich weniger gehörbelastend zu sein als passive Schallexposition. Auch die Frage nach der Anzahl Ruhepausen ist nicht gänzlich geklärt.
Fakt ist allerdings, dass in allen Sektoren der Musik im Profibereich die erlaubte Wochen-Expositionszeit deutlich überschritten wird. Darum sollte man technische, organisatorische und individuelle Maßnahmen ergreifen, um sich zu schützen. Technisch heißt, dass die Proberäume ausreichend groß oder gut ausgestattet sind, organisatorisch bedeutet, dass man die Probezeiten anpasst und evtl. auch das Repertoire so auswählt, dass nicht nur laute Stücke in der Abfolge erscheinen. Da die Möglichkeiten in den ersten beiden Punkten eingeschränkt sind, helfen individuelle Schritte wie. z.B. Gehörschutz.
Gibt es hinsichtlich der Schallbelastung auch Unterschiede in der Schallqualität? Sind beispielsweise Schlagzeugbecken belastender als Gitarrenklänge?
Es gibt einen kleinen Muskel, der die Übertragung vom Mittelohr aufs Innenohr abdämmt (Stapediusreflex), aber der benötigt eine gewisse Reaktionszeit. Wenn wir also wissen, “da kommt gleich ein Knall”, dann spannt der Muskel an und die Übertragung ist minimal abgeschwächt. Wenn eine Schallquelle jedoch einen sehr kurzen “Attack” hat, kann der Muskel nicht so schnell reagieren.
Die Struktur des Geräuschs scheint ebenso ausschlaggebend zu sein. Hochstrukturierter Schall in der Klassik belastet bei gleichem mittleren Schallpegel das Gehör weniger als geringer strukturierter Schall in Metalsongs oder unstrukturierter Industrieschall. Becken sind oft sehr hart im Anschlag und das scheint wohl auch eine Rolle zu spielen, aber dazu gibt es bis dato keine genauen Erkenntnisse. Entscheidend ist tatsächlich eher die Lautstärke in Kombination mit der Dauer.
Ist dieser Pfeifton, den man nach Konzerten oft im Ohr wahrnimmt, bereits eine Schädigung?
Nein, das ist eine Überreizung der Sinneszellen und ein Zeichen dafür, dass eine Pause notwendig wird. Das ist temporär und regeneriert sich wieder, ist allerdings auch ein Zeichen dafür, dass man sich zu lange einem zu hohen Pegel ausgesetzt hat.
Was versteht man dann genau unter einem Gehörsturz?
Man geht davon aus, dass es sich um eine Durchblutungsstörung des Innenohres handelt, aber auch hier sind nicht alle Vorgänge genau geklärt. Das kann sowohl lautstärke- als auch stressbedingt sein, oder aber auch im Rahmen eines Infektes auftreten. Insgesamt geht man jedoch von einer Durchblutungsstörung aus, weshalb auch im weitesten Sinne durchblutungsfördernde Medikamente gegeben werden. Vor allem wird man jedoch abgeschirmt und soll zur Ruhe kommen, denn die Erholung insgesamt ist für die Genesung sehr wichtig.
Daher ist der Hörsturz auch keine spezifische Musiker-Erkrankung, sondern sehr verbreitet, wobei er nach längeren Probephasen durchaus häufiger auftritt, aber dazu gibt es noch keine genauen Zahlen. Wahrscheinlich hängt er mit der intensiven Doppelbelastung zusammen, das heißt, die Kombination aus intensiver, konzentrativer Arbeit und Lautstärke erhöht das Risiko. Wobei es auch genug Fälle aus der Arbeitswelt gibt, wie beispielsweise Politiker, die sich auch ohne Lärmbelastung aus der Politik zurückgezogen haben, weil sie einen Hörsturz nach dem anderen hatten.
Häufig hört man: “Der Gehörsturz ist der Herzinfarkt des Gehörs” – trifft die Analogie zu?
Man kann nicht generell sagen, dass man ab einer bestimmten Anzahl von Gehörstürzen ertaubt. Das ist sehr unterschiedlich und man kann auch durchaus mehrere Gehörstürze haben.
Gibt es Maßnahmen, die man prophylaktisch in Form von Ernährung, Bewegung etc. ergreifen kann?
Unter den Aspekt des Stressabbaus zählt primär alles, was das Immunsystem stärkt, denn das stärkt auch die Stressabwehr, und Sport ist ein ausgleichendes Element. Ansonsten sollte man natürlich dem Ohr Ruhepausen gönnen, denn als Musiker ist man permanent von Geräuschen umgeben, auf die viele sehr sensibel reagieren, absolute Ruhepausen benötigen oder sich gänzlich abschirmen. Das kann auch ins Gegenteil umschlagen, weshalb man nicht in das Extrem verfallen sollte, permanent mit Gehörschutz herumzulaufen. Das ist nicht notwendig und man züchtet sich damit eher eine Überempfindlichkeit des Gehörs heran.
