Der scheinbare gesellschaftliche Konsens gebündelt auf der Brust eines stolzen T-Shirtträgers: „Sad Songs Make Me Happy“. Wie bitte? Was auf den ersten Blick wie ein gehöriges Paradox daherkommt, klingt auf den zweiten gar nicht mehr so abwegig. Denn wer suhlt sich nicht gerne mit Wohlgefühl im akustischen Leid von Schmerz gequälter Musiker? Der englische Schriftsteller Robert Burton stellte bereits vor über 400 Jahren in seinem Werk zur Anatomie der Melancholie fest: „Many men are melancholy by hearing music, but it is a pleasing melancholy that it causeth; and therefore to such as are discontent, in woe, fear, sorrow, or dejected, it is a most present remedy.” Dieser scheinbare Widerspruch beschäftigt auch Experten, die an der Schnittstelle von Musik und Emotion forschen. Ein Versuch, etwas Licht in die Sache zu bekommen.
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Mehr InformationenBarbers Adagio for Strings gilt als eines der traurigsten klassischen Werke und wird immer wieder bei traurigen Anlässen, wie beispielsweise der Beisetzungen John F. Kennedys oder Grace Kellys, aufgeführt. Darüber hinaus wurde das Stück in zahlreichen Filme (u. a. Platoon, Die fabelhafte Welt der Amélie) verwendet.
Geliebter Schmerz
Wenn uns Musik wahrhaft traurig macht, wieso würden wir uns diesen Schmerz freiwillig antun? Welchen Mehrwert bringt sie uns, abseits des Leids? Sieht man sich in der Kunst um, ist es nicht nur die Musik, die immer wieder das große Leid thematisiert. Man denke da an Gemälde wie Picassos Guernica oder unzählige Filme, bei denen kein Auge trocken blieb. Nicht erst heute genießen Menschen traurige Musik. Lässt man den Blick über die Geschichte schweifen, findet man den ein oder anderen Vertreter dieser paradoxen Vorliebe. „Melancholie ist das Vergnügen, traurig zu sein“, lässt etwa Victor Hugo verlauten. Percy Bisshe Shelley stimmt ein: „Our sweetest songs are those that tell of saddest thought.“ Eine Studie von Huron und Ladinig zeigt: ca. zwei Drittel aller Teilnehmenden bestätigen die Aussage „ Ich genieße es, traurige Musik zu hören“. Ein Zehntel ging sogar so weit zu behaupten, traurige Musik wäre jene, die sie am meisten genössen. Um zu verstehen, wieso das genau so ist, dröseln wir die ganze Sache einmal auf. Was ist Traurigkeit? Und wie klingt sie eigentlich? Wie kann man sie messen? Und wie kann sie uns glücklich machen?
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The Sound of Sadness
Traurigkeit ist ein negativ bewertetes Gefühl, fast niemand ist eigentlich gerne traurig. Den Personen in unserem Umfeld merken wir an, dass sie traurig sind, wenn sie niedergeschlagen sind, keinen Appetit haben oder mundfaul sind. Natürlich tickt jedoch jeder Mensch unterschiedlich, bei jeder*m prägt sich eine traurige Stimmung anders aus. Traurigkeit ist eine Emotion, die als unangenehm gilt und eigentlich gerne vermieden wird. Denn genauso wie wir Wege suchen, körperlichen Schmerz nach Möglichkeit zu umgehen, versuchen wir selbiges auch mit dem seelischen. Traurigkeit bringt uns zum Grübeln. Wir beginnen, unsere Lebenssituation zu überdenken – bewusst oder unterbewusst. Unser Ziel ist es, unser Verhalten so anzupassen, dass unsere Situation verbessert wird.
Wie alle wahrscheinlich bestätigen können, sind gerade die Hörerlebnisse bei trauriger Musik jene, die besonders erfüllend, wenn nicht sogar am erfüllendsten, sind. Ist es also dann angebracht, von wahrhaftiger Traurigkeit zu sprechen, wenn das Erleben gar nicht negativ ist? Hier müssen wir trennen: denn auf der einen Seite steht die Emotion, welche von der Musik übertragen wird. Auf der anderen Seite steht die, die von der Zuhörerschaft gefühlt wird. In unserem Fall ist das Verhältnis dieser beiden Emotionen negativ, weil sie nicht miteinander übereinstimmen: Die Musik ist traurig, wir Hörende fühlen uns jedoch behaglich. (Quelle)
Laura Sizer, Professorin der Philosophie, unterscheidet beim von der Hörerschaft erlebten Gefühl zwischen Stimmungen und Emotionen. Während Emotionen darauf zielen, Handlungen längerfristig anzupassen, beeinflussen Stimmungen tendenziell eher die Wahrnehmung, wirken also kurzfristiger. Dieser diffuse emotionale Zustand der Stimmung steuert also mehr, wie wir denken anstelle was wir denken. Trotzdem bleibt: auch traurige Stimmungen sind unangenehme Erfahrungen, die wir eigentlich vermeiden wollen.
