Vor der heutigen Workshop-Folge sollte man sich gut aufwärmen, denn es geht um die teilweise spektakulären Licks und Fills der Bassisten des zeitgenössischen Gospel. Wer schon einmal YouTube-Videos von Sharay Reed, Daric Bennett, Andrew Gouche oder anderen Größen dieses Genres gesehen hat, war bestimmt von der mühelosen Art und Weise fasziniert, wie die Jungs rhythmisch, harmonisch und technisch anspruchsvolle Grooves und Licks scheinbar einfach aus dem Ärmel schütteln. Das Interessante daran ist, dass dies nicht in einem Solobass-, sondern in einem Bandkontext geschieht.
Dem Bass wird nämlich im Contemporary Gospel sowohl rhythmisch wie melodisch wie auch dynamisch eine besondere Rolle zuteil. Nachdem wir uns in Teil 1 und Teil 2 dieses Workshops mit verschiedenen Grooves etc. beschäftigt haben, wollen wir uns heute von verschieden Seiten dem Thema Fills/Licks
zu nähern, so dass wir in der Lage sind, unsere eigenen Ideen in die Tat umzusetzen.
Gospelchops: Tonmaterial für Fills
Wie bereits für die flotten Bassgrooves des modernen Gospel festgestellt, verschmelzen auch bei den Fill-Ins des E-Basses unterschiedliche Richtungen, wie Soul, Funk, Rock, Pop, Blues und Jazz miteinander.
Gleiches gilt für das Tonmaterial, welches Gospelbassisten für ihre Basslines, aber vor allem für ihre spektakulären Licks und Fills nutzen. Die altbekannte Blues-Tonleiter bzw. die Moll-Pentatonik aus Rock, Blues und Funk findet sich genauso wie fortgeschrittenes Vokabular, das ansonsten eher im Jazz zu hören ist. Insgesamt ergibt sich dadurch ein neuer und einzigartiger Sound, der sich deutlich von anderen Stilistiken abhebt.
Hier stelle ich euch die wichtigsten Aspekte vor:
- Arpeggios: Akkordzerlegungen, meistens mit Optionstönen wie der 7 oder 9 der Skala
- Dur- und Moll-Pentatonik, häufig in Sequenzen oder anderen Kombinationen, die bekannte Klischees aus Blues etc. vermeiden
- Neben Dur- und Moll-Tonleiter Modi, wie Dorisch, Lydisch, Myxolydisch
- Bebop Skalen
- Chromatische Leittöne zu Skalen- oder Akkordtönen – Umkreisung von Akkordtönen mit chromatischen und diatonischen Ton wie z. B. im Bebop.
In dieser PDF-Datei findest du alles Wichtige noch einmal zusammengefasst und erläutert:
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Ein weiterer Punkt, der entfernt mit Tonmaterial zu tun hat, ist der sogenannte Ambitus, also der Tonumfang. Wo man an anderer Stelle traditionell gerne in einer Lage bleibt, wird im modernen Gospel gerne das ganze Griffbrett genutzt. Ein Fill beginnt z. B. relativ hoch auf der G-Saite und führt dann über den Grundton hinaus bis auf die tiefe B-Saite.
Gospelchops: Rhythmische Platzierung von Fill-Ins
Eine Falle, in welche man auch bei eigenen Fills immer wieder tappt, ist, diese auf der Zählzeit 1 zu beginnen und dann auf der 1 des folgenden Takts zu enden. Daran ist zwar nichts falsch, aber es klingt eben häufig etwas statisch und nach einer Art „Baukasten-Aufbau“: „3 Takte Groove/ein Takt Fill“ bzw. „7 Takte Groove/ein Takt Fill“.
Moderne Gospelbassisten machen sich hier einige Ideen, die man von Soli kennt, zu Eigen: Sie starten ihre Phrasen auf eher unüblichen Zählzeiten (also vor oder nach der 1) und führen sie häufig über die Taktgrenzen hinaus in die Mitte des nächsten Taktes – oder sogar noch weiter. Dies löst die starre Form kurzzeitig auf und sorgt für rhythmische Spannung. Dies wird gern als „Out Of The Box“, also „abseits der ausgetretenen Pfade“, bezeichnet.