Man sollte versuchen zu erfassen, wie laut es gerade ist und welchen Situationen man sich in seinem Alltag aussetzt und sich dann gegebenenfalls mit individuellem Gehörschutz schützen, von dem der Markt mittlerweile einiges anbietet. Je nach Dauer und Stärke kann man sich einen Gehörschutz anpassen lassen (der natürlich seinen Preis hat) oder im Hobbybereich zu Lamellenstöpseln greifen, die musikeroptimiert sind und im 20- bis 30-Euro-Bereich angesiedelt sind.
Am wichtigsten ist jedoch die Aufklärung, wie man sich mit einfachen Maßnahmen relativ gut schützen kann. Man muss sich jedoch klarmachen, dass das, was der Gesetzgeber in anderen Berufen vorschreibt, im Musikerberuf nur sehr bedingt umsetzbar ist. Wir sind also darauf angewiesen, selbst abschätzen zu können, welchen Pegeln wir uns aussetzen.
Viele Musiker haben allerdings das Problem, dass selbst der angepasste Gehörschutz doch einen starken Einfluss nicht nur auf den Pegel, sondern auch auf die Soundqualität hat und deshalb davor zurückschrecken – wie ist da der Stand der Entwicklung?
Das ist alles noch nicht ganz ausgereift und die Forschung arbeitet auf Hochtouren daran, da man sich bewusst ist, dass noch nicht der Idealzustand erreicht ist. Hilfreich ist es dennoch, dass man ihn zumindest beim Üben, Proben oder immer, wenn es geht, ein wenig herausnehmen kann.
Wie stehen Sie zum Thema “InEar Monitoring”, wo konstruktionsbedingt der Direktschall aufs Ohr trifft?
Ein stückweit ist es auf jeden Fall problematisch, wenn der Schall direkt und abgeschirmt ankommt. Hier trägt man natürlich selbst die Verantwortung mit der Lautstärkeregelung verantwortlich umzugehen.
Wie sieht der wissenschaftliche Stand in der Behandlung des Gehörsturzes aus?
Manche Ärzte raten zum Abwarten, manche zu Tabletten, manche zu Kortisoninfusionen? Es ist tatsächlich so, dass sie möglicherweise drei unterschiedliche Antworten erhalten, wenn Sie drei verschiedene HNO-Ärzte fragen. Als Musiker sollte man tatsächlich aber nicht einfach nur abwarten. Sie brauchen als Musiker in der Feinnuancierung ein anderes Gehör als ein Kesselschmied. Insofern würde ich mich an die Standardbehandlung halten und das ist Abschirmung, Ruhe und medikamentöse Therapie.
Ergänzend gibt es noch Gingiumpräparate, aber da ist der Nutzen nicht erwiesen. Das kann zwar individuell helfen, hat aber keine statistische Signifikanz.
Warum wird diese Therapie oft von der gesetzlichen Krankenkasse nur zum Teil oder gar nicht übernommen?
Vermutlich, weil nach wie vor all diese Verfahren zu wenig untermauert sind, auch wenn die zusätzliche Gabe von Kortison favorisiert wird. Häufig sind in der Infusion noch weitere durchblutungsfördernde Mittel. Aber es gibt natürlich noch sehr viele Fragezeichen und es zeigen sich auch viele unseriöse Therapien auf dem Markt, insbesondere beim Tinnitus.
Die Motorik
Kommen wir nun zum Thema Motorik, wobei ich mit dem Punkt “Aufwärmen” beginnen möchte. Wie lange ist Aufwärmen sinnvoll und ab wann überschreitet man die Schwelle zur Ermüdung?
Das muss man individuell erkennen, aber man sagt, dass drei bis fünf Minuten ganzkörperliches Aufwärmen ausreichen. Es geht darum, dass die Durchblutung im ganzen Körper angeregt und nicht nur Fingergymnastik praktiziert wird. Wenn der Rest des Körpers noch kalt ist und man wärmt nur die Finger auf, dann kommt zu wenig Blut an.
Ein ganzkörperlicher Warm-Up von wenigen Minuten mit ausladenden Bewegungen, die Atmung dabei einbeziehen und Mobilisationsübungen, reichen aus. Eine sinnvolle Reihenfolge wäre, den Körper aufzuwärmen, dann ein paar Einspiel- oder Einsingübungen und dann mit der Übesession beginnen, die auch fraktioniert erfolgen sollte mit mehreren kleinen Pausen.