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Doch wie klingt diese traurige Musik eigentlich? Wie wir uns bei Tristesse artikulieren, hat sich auf das Erschaffen trauriger Musik übertragen. Denn wenn wir betrübt sind, sprechen wir tendenziell langsamer, leiser, tiefer und mit weniger Variation in der Tonhöhe. Ähnlich klingt auch traurige Musik: sie ist langsamer, leiser, tiefer und nutzt kleinere Intervalle.
Das Maß der Traurigkeit
Unterschiedliche Forscher unterschiedliche Wissenschaften nutzen unterschiedliche Wege, Traurigkeit zu messen. David Huron, Wissenschaftler an der Ohio State University, schreibt über die Ausschüttung von Prolaktin. Dies ist ein Hormon, das unter anderem ein Gefühl von Ruhe, Wohlbefinden und Trost herbeiführt und beispielsweise nach dem Sex ausgeschüttet wird. Weinen wir aufgrund seelischen Schmerzes, so kann auch ein hoher Anteil von Prolaktin in unseren Tränen festgestellt werden. Anders, wenn unser Tränenfluss – völlig emotionslos – durchs Zwiebelschneiden angeregt wurde. Prolaktin wird aber nicht nur beim Weinen ausgeschüttet, sondern auch, wenn wir tränenlos unglücklich sind. Misst man den Wert von Prolaktin im Blut, kann man also Aussagen zur Wirkung trauriger Musik bei Hörer*innen treffen. Eine hohe Konzentration von Prolaktin wird in den Zusammenhang mit einer angenehmen von Musik herbeigerufenen Traurigkeit assoziiert, ein niedrige Konzentration von Prolaktin mit einer unangenehmen Traurigkeit.
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Mehr Informationen“Was hast du der Menschheit jemals Gutes gebracht? Außer Musik und Kunst und billigen Gedichten?” frägt Gibsert zu Knyphausen an die Melancholie gewandt.
Mit der Elektromyographie kann die Muskelaktivität im Gesicht gemessen werden. Unbewusste Mikro-Ausdrücke in unserer Mimik sind ziemlich aussagekräftig über unsere emotionale Verfassung. Bei trauriger Musik ist beispielsweise unser Stirnrunzel-Muskel besonders aktiv. Er sorgt für das herabziehen der Augenbraue und, namensgebend, für das Runzeln der Stirn. Wir spiegeln unbewusst jenen Affekt, der von der Musik an uns herangetragen wird. Viele der Gehirnregionen, welche bei der Verarbeitung unsere Gemütszustandes aktiv sind, sind auch bei der Verarbeitung von Musik involviert.
Emphatischer Trübsal
Wie kommt es denn nun eigentlich, dass wir uns überhaupt traurig fühlen, wenn wir traurige Musik hören? Auch dies ist ein weites Feld in der Wissenschaft. Einer der Erklärungsansätze handelt von Empathie: Aaron Ridley schreibt von melismatischer Gestik in der Musik, welche menschliche Gestik und Bewegung nachahmt. Wir spiegeln die Geste anschließend mitfühlend in unserem eigenen Körper wider und rufen dabei eine gefühlsbezogene Antwort hervor. Andere Wissenschaftler gehen davon aus, dass Musik Änderungen im Körper und Gehirn bewirken kann, die dann dem Zustand entsprechen, in dem wir uns befinden, wenn wir traurig sind.
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Mehr InformationenTraurigkeit geht gut. Adeles SongSomeone Like You schoss im Nichts an die Spitze der Charts.
Die Freude in der Traurigkeit
Traurige Musik ruft bei den Hörenden einen dynamischen Mix von Gefühlen hervor. Sie kann Traurigkeit bei Hörern herbeiführen oder verstärken, aber die Erfahrung muss nicht vollkommen negativ sein. Traurige Musik kann aber, je nach Hingabe der Rezipierenden, gemeinsam mit einer traurigen Stimmung einen außerordentlichen Feedbackprozess einnehmen: eine traurige Stimmung fördert fokussiertes Musikhören während traurige Musik jene Verhaltensweisen fördern, die einen weiterhin mit der traurigen Musik beschäftigen. Diese Beziehung ist einzigartig und bei keiner anderen Musikform so beobachtet. Denn fröhliche Musik bestärkt die Hörerschaft beispielsweise viel mehr darin, sich zu bewegen – die Aufmerksamkeit ist ausgeweitet und viel anfälliger dafür, sich von der Musik wegzubewegen.
