Die Bedienung des Erica Synths Steampipe ist nicht so einfach wie vermutet
Eine große Oberfläche mit vielen Reglern – das kann nur gut sein, oder? Der Schein trügt ein wenig. Wer bisher nur mit einer Konstellation aus Sägezahn-Oszillator, Tiefpass-Filter und Pitch-LFO hantierte, muss sich kolossal umstellen: Sweet Spots wollen beim Modeling erst einmal gefunden werden und wie bei der FM-Synthese wird man immer wieder von klanglich fiesen Ausreißern beim Editieren überrascht. Im Grunde wünsche ich mir konzeptionell einen anderen Zugang: Ein Knob zur Auswahl von Instrument-Modellen (Brass, Reed, Pluck, etc.) sowie eine überschaubare Anzahl an Reglern, die sich an der subtraktiven Synthese orientieren.

Das eigentlich umfangreich verfasste Manual verliert zu meiner Überraschung kaum ein Wort über den Einsatz eines MIDI-Wind-Controller. Als User wird man schon herausgefordert, seine eigene Anpassungen zu programmieren. Mit einem Software-Editor würde einiges schneller laufen, so vor allem bei der Modulationsmatrix und der Zuweisung spezifischer Controller.
Dass man alle Parameter über MIDI CC steuern kann, ist beim Produzieren sicherlich praktisch. Überraschenderweise gibt Streampipe aber keine MIDI-Daten heraus, wenn man an den Reglern dreht. Wer das Gerät im Studio als MIDI-Controller nutzen möchte, was sich durchaus anbietet, darf sich erst einmal selber darum kümmern.
Erica Synths Steampipe bietet ein überschaubares Preset-Aufgebot
Der Desktop-Synthesizer kommt offiziell mit 64 Presets. Für aussagekräftige Klangbeispiele habe ich nicht weniger als 20 Audio-Demos erstellt. Tatsächlich zeigt diese Auswahl auch schon quasi das gesamte Kernrepertoire an Klängen. Normalerweise habe ich als Tester immer das Gefühl, nur einen kleinen Ausschnitt des Synthesizers demonstrieren zu können – hier ist es anders.
Alle Presets sind live am Controller-Keyboard mit ein wenig Modulations- und Pitchbend-Wheel eingespielt worden. Sehr gut hat es mir gefallen, nicht auf ein oder zwei Stimmen herumzureiten, sondern bis zu achtstimmige Akkorde greifen zu können. Eigentlich will aber Steampipe mit einem Wind-Controller performt werden. Und ich bin mir sicher, dass die Presets sich mindestens genauso flüssig spielen lassen als auf einer Tastatur.
Reverb und Wind Instrumente sind die Markenzeichen
Ganz klar ist der interne Reverb die halbe Miete. Jeder Ambient-Fan wird begeistert sein von den langen samtigen Hallwolken. Wie die vielen Audio-Demos zeigen, sind sie ein feste Komponente des Steampipe-Sounds. Da es immer wieder zu Peaks bei manchen scharfen Klängen kommt, wünsche ich mir noch einen Limiter in der Summe.
Die Audio-Demos zeigen Stärken wie Schwächen: Diverse Flöten, Trompeten, Orgeln, ethnische Blas- und Saiteninstrumente, Glocken, Mallets sind als gut zu bewerten. Der Klangrealismus lässt aber gerade bei Streichern zu wünschen übrig, wie die Presets „Bowed Strings und Celloist“ offenbaren. In Bezug auf Klangrealismus und -vielfalt ist noch Luft nach oben. Insgesamt schätze ich Erica Synths Steampipe als einen Lieferanten neuer hybrider Klänge, die irgendwo zwischen Akustik und Elektronik liegen.
Erica Synths Steampipe hat aktuell sehr wenig Konkurrenz
Aktuell gibt es so gut wie keinen vergleichbaren Desktop-Synth mit Physical Modeling. Eine Ausnahme macht ein kleines Gerät aus Frankreich, das wir im Aodyo Anima Phi Test vorstellen. Mit etwas Glück bekommt man es gebraucht, denn seit einiger Zeit ist der Anima Phi nicht mehr lieferbar. Mit nur einer Stimme, einem Arpeggiator, Granular Processing, Patch Randomizer und einem Software-Editor unterscheidet sich der Anima Phi deutlich vom Erica Synths Steampipe. Er verhält sich mehr als eine kleine Trickbox beim elektronischen Produzieren als ein Performance-Instrument. So betrachtet ergänzen sich die Instrumente der beiden Hersteller gut.
Alt, aber noch immer gut: Yamaha VL-Serie ist eine Option
Ansonsten lohnt es sich, Kleinanzeigen zu studieren. Das Soundmodul Yamaha VL70M ist eine reduzierte Variante des Yamaha VL1 mit expressiv spielbarem Physical Modeling. Als Plugin-Board ist diese Tonerzeugung ebenso zu bekommen. Das PLG150-VL (Virtual Acoustic) bietet monofon spielbare Naturklänge wie Saxofone, Flöten und Blechbläser. Es lässt sich in einige ältere Yamaha-Synthesizer einbauen, so etwa beim Motif ES, CS6x/R und Yamaha S-30. Die 256 Factory Presets von Yamaha müssen sich qualitativ nicht vor Erica Synths Steampipe verstecken.

Anyma Phi von Aodyo ist ein monofoner Desktop-Synthesizer im Mini-Format mit Physical Modeling Tonerzeugung. Wir haben ihn getestet.

Der Yamaha S30 ist ein Sample-ROM-basierter Allround-Synthesizer aus dem Jahr 2000. Zusammen mit dem S80 und CS6x/R gilt er als Wegbereiter großer Workstation-Serien von Yamaha.
Plugins sind flexibler als Erica Synths Steampipe
Wer sich für Physical Modeling interessiert, kommt mit Software am besten und dabei preiswerter zum Ziel. Als User von Apple Logic Pro X braucht man eigentlich gar nicht weiter zu investieren. Schon der interne Modeling Synth Sculpture bietet ein abwechslungsreiches Physical Modeling bei 16-facher Polyfonie und sogar für 5.1 Surround-Mischungen. Zusammen mit dem ebenfalls in Logic Pro X enthaltenen ChromaVerb übertrifft er das Potenzial eines Erica Synths Steampipe.
Man braucht aber nicht unbedingt einen Mac oder ein iPad. Auch andere Software-Anbieter haben gute Plugins mit Physical Modeling. Das sind nur einige Beispiele: AAS Chromaphone 3, AAS String Studio VS-3, Baby Audio Atoms oder IK Multimedia Modo Bass 2.