Ganz ähnlich ist es im Sport, erst erfolgt ein ganzkörperliches Aufwärmen und dann ein sportartspezifisches, was unserem Einspielen entspricht, und dann geht’s aufs Feld, also von grob nach fein.
Die Einspielübungen werden nach unserer Beobachtung häufig übertrieben bis muskuläre und auch zentralnervöse Ermüdungseffekte eintreten. Das sollte natürlich nicht der Fall sein – aus dem Sport kennt man diese Effekte genau.
Häufig liest man in Interviews Sätze wie, “Vor der Show spiele ich mich zwei Stunden warm”?
Das sollte eigentlich nicht sein, denn dann zeigen sich schon längst Ermüdungseffekte. Man kann das natürlich auch schwer mit einer festen Zahl definieren, weil das auch tagesformabhängig ist.
Wie ist die Rolle des Dehnens beim Aufwärmen und motorischen Übungen einzustufen?
Musiker verkürzen gerne in die Beugung, weil Musiker eben auch viel in die Beugung hineinarbeiten, insbesondere im Schulter- und Handbereich. Damit kommen wir aus der muskulären Balance heraus, die wir eigentlich im Körper haben.
Das kann man sowohl auf die kleinen Muskeln wie auf den Gesamtkörper beziehen, und insofern ist, um muskuläre Dysbalancen und Verkürzungen zu vermeiden, ein Ausgleich durch Dehnen sehr sinnvoll.
Prinzipiell sollte man sich beim Spielen beobachten und sich dann fragen: “Wie kann ich nun auch in die Gegenrichtung arbeiten?”. Das sollte man allerdings nicht mit kaltem Körper machen, am sinnvollsten ist es nach dem Üben oder dazwischen. Therabänder sind dabei auch sehr hilfreich, mit denen man zugleich einen Kräftigungseffekt erzielt, der vor allem im Schultergürtelbreich sehr wichtig ist, weil man durch das Instrument lange Zeit Gewicht halten muss. Insofern hat man eine gute Kombination aus Dehnung und Kräftigung.
Gut ist es, bei Übungen in die Dehnung zu gehen und bis zu zehn Sekunden zu halten. Bei den Finger und Händen spielt sich das alles in einer Mikroebene ab, weshalb man dort sehr gemäßigt dehnen und auf keinen Fall übertreiben sollte. Dehnung sollte man spüren, aber sie darf nicht weh tun.
Welche Rolle hat eine gleichmäßige Atmung beim Spielen?
Häufig beobachtet man, wie Musiker bei schwierigen Passagen stark atmen oder die Atmung aussetzt. Das liegt daran, dass man sich stark auf etwas anderes konzentrieren muss. Bläser und Sänger sind da natürlich sehr trainiert, aber bei anderen Instrumentengruppen erfordert womöglich eine Passage so viel Konzentration, dass die Atmung vernachlässigt wird. Atmung scheint für Nicht-Bläser keine große Rolle zu spielen, womit ein ganz essentieller Baustein der Körperwahrnehmung fehlt und Bewegungsflüsse gehemmt werden. Man sollte das Thema Atmung bei Aufwärmübungen definitiv mit einbeziehen, weil sie die Versorgung der Muskeln mit Sauerstoff gewährleistet. Außerdem hat es natürlich auch etwas mit Körperwahrnehmung zu tun und man kann den Aufwärmeffekt erhöhen und Entspannungseffekte steigern. Bewusstmachung ist das Schlüsselwort!
Wie übt man am sinnvollsten schnell gespielte Passagen und Maximalgeschwindigkeit? Kann man Parallelen aus dem Sport ziehen?
Zum Teil ja. Generell muss man sich klarmachen, dass man nicht nur mit der Körperperipherie, sondern überwiegend mit dem Gehirn arbeitet. Ermüdungseffekte können demnach auf beiden Seiten entstehen und häufig zuerst auf der Ebene der Hirnrinde, wo die motorischen Programme gespeichert sind und abgefeuert werden. Wenn es dort Ermüdungseffekte gibt, dann ist das bei konzentrativer Arbeit natürlich. Auch weil es unglaublich komplex ist, was wir unserem Gehirn zumuten, können diese Programme nicht mehr so präzise abgespielt und an die Peripherie weitergegeben werden. Man kann auch nicht mehr akkurat agieren, da man nicht die richtigen Impulse bekommt. Außerdem ist auch die Körperperipherie irgendwann ermüdet, kann nicht mehr die richtigen Korrektursignale zurücksenden und es entsteht ein Bewegungschaos, was dazu führt, dass sich Fehler einschleichen.
