Englische Songtexte nur für Muttersprachler?

An einem Donnerstagabend in Berlin-Neukölln. Letzte Probe vor dem wichtigen Showcase der Band “Wochenende”. In der Raucherpause werden noch ein paar organisatorische Angelegenheiten geklärt. Es ist alles wie vor einem Jahr – mit einem Unterschied: Heute schreibt die Band keine englischen Songs mehr, sondern deutsche.

(Bild: @ Shutterstock / BrAt82)
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Anton, Henri, Max, Emil und Lola machen schon lange gemeinsam Musik und haben viel und regelmäßig gespielt – ob im Vorprogramm von befreundeten Bands, als Headliner oder bei lokalen Bandwettbewerben.
Nach ungefähr drei Jahren waren sie an dem Punkt, den viele Bands früher oder später erreichen: Mit den eigenen Booking-Möglichkeiten und Fähigkeiten kann die Band nicht die nächste Stufe erreichen. Für gute Support- oder Festivalslots fehlt das Netzwerk und die Expertise. Die Suche nach einer passenden Booking-Agentur beginnt. Aber egal mit wem sich die fünf treffen, die Antwort ist immer und immer die gleiche: “Musik ist gut, aber vielleicht probiert ihr es mal mit deutschen Texten?!”
Warum ist das eigentlich so? Warum gibt es in Deutschland so viele qualitativ hochwertige Bands und Solokünstler, denen ihre englischen Texte wie eine Karrierebremse oder -stagnation im Weg stehen? Warum dominiert in der populären Musiklandschaft in Deutschland seit Jahren eine engstirnige und mutlose Haltung innerhalb der Musikindustrie gegenüber englischsprachigen Solokünstler und Bands?

Innovation vor Qualität

Als Vorbereitung auf diesen Artikel habe ich einen jungen A&R aus Berlin gefragt, was er zu diesem Thema denkt und möchte im Folgenden seinen Standpunkt sinngemäß wiedergeben: Es gibt zu viele Künstlerinnen und Künstler, die versuchen etwas zu machen, dass es in Großbritannien und den USA schon besser gibt. Ein Produkt oder eine Marke, die bereits erfolgreich Songwriting und Marketing betreibt, zu kopieren, ist nicht nur langweilig und mutlos, sondern zum Scheitern verurteilt – innerhalb und außerhalb Deutschlands.
Ein Beispiel: Eine Adele mit deutschen Texten minimiert das wirtschaftliche Risiko. Die Solokünstlerin mit ähnlicher Stimmfarbe und Optik wird im deutschsprachigen Raum erfolgreich platziert. Gängige Werbe- und PR-Kampagnen greifen, die Marketingstrategien gehen auf. Die bekannten Mechanismen der Musikindustrie funktionieren erstaunlich zuverlässig. Und einfach. Das Alleinstellungsmerkmal? Sie singt auf Deutsch.
Auf die Dauer ist das aber auch nicht sonderlich innovativ, sondern sehr konstruiert und industriell ausgerichtet. Neue und spannende, vor allem eigenständige Künstler und Bands aufzubauen, sollte das primäre Ziel möglicher Geschäftspartner (die finanziell und fachlich fördern) sein und nicht eine hochfrequentierte Original/Kopie-Maschinerie in Landessprache. Oder?

Unique Selling Point Nummer 1

…oder auch das omnipräsente ,,Alleinstellungsmerkmal”. Die Frage ist: Was zeichnet euch als Band aus? Was ist eure Geschichte, die euch einzigartig macht, um beispielsweise bei Veranstaltern beim Booking gegenüber anderen Bands herauszustechen? Wie wollt ihr euch vermarkten?
Dieses “Storytelling” ist wichtig, um das eigene Profil zu schärfen und damit auch ein wichtiger Bestandteil des Pressetextes – für viele so mühsam und belastend wie Ansagen machen. In diesem Zusammenhang fällt mir immer wieder auf, wie oft in Pressetexten zu lesen ist, die Sängerin oder der Sänger habe ein englischsprachiges Elternteil. Ich gehe noch weiter: Es scheint die Legitimation zu sein, als nicht Native Speaker englische Texte zu schreiben und zu singen. Es wird fast immer als Aufhänger genutzt, um eine Art Berechtigung, ja Legitimation zu schaffen, englischsprachige Eigenkompositionen zu spielen – mit Qualitätssiegel obendrauf.
Ein großer Pluspunkt, der einfach da ist. Ähnlich unkompliziert akzeptiert werden skandinavische Bands, obwohl der Native-Speaker-Faktor hier wegfällt.
Ob jemand in Deutschland geboren und aufgewachsen ist und mit der anderen Sprache kaum anders sozialisiert ist, spielt dabei keine Rolle. Mit englischen oder kanadischen Wurzeln werden die Songtexte der Sängerin oder des Sängers nicht so scharf unter die Lupe genommen. Diese Tatsache an sich ersetzt den intensiveren Blick auf eine fehlerfreie Grammatik, sichere Syntax, einen schönen Sprachstil usw. Sie legitimiert alles, was den Nicht-Muttersprachlern von vornherein (alternativ: pauschal) abgesprochen wird. Dieser Tatsache liegt eine gewisse Absurdität inne.