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Mehr InformationenElla Fitzgeralds Aufforderung, den Tränen freien Lauf zu lassen, können wohl nur wenige widerstehen.
Ein wenig könnte der Genuss trauriger Musik unserem Überlebensinstinkt geschuldet sein. Denn wie Endorphine uns angesichts körperlichen Schmerzes weiterhin wehrfähig halten sollen, so tut es das Prolaktin angesichts seelischen Schmerzes. Könnten wir unser Gehirn nun aber hinters Licht führen, und den seelischen Schmerz nur vortäuschen, so würden wir dennoch mit dem behaglich-tröstlichen Gefühl, der Ausschüttung des Prolaktins geschuldet, belohnt werden. Das heißt, das Hören von trauriger Musik würde in unserem Körper eine Reaktion auf seelisches Leid auslösen, welches wir in Wahrheit jedoch gar nicht wirklich erführen.
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Mehr InformationenElton John erkannte schon 1984 den Vorteil trauriger Songs
Dagegen sprechen jedoch unter anderem Thalia Goldsteins Befunde: Sie fand heraus, dass Teilnehmer anders auf fiktionale traurige Geschichten reagieren als auf reale. Das Gehirn scheint wohl durchaus in der Lage zu sein, zwischen wahrem und vorgetäuschten seelischen Schmerz zu unterscheiden. Oscar Wilde offenbarte bereits 1890: „After playing Chopin, I feel as if I had been weeping over sins that I had never committed, and mourning over tragedies that were not my own.“ Rolf Zwaan erwähnte 1994, dass Konsumenten von Fiktion das Beurteilungssystem stumm schalten, welches eigentlich das Stellen skeptischer Fragen und die Kontextualisierung fordert. Wenn dein Partner mit dir Schluss macht, bist du am Boden zerstört. Hörst du aber Ian Curtis, Adele oder einen der anderen von Pein geplagten Sänger*innen zu, wie sie über ihr gebrochenes Herz singen, ist da eigentlich ein gewisses Wohlgefühl. Losgelöst von der chaotischen Komplexität des Alltags können wir uns ohne Konsequenzen der bittersüßen Melancholie hingeben. Die hervorgerufene traurige Stimmung ist pur und nicht, wie es im Alltag oft geschieht, vermischt mit Ängsten oder Sorgen.
Für alle Fans trauriger Lieder: An kälteren Tagen kann besagtes T-Shirt auch gegen einen Kapuzenpulli eingetauscht werden. Erhältlich über Amazon.
Keine Marionetten der Musik
Wieso werden wir aber nun nicht automatisch fröhlich oder traurig, wenn wir Musik hören? Wie kann es sein, dass uns Musik manchmal nur beplätschert, ohne auch nur einen Hauch von Emotion aus uns hervorzukratzen? „We are not Frankenstein’s Monster“, schreibt Laura Sizer. Man muss an der Musik teilnehmen, sich ihr hingeben, um emotional von ihr beeinflusst zu werden. Traurig sein ist auch ein körperlicher Zustand, der Gedanken, Bewegung und Atem beeinflusst – fröhliche Musik kann da irritierend wirken. Nur wenn ich bereit bin, mich auf melancholische Musik einzulassen, werde ich dieses Hörerlebnis genießen können. Wie Jonathan Safran Foer es auf den Punkt bringt: „Songs are as sad as the listener.“
Wilfried Boedeker sagt:
#1 - 11.11.2022 um 11:17 Uhr
Ich kann hier nur vollkommen zustimmen. Traurige Musik hilft mir besonders beim Verarbeiten der Trauer, die ich zum Beispiel beim Tod eines lieben Menschen empfinde. Diese Erlebnisse hatte ich leider in den vergangenen Jahren mehrfach und habe mich dann allein zu Hause hingesetzt, um das "Requiem", von Wolfgang Amadeus Mozart seinerzeit komponiert, in Ruhe und Stille anzuhören. Das gab mir danach die nötige Kraft für meine Trauerarbeit. So ist für mich die Musik auch in solchen Fällen eine Bereicherung.
Lilly sagt:
#2 - 15.11.2022 um 16:56 Uhr
Ich bitte um Vorsicht! Das kann auch übel nach hinten losgehen. Wenn man bereits depressiv verstimmt ist, kann einen traurige Musik wie "Mad World" auch durchaus noch weiter runterziehen. In der dunklen Jahreszeit ist die Selbstmordrate eh schon am höchsten und es wäre doch schade, wenn da noch welche dazukommen...