Wegen dieser Ermüdung spricht man auch als “Faustregel” von ca. 45 Minuten am Stück üben und dann pausieren, wobei dies bei Bläsern und Sängern bereits viel früher notwendig sein kann. Üben sollte fraktioniert stattfinden, also in vielen kleinen Einheiten, damit die Muskulatur immer wieder kleine Regenerationspausen hat. Dann wird Sauerstoff in die Peripherie transportiert und die Muskulatur mobilisiert und gelockert. 45 Minuten am Stück und dann 10 Minuten Pause sind als Richtwert sinnvoll. Innerhalb der einzelnen Übesessions kann man auch durchaus zwei verschiedene Stücke üben und das ist sogar hilfreich. Früher wurde in der Forschung eher davon abgeraten, aber mittlerweile sieht man das anders, gerade wenn es sehr unterschiedlich Stücke sind.
Man muss sich klarmachen, dass man nicht zeitgleich trainieren UND abspeichern kann, denn das ist ein zeitversetzter Prozess – Pausen und Schlafen gehören zum Üben! Das erklärt auch Phänomene wie jenes, dass man etwas übt, aber man es nicht in die Finger bekommt. Wenn man das Stück jedoch mal liegen lässt und nach einer Woche wieder aufgreift, läuft es plötzlich. Dieses Phänomen nennt man “Reminiszenzphänomen”. Wenn es um Tempo oder große Sprünge geht, sollte man langsam anfangen, damit sich keine Fehler einschleichen und damit wir die Dinge überhaupt erst verstehen und analysieren. Es scheint jedoch auch so zu sein, dass, wenn große Sprünge und große physische Kräfte einwirken, offenbar andere motorische Steuerungsprogramme verwendet werden. Darum ist es auch durchaus sinnvoll, gewisse Parts bereits früh, gelegentlich in einem eigentlich zu hohem Tempo, zu spielen, auch wenn die Passage noch nicht ganz sitzt – aber natürlich nicht so lange, dass sich Fehler manifestieren.
Welche Herangehensweise würden Sie dann raten, wenn es sich z.B. um eine anspruchsvolle 16tel Passage über vier Takte handelt, die man schnell unter Kontrolle bringen muss?
Generell sollte man von einem langsamen in ein schnelleres Tempo steigern und dann in kleinen Abschnitten trainieren. Auch rein mentales Trainieren ist unheimlich wichtig und je komplexer eine Aufgabe, desto hilfreicher, weil man sie so wirklich durchdringt und man nicht “schummeln” oder darüber hinweggehen kann. Entweder man stellt sich den Bewegungsablauf vor oder es hakt eben. Wenn man praktisch übt, kann man manchmal darüber “hinwegspielen”, das gelingt mental natürlich nicht.
Wichtig ist auch, sich nicht an einer Stelle festzubeißen. Wenn man merkt, man kommt nicht weiter, sollte man mit Variationen arbeiten, was Gerhard Mantel auch als das “Prinzip der rotierenden Aufmerksamkeit” beschrieben hat. Zum Beispiel konzentriere ich mich auf die einzelnen Bewegungsabläufe, als nächstes achte ich auf das Gefühl in der Hand, danach achte ich auf den Klang, dann auf Intonation und setzt schließlich die Teile zusammen. Mehr als sieben, acht Wiederholungen würde ich zunächst nicht machen, eher ruhen lassen und dann wieder aufgreifen, das heißt, immer wieder die Gelegenheit geben, dass sich alles setzt.
In der Klassik gibt es ja bereits, anders als im Rock/Pop, große Erfahrungswerte und eine Methodik über die sinnvollste Spieltechnik, Haltung etc., die ja im Unterricht auch vermittelt wird. Kann man als Autodidakt darauf vertrauen, dass, wenn man sich bewusst genug mit seinem Instrument beschäftigt, der Körper zwangsläufig zum ökonomischsten und “richtigsten” Weg finden wird?