Im Zeitalter der Digitalisierung

Wir leben in Zeiten des technischen Fortschritts – aufgewachsen und großgeworden in einer Gesellschaft im Wandel und Wechsel. Spielt in einer globalen und digitalisierten Welt die Herkunft eines Künstlers noch eine Rolle?
In den meisten europäischen Staaten wird wenig bis kaum synchronisiert (Netflix nur mit OV oder OmU). Der Bologna-Prozess hat unser deutsches Hochschulsystem zu einem einheitlichen europäischen Hochschulraum reformiert. Vorlesungen, Seminare, Abschlussarbeiten, ganze Studiengänge sind auf Englisch. Bilinguale Kitas gibt es nicht nur in den urbanen Großstadtvierteln, sondern auch im ländlichen Raum. Spätestens in der Grundschule kommt jedes Kind mit der englischen Sprache in Kontakt. Wer kann da noch unterscheiden, aus welchen Gründen eine Künstlerin oder ein Künstler gut mit der englischen Sprache umgehen kann? Kindheitsstube, Erziehung oder Studium der Anglistik oder einfach ein hoher Netflix-Konsum: letztendlich zählt, wie fantasievoll, kreativ und vor allem innovativ die Handschrift ist.

Der Sprachgebrauch in der Musikindustrie

Wenn wir uns kommerziell erfolgreiche Künstler und Bands anhören, fällt auf, wie beschränkt und eintönig größtenteils die Sprachfelder sind, in denen getextet wird – sich stetig wiederholende Phrasen und Floskeln sind bei den großen Radiostationen an der Tagesordnung. Songs, die einen Platz in der Dauerrotation ergattern, sind sprachlich noch vergleichbarer als produktionstechnisch und soundästhetisch. Ein umfangreicher und gehaltvoller Wortschatz scheint nicht wirklich notwendig zu sein.

Made in Deutschland

Ein gutes und vor allem erfolgreiches Beispiel ist Milky Chance. Die beiden Männer aus Kassel haben mit Folktronic ein eigenes Genre aufgemacht und weltweit Top-Ten-Platzierungen erreicht. Sie haben es geschafft, Trends zu setzen, die bleiben. Wankelmut feiert mit seinem Remix “One Day” ebenfalls internationale Erfolge und bringt das Genre Deep House auf eine neue Stufe.

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Die wunderbaren Boy haben sich nicht aus der Ruhe bringen lassen und sind mit ihrem Video zur ersten Single “Little Numbers” international viral gegangen. Auch Rammstein haben etwas geschaffen, wofür es vorher keine Schublade gab. Mit klugem Konzept, hohem Wiedererkennungswert in Ästhetik und Sound und einer gigantischen, immens aufwändigen Live-Show haben sie neue Maßstäbe gesetzt. Nach vergleichbaren Künstlern zum Zeitpunkt ihres Durchbruchs sucht man vergebens.
Qualität setzt sich leider nicht immer durch. Es geht um Musik – und um deren Vermarktung. Macht euch darüber Gedanken, wie ihr euch präsentieren und positionieren wollt. Erarbeitet ganz konkret euer Alleinstellungsmerkmal heraus und benutzt die Tatsache, dass ihr englische Musik macht, nicht als Ausrede! Das kann langfristig zu einer unzufriedenen, zynisch-verbitterten Grundhaltung führen, die durch soziale Medien und der daraus resultierenden permanenten Vergleichbarkeit verstärkt wird.
Überlegt euch stattdessen lieber, was geht und was nicht geht! Plötzlich auf Deutsch zu singen kann nicht das Allheilmittel sein – zumal es viele Künstler gibt, die auf Deutsch schlichtweg nicht so gute Texte schreiben wie auf Englisch. Wie viel Kompromissbereitschaft ist für euch persönlich vertretbar um z.B. einen Song radiotauglicher zu produzieren oder einen Majordeal unterschreiben zu können? Lasst euch bei dieser Entscheidung von nichts und niemandem beeinflussen und schaut besser auch nicht nach links und rechts zu Künstlern oder Bands, die musikalisch oder marketingtechnisch ähnliche Wege gehen.
Lasst euch nicht verbiegen oder aus der Ruhe bringen! Bleibt euch treu, obwohl und gerade weil ihr euch stetig weiterentwickelt! Schreibt in der Sprache, in der ihr euch wohlfühlt und bei der ihr bei euch bleiben könnt – sonst steht ihr nicht hinter dem, was ihr macht, sondern daneben und schaut euch womöglich irgendwann mit einem großen Fragezeichen und Kopfschütteln von außen zu.
Barbara

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