Gospelchops: Bass-Fills mit viel Eigenständigkeit
Je länger man sich mit Gospel-Licks auseinandersetzt, desto häufiger begegnet man dem Phänomen, dass die Verbindung zum harmonischen Kontext nicht immer ganz einfach zu erklären ist: Die Licks passen mitunter nicht hundertprozentig zum darunterliegenden Akkord. Das ist zwar nicht die Regel, kommt aber dennoch hin und wieder vor. Was im ersten Moment komisch klingt, oder gar den Verdacht erregt, dass sich hier vielleicht jemand verspielt haben könnte, ist eigentlich leicht zu erklären:
Die Licks sind eher als eigenständige kleine Kompositionen zu sehen, die für sich selbst stehen und sich daher durchaus mal vom harmonischen Kontext lösen dürfen. Ihre primären Aufgaben liegen darin, für Dynamik und Energie zu sorgen.
Die harmonische Spannung zwischen Lick und Akkord bringt einen zusätzlichen Reiz mit sich und mündet auch relativ schnell wieder in einer Auflösung. Wie gesagt, es geht hier um „nicht hundert prozentig“ passen und nicht um „völlig falsch“!
Dieser Aspekt ist vor allem für das Entwickeln von eigenen Licks wichtig. Die grundsätzliche Idee sollte an erster Stelle stehen. Idealerweise passt das Lick zum harmonischen Kontext, aber wenn es mal nicht so ist, auch kein Beinbruch.
Gospelchops: Beispiele für Bassfills
Aus der Summe zahlreicher Basslicks und -fills habe ich zwei Beispiele entworfen, in denen die wichtigsten Aspekte enthalten sind. Die Tonart ist Ab-Dur, welche im Gospel recht beliebt ist. Die Anmerkungen zum Tonmaterial stehen im Notentext an den entsprechenden Stellen. Als Grundlage dient eine achttaktige Akkordfolge, die ich relativ einfach gehalten habe, um nicht noch mehr Baustellen zu schaffen.
Die Bassline dient nur als grobe Vorlage – wer möchte, kann hier natürlich auch seine eigenen Ideen verwenden. Unser erstes Fill startet auf der „4e“ im vorletzten Takt der Form und geht bis zur „1te“ des ersten Taktes eines neuen Durchgangs.
Beispiel 1:
Beispiel 1 – Erweiterung:
Das gleiche Fill führen wir jetzt noch ein Stück weiter bis zur 1 des zweiten Taktes, das sorgt für noch mehr temporäre Verwirrung und auch für mehr Wow-Effekt.
Beispiel 2:
Dieses Fill lehnt sich stark an Sharay Reed an und nutzt als Motiv eine Tonleiter-Sequenz. Diese ist über den Akkord Db/Eb nicht ganz schlüssig, ihre Melodik ist aber so zwingend, dass dies keine Rolle spielt. Wieder starten wir bereits im vorletzten Takt der Form und spielen bis zur 1 des zweiten Taktes eines neuen Durchgangs. Auch der Tonumfang beträgt wie bereits bei Fill 2 mehr als zwei Oktaven.
Ok, das bisherige Tempo mit 102 BPM ist schon eine Herausforderung, wenn man ein Fill mit Sechzehntel über das halbe Griffbrett spielt. Leider sind die Gospeljungs da ziemlich humorlos und ziehen ihr Ding auch bei deutlich höheren Tempi einfach durch. Daher noch einmal Fill 2 bei Tempo 120. Wünscht mir Glück!
Das schnellere Playalong passt natürlich auch für Fill Nummer 1, falls jemand den „Need For Speed“ spürt!
Soweit für heute – bis zum nächsten Mal, euer Thomas Meinlschmidt