Ein ganzes Stück weit ist das so. Üben wird durch Üben erlernt. Worauf man achten sollte ist, dass man nicht in die Ermüdung oder die Schmerzgrenzen hineinarbeitet. Man muss unterhalb der Schmerzgrenze bleiben und für sich jeden Tag neu erkennen – und das ist schwierig – ab wann dieses Üben mit einem Stück nichts mehr bringt. Dieser Umkehrpunkt ist nicht klar definiert, der kann nach einer oder nach fünf Stunden sein und den muss man auch respektieren. Wenn ich sehe, dass ich nicht weiterkomme, muss ich an Übe-Pausen und Variationen denken, denn wenn man zu sehr in die Ermüdungseffekte hineinarbeitet, arbeitet man auch in die Anbahnung von Fehlprogrammierungen. Wichtig ist auch, auf ein Ziel hinzuarbeiten. Was will ich heute erreichen oder bis zum Ende der Woche? Und dann bricht man das herunter auf Zeitabschnitte, denn so arbeitet man konzentrierter und vermeidet Frustration. Es kann auch sinnvoll sein, sich einen Übeplan zu erstellen, der jedoch nicht zu strikt ist und Raum für Variationen lässt. Manchmal erlebt man Studenten, die alles in Fünfminuteneinheiten durchtakten.
Viele Musiker haben Probleme explizit mit dem kleinen Finger. Ist es überhaupt möglich, dort die gleiche Qualität wie mit den anderen, stärkeren Fingern zu erreichen?
Er ist eigentlich nicht für diese Art der Arbeit vorgesehen und hat anatomisch und physiologisch andere Aufgaben als beispielsweise der Zeige- oder Mittelfinger, die von der Struktur her stärker sind. Die Geschwindigkeit des kleinen Fingers kann man nicht isoliert betrachten, sondern nur im Kontext der Koordination, und die ist immer und ein Leben lang schulbar, aber wird kräftemäßig nie dem Zeigefinger gleichkommen. Koordinativ kann man eine ganze Menge machen, z.B. die Unabhängigkeit zwischen Ringfinger und kleinem Finger, aber selbst da wird es durch Bandverbindungen nie so unabhängig wie zwischen Zeige- und Mittelfinger beispielsweise.
Was wären gute Fingerkombinationen, wenn man speziell den kleinen Finger trainieren will?
Der Ringfinger blockiert den kleinen Finger am stärksten. Triller mit kleinem Finger und Ringfinger sind meist holpriger als Triller mit Mittel- und Ringfinger, wobei ziemliche Trainingseffekte erzielt werden können. Letztendlich benutzt man den kleinen Finger auch im Alltag sehr selten und darum gibt es dort natürlich auch Trainingsspielraum. Aber wie weit das geht und wie weit die Koordination verbessert werden kann, dürfte individuell sehr unterschiedlich sein.
Prinzipiell sind alle Finger durch Sehnen miteinander verbunden und wenn man mit dem Daumen zu viel Druck ausübt, beispielsweise am Gitarrenhals, blockiert das auch den Rest der Hand. Das geht bereits vom Unterarm aus – ist der zu fest, hat man in der gesamten Hand eine Blockade.
Loslassen können, obwohl ein anderer Finger powern muss, ist eine sehr komplexe koordinative Aufgabe und ebenso anspruchsvoll wie die Koordination links – rechts. Häufig sieht man bei Geigern, die Forte-Passagen spielen, dass auch die Greifhand fest wird wenn sie mit dem Bogenarm Kraft geben müssen. Diese Unabhängigkeit kann man jedoch lernen und man muss es sich vor allem bewusst machen.
Welchen Einfluss hat das Lebensalter auf motorische Fähigkeiten? Lassen die altersbedingt nach?
Die Feinmotorik lässt im Alter nach, je komplexer die Aufgabe, desto früher und ab der sechsten Dekade ganz deutlich mit gigantischen individuellen Unterschieden. Natürlich hat man auch einen Verlust an Muskelmasse und Elastizität. Wenn man in normale Physiologiebücher schaut, ist das ziemlich deprimierend, wenn man sieht, wie alles zurückgeht, aber trotzdem sieht man Musiker, die in hohem Alter feinmotorisch absolut fantastisch sind. Zum einen ist Koordination ein Leben lang trainierbar, wirklich von klein auf bis ins allerhöchste Lebensalter, andererseits laufen Lernprozesse zwar anders, aber es geht trotzdem voran.
Das Gehirn passt sich weiterhin dem an, was wir ihm als Aufgabe erteilen. Der Spruch “Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr” ist out! Das Gehirn lernt ein Leben lang – neue Aufgaben möglicherweise langsamer, denn es wird mehr das erfahrungsbasierte Wissen ausgebaut. Alles, was unter Zeitdruck und schnell gelernt werden muss, mit einer Geschwindigkeitskomponente oder einer höheren Komplexität, ist definitiv schwieriger, aber dennoch lernbar. Im Bereich zwischen 35 und 50 Jahren kann man davon jedoch wahrlich noch nicht reden.
Was würden Sie bei Sehnenscheidenentzündungen als sinnvolle Maßnahme erachten?
