Physical Modeling zum Greifen nahe? Mit einem hochwertigen Desktop-Modell möchte Erica Synths diesen Wunsch nun offenbar erfüllen. Erica Synths Steampipe ist in Zusammenarbeit mit der Software-Firma 112dB entstanden, welche die interne Reverb-Sektion beisteuert. Eine große Bedienoberfläche erlaubt mit über 30 Reglern einen direkten Zugriff auf Modeling-Parameter. Eigene Interpretationen von Blas- und Zupfinstrumenten, aber auch ungewöhnliche Sounds sollten sich damit modellieren lassen.



Physical Modeling hat eine lange Tradition
Seit Mitte der 90er Jahren verfolge ich das Thema Physical Modeling. Yamaha VL-1, Korg Prophecy und auch der Technics WSA-1 waren damals erste kommerzielle PM-Synthesizer, die man sich durchaus leisten konnte. Große Erfolge am Markt erzielten sie aber nicht und so tauchen Hardware-Instrumente mit Physical Modeling kaum noch auf. Meine Erfahrung mit dieser Syntheseform auf den Punkt gebracht: Ein hoher Klangrealimus lässt sich zwar per Sampling besser erzielen, Physical Modeling bringt aber ein natürlicheres Klangverhalten ins Spiel, insbesondere beim Einsatz von speziellen MIDI-Controllern.
Erica Synths Steampipe verfolgt einen Performance-Ansatz
Einen akustischen Klang virtuell selber formen und dynamisch spielen – darum geht es auch beim Erica Synths Steampipe. Im Grunde wendet sich dieser Desktop-Synth an traditionelle Musiker, die frei und ausdrucksstark performen möchten und nicht ständig im Editor hängen bleiben wollen. Bei einem Preis von derzeit über 1.000 Euro erwarte ich eine möglichst große Bandbreite an realistisch klingenden Instrumenten, viel Spaß beim Klangschrauben und neuartige Möglichkeiten. Nur ein Wunschdenken? Finden wir es in diesem Test heraus.

Erster Eindruck vom Desktop-Synth mit Physical Modeling
Erica Synths Steampipe platziert sich breit und optisch seriös auf dem Desktop. Selbst für große Hände sind die Drehregler ideal und animieren sofort um Anfassen. Die mechanische Verarbeitung zeigt sich ziemlich robust und das Gerät macht einen rundum hochwertigen Eindruck. Für einen schmalen Producer-Tisch finde ich es sogar fast schon zu großformatig. Meinetwegen hätte man die Abmessungen um fast die Hälfte reduzieren können. Das Controller mit einem OLED-Display und zwei Encoder wirkt dagegen angenehm schlicht. Man benötigt es hauptsächlich für speziellere Parameter, die nicht auf dem Panel liegen, und für das Modulation Mapping.

Auf der Rückseite lassen sich das externe Netzteil und ein Sustain-Pedal sowie zwei MIDI-Stecker In/Out anschließen. Einen USB-Port und einen Stereo-Out plus Kopfhörer-Ausgang gibt es natürlich ebenso. Zudem bietet Erica Synths Steampipe noch einen Audio-Eingang – passt!

Erica Synths Steampipe nutzt einen Karplus-Strong-Algorithmus für Blas- und Streichinstrumente
Die Tonerzeugung ist zwar anders bei klassischen Synthesizern, aber nicht vollkommen neu: Steam basiert auf einem stark modifizierten Karplus-Strong-Algorithmus – ein gestimmtes Delay mit Feedback. Er modelliert nicht nur gezupfte Saiten, sondern auch Mallets wie Xylophon oder Marimba, disharmonische Gongs, Bells und andere metallische Klänge sowie vor allem Blasinstrumente und Pfeifenorgeln. Für die Simulation von Bläserklängen kommt der Push-Pull-Mechanismus zum Tragen. Er erzeugt den typischen „Pfeifton“, indem er die Pfeife schwingen lässt.

Mit einer veränderbaren Sättigung lassen sich die Resonanzen in Grenzen halten. Der Saturator kann auch asymmetrisch wirken und eine Balance zwischen ungeraden und geraden Obertönen ermöglichen. Im Feedback-Signal setzen ein Hochpass/Tiefpass-Filter an. Sie lassen sich auch so modulieren, dass ein geräuschvolles „Überblasen“ aufkommt.
Steam und Pipe bilden die beiden Klangmodule
Richtig, das Physical Modeling bei Steampipe ist ein eigener Soundkosmos. Er bildet physikalische Gegebenheiten nach. Auf dem Panel finden sich daher keine Oszillatoren mit den klassischen Wellenformen, sondern zwei Bereiche, die Erica Synths treffend „Steam“ und „Pipe“ nennt. Bei Steam gibt es den klangerzeugenden Generator mit einem Filter und einer ADSR-Hüllkurve. Das Feedback, die Saturation und eine Delay Box definieren die Pipe als zweites Klangmodul. Hier lassen sich auch verschiedene Voice Modes einstellen: Mono, Unisono, Poly mit acht Stimmen plus Portamento.

LFOs und Reverb sind mehr als Zugaben
Auf der rechten Seite des Panels liegen der Reverbator (Hall) und Modulator (LFOs). Der Reverb lässt sich mit insgesamt sechs Reglern einstellen. Neben Mix und Spread sind dies Size und Spin sowie Bass und Treble. Diverse Hall-Typen lassen sich zwar nicht auswählen, der Hall ist aber ein großartiges Werkzeug für weite, atmosphärische Soundflächen. Man sollte jetzt aber nicht noch mehr erwarten: Der Audio-Eingang ist nicht zur Nutzung des Reverbs vorgesehen. Eingehende Audio-Signale werden in kurze Samples zerhackt und ersetzen den Noise-Burst der Pipe-Modules für ungewöhnliche Klangeffekte.

Der Erica Synths Steampipe verfügt noch über fünf vielseitige und tempo-synchronisierbare LFOs mit den Parametern Delay, Speed, Morphing Wave, Shakes und Modulation Amount. Sie lassen sich mehreren Parametern zuweisen.

Der Steampipe ist offen für flexible MIDI-Setups
Grundsätzlich sind Wind- und MPE-Controller bei Steampipe willkommen. So lassen sich sich die Klänge lebendig spielen und spontane Vibrati oder Overblow-Effekte erzeugen. Im MIDI Setup sind MPE-Controller wählbar, so beispielsweise Haken Continuum, Sensel Morph, LinnStrument oder K-Board Pro. Jeder Parameter ist per MIDI CC-Befehl steuerbar. In der Modulationsmatrix kann man das Ganze auf die Spitze treiben und die Steuerung der Klang- und Effektparameter an seinen Controller beziehungsweise seiner persönlichen Spielweise anpassen.
Nicht zu vergessen: Der Synth lässt sich per USB am Rechner anschließen zwecks Im/Export von Presets oder für Firmware Updates. Im Ganzen sind 192 Klänge intern speicherbar – das genügt.