Man muss erst einmal klarstellen, dass vieles, was als Sehnenscheidenentzündung tituliert wird, gar keine ist. Wir sehen viel häufiger nichtentzündliche Überlastungen als entzündliche. Es wird auch tatsächlich immer weniger, weil das Bewusstsein vieler Musiker geschärft ist.
Auch psychische Anspannungen, Infekte, Bewegungsmangel, Über- oder Untergewicht etc. gehen mit einer erhöhten Anfälligkeit von Schmerzsyndromen einher. Das, was wir am häufigsten sehen und was auch genauso schmerzhaft sein kann, ist ein “muskulärer overuse”, eine Überbeanspruchung der Muskel- und Sehnenstruktur ohne Entzündung. Das sind minimale Aufschwellungen im Gewebe, die eine erhöhte Reibung der Muskeln gegeneinander und auch innerhalb des einzelnen Muskels verursachen. Das macht sich in der feinmotorischen Steuerung und auch im Schmerzempfinden bemerkbar. Viele Beschwerden sitzen ja auch in Bereichen, in denen es keine Sehnenscheiden gibt, muskuläre Beschwerden, die man z.B. auch aus der Arbeitswelt als “repetitive strain injuries” kennt. Das ist nichtentzündlich und man arbeitet mit relativer Schonung, das heißt, alles ist erlaubt, was nicht wehtut. Man muss das Üben dann meist auch nicht einstellen, sondern man übt angepasst.
D.h., Schmerzen bedeuten nicht per se komplett aufhören?
Genau, aber man sollte sich “relativ” schonen, im Alltag wie am Instrument. Man muss analysieren, wodurch der Schmerz kam und in welchem Zusammenhang er entstand, damit man nicht immer weiter in ihn hineinarbeitet. Flexible Handgelenksbandagen können helfen, die Bewegung etwas einzuschränken.
Natürlich gibt es auch die tatsächlichen Sehnenscheidenentzündungen. Die Sehnenscheiden umhüllen die Sehnen im Handgelenksbereich und schützen sie vor der Reibung am Knochen. Liegt hier eine Entzündung vor, dann ist das sehr schmerzhaft und Spielen ist absolut tabu. Das sollte man nicht ignorieren und auch sofort einen Spezialisten wie beispielsweise einen Handchirurgen aufsuchen, der nicht nur operieren, sondern die Hand auch konservativ beurteilen kann. Es gibt in Deutschland sehr viele, die sich auch speziell mit Musikern auskennen. Sehnenscheidenentzündungen zu übergehen kann sehr problematisch werden, denn die Sehne quillt quasi auf und reibt an der Sehnenscheidenwand, was mit der Zeit Kalkstrukturen ausbilden und Sehnenscheide und Sehne verkleben kann.
Ist die Sehnenscheidenentzündungen ein mechanischer Reiz oder spielen hier auch Erreger eine Rolle?
Nein, das entsteht in der Regel durch mechanische Überreizung. Man muss auch sagen, dass die Sehnenscheidenentzündungen sehr selten ignoriert wird, weil sie einfach sehr schmerzhaft ist. Muskelschmerzen werden allerdings häufig ignoriert und das birgt die Gefahr, dass sich eine Schmerzchronifizierung einstellt.
(Anmerkung: Darunter versteht man eine Maladaption der Nerven: Anhaltende Schmerzreize führen zu einer verstärkten Informationsweiterleitung der Schmerzimpulse und es entsteht eine zentralnervöse Überempfindlichkeit durch Absenkung der Schmerzschwelle. Der Schmerz verliert seinen üblichen Warncharakter, verselbständigt sich und wird zum eigenständigen Krankheitsbild).
Schmerzen sind immer Warnsignale, die zum Schonen und Nachdenken über Bewegungsabläufe anregen. Man sollte sowohl im Alltag als auch am Instrument einen Schritt zurückgehen, unterhalb der Schmerzgrenze bleiben und dann allmählich wieder auftrainieren.
Was mache ich aber in einem akuten Fall. z.B. ich muss in einer Stunde auf die Bühne und habe Verkrampfungen, Probleme – gibt es kurzfristige Hilfe?
Für Sänger ist das natürlich eine spezielle Situation. Bei Instrumentalisten mit Verspannung hilft Wärme sehr gut. Bei Entzündungen würde der Körper deutliche Signale geben, z.B. auf Wärme eher negativ reagieren, hier wäre dann besser Kühlung angebracht. Man kann auch Bandagierung und Stützverbände machen, was zwar keine Heilung ist, aber ein Gefühl von Sicherheit gibt. Schmerzgels können Linderung verschaffen und wenn man bereits entsprechende Erfahrung hat, kann man auch kurzfristig mal zu beispielsweise Ibuprofen oder Diclofenac greifen. Wärme hilft auch bei nervös bedingter Verkrampfung, denn siemacht die Muskulatur weicher.
Für das Psychische als auch für das rein Körperliche ist natürlich auch die progressive Muskelrelaxation Gold wert, weil man lernt, eine Überspannung überhaupt erst wahrzunehmen und aus ihr herauszukommen. Das ist allerdings eine eher lang angelegte Herangehensweise, denn es gibt immer kurz- , mittel- und langfristige Strategien. Aus diesem Grund ist es auch ratsam, sich mit langfristigen Methoden auseinanderzusetzen, damit man im Ernstfall ein kleines Repertoire bzw. einen “Werkzeugkasten” zur Verfügung hat.
Wie ist der Stellenwert von Alexandertechnik oder Feldenkrais?
Da sich alle diese Methoden im weitesten Sinne um Körperwahrnehmung und Körpergefühl drehen mit dem Ziel, aus Überspannungen herauszukommen bzw. das richtige Maß an Muskelspannung zu erkennen, können sie sehr hilfreich sein. Das Bewusstsein zu schärfen, wie groß die Anspannung ist, ob meine Bewegung ökonomisch sind oder nicht etc. ist das Ziel all dieser Verfahren. Ich halte es für absolut notwendig, dass jeder Musiker sich damit auseinandersetzt. Dasselbe Verfahren ist nicht für jeden das das richtige, was bestimmt auch eine Typfrage ist.
Wie stehen sie dann zu Osteopathie?
In Deutschland wird das häufig, im Gegensatz zu anderen Ländern, noch als “Alternativmedizin” angesehen, wobei viele Osteopathen auch aus dem Bereich der Physiotherapie kommen. Von Kassen wird das nur teilweise übernommen. Auch hier wird die ganzkörperliche Wahrnehmung gesteigert und der Körper wird als Ganzes behandelt, um z.B. Blockaden festzustellen, die den Gesamtbewegungsfluss stören.
Wir arbeiten als Musiker immer in Bewegungsketten und die müssen frei sein. Wenn z.B. im Arm eine Blockade sitzt, kann die Hand nicht ungehindert agieren. Hier ist die Osteopathie zwar eine hilfreiche Methode, aber der Forschungsstand ist aus Sicht der Krankenkassen noch nicht ausreichend, um die Kosten zu übernehmen. Das auch, obwohl wir viele gute Erfahrungen damit gemacht haben und eine neuere Studie der Charité durchaus positiv ausfällt. Insofern würde ich Osteopathie nicht als Alternativmedizin abtun, es ist schlichtweg noch nicht ausreichend erforscht und darum ist man in Deutschland noch etwas zurückhaltend.
Wie sieht es mit psychischen Erkrankungen oder Suchterkrankungen im Musikerbereich aus?
Da existieren sich widersprechende Studien, doch insgesamt gibt es keinerlei Belege für erhöhte Depressionserkrankungen oder Suchterkrankungen bei Musikern gegenüber anderen Berufsgruppen.
Sicherlich ist es so, dass Musiker sich stärker über ihre Leistungen und künstlerische Fertigkeiten definieren und Spitzenleister durch ihren hohen Übe-Aufwand in ihrer Kindheit anders sozialisiert sind. Entsprechend groß und angstbetont ist ihr Leidensdruck im Falle von Erkrankungen, die das Musizieren beeinträchtigen.
Wer sich für Prof. Dr. Schuppert und ihre Arbeiten interessiert, findet hier weitere Informationen:
- Hochschule für Musik Würzburg – Prof. Dr. Maria Schuppert – Musikermedizin / Musik & Gesundheit
- Musik & Gesundheit
Hier findet ihr den Link zur Deutschen Gesellschaft für Musikphysiologie und Musikermedizin
Auswahl von Publikationen
Zeitschriftenbeiträge
- Schuppert M, Altenmüller E. Musikermedizin in Deutschland: eine Standortbestimmung. Musikphysiologie und Musikermedizin 2016; 23: 109-124.
- Schuppert M, Kerber S. Kardiologische Fragestellungen bei Musikern – Review. Musikphysiologie und Musikermedizin 2015; 22: 55-60.
- Schuppert M, Simon S: Vorbereitung auf den Arbeitsplatz. Herausforderungen und Aufgaben für die musikalischen Ausbildungsinstitutionen. Das Orchester 1-2015: 28-30.
- Schuppert M: (Ein-)Blick ins Innere. Zur Bedeutung internistischer Fragestellungen beim Musizieren. Das Orchester 12-2014: 32-34.
- Schuppert M. Rückschritt mit Fortschritt: Musizieren und Alter(n) aus Sicht der Musikermedizin. Musikphysiologie und Musikermedizin 2014; 21: 144-153.
- Schuppert M. Hämoglobin im Urin nach exzessivem Trommelspiel. Kurz-Review. Musikphysiologie und Musikermedizin 2013; 20: 126-127.
- Schuppert M. Kreativität und Motivation: gesundheitliche Ressource im Orchester. Musikphysiologie und Musikermedizin 2012; 19: 9-15.
- Schuppert M, Verges D, Schuppert F. Refluxbeschwerden bei Sängern und Bläsern – Review. Musikphysiologie und Musikermedizin 2011; 18: 1-9.
- Schuppert M: Einen fruchtbaren Boden bereiten. Zur Implementierung der Musikergesundheit in die Hochschulausbildung. Üben & Musizieren 1-2010: 22-27.
- Schuppert M: Kompetenzen – Kontakte – Kommunikation. Was leisten musikermedizinische Fachgesellschaften und lokale Netzwerke für die Musikergesundheit? Das Orchester 2009; 57(2): 26-27.
- Schuppert M, Choi S. Drum kann auch ein Kind nie im Leben Kontrabass spielen” – oder doch? Wie Entwicklungen in Ergonomie und Pädagogik Patrick Süskind widerlegen. Musikphysiologie und Musikermedizin 2003; 10: 162-170.
- Schuppert M, Münte T, Altenmüller E: Recovery from receptive amusia suggests functional reorganization of music-processing networks. Zeitschrift für Neuropsychologie 2003; 14: 113-122.
- Schuppert M, Schuppert F. Beeinträchtigungen des Instrumentalspiels durch Arzneimittelnebenwirkungen. Musikphysiologie und Musikermedizin 2001; 8: 67-74.
- Schuppert M, Schuppert F: Handprobleme bei Musikern mit Stoffwechselerkrankungen und Hormonstörungen. Musikphysiologie und Musikermedizin 2001; 8: 19-25.
- Schuppert M, Münte TF, Wieringa BM, Altenmüller E: Receptive amusia: Evidence for crosshemispheric neural networks underlying music processing strategies. Brain 2000; 123: 546-559.
- Schuppert M: Sensomotorik der Musikausübung und berufsbezogene neurologische Erkrankungen. Deutsches Ärzteblatt 1997; 94: A463-464.
- Schuppert M, Wagner C: Wrist symptoms in instrumental musicians: Due to biomechanical restrictions? Med Probl Perform Art 1996; 11: 37-42.
Buchbeiträge
- Schuppert M: Mehr als “Pflicht und Kür”. Zur Definition und Implementierung der Musikergesundheit in der Ausbildung. In Kruse-Weber S. (Hrsg.): Tagungsband des Symposiums “Traum und Wirklichkeit. Gesundes und motiviertes Musizieren”. Schott Verlag, Mainz, 2015: 167-179.
- Schuppert M: Musizieren und Altern(n) aus Sicht der Musikermedizin. In Gembris H. (Hrsg.): Musikalische Begabung und Alter(n), Schriften des Instituts für Begabungsforschung in der Musik, Band 7. LIT Verlag, Berlin, 2015: 144-153.
- Schuppert M: Innere Medizin. In: Spahn C, Richter B, Altenmüller E. Musikermedizin – Diagnostik, Therapie und Prävention von musikermedizinischen Erkrankungen. Schattauer GmbH, Stuttgart, 2010.
- Schuppert M: Amusie: Störungen der Musikverarbeitung. In: Bruhn H, Kopiez R, Lehmann AC, Oerter R (Hrsg.): Musikpsychologie. Das neue Handbuch. Reinbek: Rowohlt Taschenbuch Verlag 2008; 613-629.
- Schuppert M, Altenmüller E: Test zur Überprüfung der Musikwahrnehmung. Mit Test-CD. Forschungsberichte (13), Institut für Musikphysiologie und Musiker-Medizin der Hochschule für Musik und Theater Hannover in Kooperation mit dem Institut für Musikpädagogische Forschung der Hochschule für Musik und Theater Hannover 2001; ISSN 1430-8088, ISBN 3-931852-12-1.
Herausgeberschaft
- Mitherausgeberin der Zeitschrift “Musikphysiologie und Musikermedizin”
- Mitglied im Editorial Board der Zeitschrift “Medical Problems of Performing Artists”