Der Name „Neve“ ist und bleibt ein heiliger Gral unseres Metiers. Die Diskussion darum, welches aktuelle Gerät den Vintage-Units der goldenen Ära am nächsten kommt, geht ständig weiter. Heritage Audio spielt seit ein paar Jahren auf den vorderen Plätzen mit.
Viel wurde geschrieben über Rupert Neves erste Firma, über seine legendären Designs aus der Zeit um 1970 und über die beinahe zahllosen Anbieter, die sich heutzutage gegenseitig darin zu überbieten versuchen, noch ein Quäntchen näher an den Sound der mittlerweile völlig unbezahlbaren Vintage-Originale heranzukommen. Lange Zeit teilten sich AMS-Neve und BAE die Pole-Position der öffentlichen Wahrnehmung um die größten Erfolge in dieser Disziplin, doch seit 2011 ist ein neuer Rennstall am Start, der in den letzten Jahren weit mehr als nur Achtungserfolge einfahren konnte: Heritage Audio aus Madrid – und dabei ist Spanien bislang eher Terra incognita auf dem Gebiet professioneller Studiotechnik gewesen.
Mittlerweile ist die Produktpalette des Herstellers auf einen stattlichen Umfang angewachsen. Wie der Name schon sagt, sorgt man sich hier vor allem um das Erbe der klassischen Rupert-Neve-Entwicklungen und bietet diese in verschiedenen Darreichungsformen an: von direkten Klons der Originalmodule, die man in jede Neve-Konsole einschieben könnte über 19“-Einheiten bis hin zum heute unvermeidlichen 500-Standard. In letztere Kategorie gehört auch der hier vorgestellte 2264 JR – wobei es sich hier um ein janusköpfiges Modul handelt, das einem auf den ersten Blick etwas eigenwilligen Konzept folgt, das auf den zweiten Blick aber die Kernqualitäten der Schaltung des Originalmoduls auf sehr smarte Weise anzapft und erweitert.
Im Kern bietet der 2264 JR die Funktionalität eines klassischen, ja legendären Neve-Kompressors, wobei die äußerst potente Audioschaltung auch als Micpreamp genutzt werden kann. Warum das Sinn macht, warum Kompressor und Micpre aber nicht gleichzeitig genutzt werden können, warum das nicht schlimm ist und wie sich das Gerät ansonsten so schlägt, das klärt dieser Test.
Details
Beruhigung durch Kompression
Mit dem 2254 stellte Rupert Neve in der zweiten Hälfte der 60er-Jahre ein Kompressormodul für seine Mischpulte vor, das sich seit nunmehr einem halben Jahrhundert als eine der bestklingenden und legendärsten Dynamikeinheiten am Markt bewähren konnte. Diesen Erfolg erzielte die mittlerweile in die USA eingebürgerte britische Designkoryphäe mit einem technischen Aufbau, der aus heutiger Sicht eigentlich nur als vollkommen exotisch bezeichnet werden kann. Doch die Art und Weise, wie Neve die Widrigkeiten der Basistechnologie nutzte, führte zu einem schlichtweg genialen Werkzeug, das sich aufgrund seiner Eigenschaften in die Herzen von Generationen von Engineers spielte, auch wenn das Tool zweifelsohne seine Nachteile mit sich brachte. Wohl ein ganz wesentlicher Grund dafür sind die Klangeigenschaften des Gerätes. Während die Mehrzahl der Kompressoren das Eingangssignal eher schlanker und aggressiver macht, wirkt der 2254 auf die umgekehrte Weise: Er bietet sich immer dann an, wenn ein Signal „beruhigt“ werden soll, mehr Schwere und Fülle benötigt.
Diodenbrücke
Für das Herzstück seiner Entwicklung, das Regelelement, wählte Rupert Neve eine sogenannte Diodenbrücke. Dies war in den 60ern ohnehin vorhandene Technologie, allerdings wurde sie mehr für Schalt- und Routingfunktionen eingesetzt. Auf diese Weise konnte Neve recht schnelle Regelzeiten realisieren (damals keine Selbstverständlichkeit), aber es galt einen Preis dafür zu zahlen. Diese Baugruppe verursachte schon ohne Kompression einen ordentlichen Pegelverlust von etwa 40 dB, mit 20 dB Aufholverstärkung musste die Ausgangsstufe also satte 60 dB Gain stemmen. Aus diesem Grund war der 2254 auch nicht der rauschärmste Vertreter seiner Gattung. Aber heute liegt hier der Schlüssel zu der Tatsache, dass das Heritage-Modul auch als Micpre fungieren kann. Schon der originale 2254 war letztlich nicht mehr (oder weniger!) als ein 1272-Verstärkermodul mit integriertem Regelelement, und damit nicht weit entfernt vom legendären 1073, welcher das 1272-Kanalmodul im Wesentlichen um eine zusätzliche Pegelstufe ergänzt. Wenn man das historische Fachchinesisch einmal beiseite packt, bedeutet dies, dass der Neve-Kompressor praktisch wie ein Mikrofonvorverstärker aufgebaut ist, der eben auch komprimieren kann.
Drei Carnhill-Übertrager
Aber nun zurück zum Heritage-Modul: Mit dem 2264E bietet Heritage einen Kompressor in originaler Kassettenform an, der das beste beider Neve-Welten bietet. Der 2264 bot als Verbesserung gegenüber dem 2254 schnellere Releasezeiten und mehr Präzision, zudem konnte mittels Class-A/B-Ausgangsstufe das Rauschverhalten erheblich verbessert werden. Damit ging – nach dem Urteil vieler Anwender – aber auch Charakter verloren. Heritages 2264E bietet also das Regelelement des 2264 und die Class-A-Ausgangsstufe des 2254; dieses Modul ist auch das Vorbild für den 2264 JR, den wir hier besprechen. Im Gehäuse des 500-Moduls doppelter Bauweite befindet sich demnach ein vollwertiger 2254/2264-Kompressor, dessen Bauteile und Schaltungsdetails weitestgehend den Vintage-Neves entsprechen. Das bedeutet zum einen, dass das Gerät der klassischen Schaltungstopologie folgt, also mit Eingangs- und Interstage-Übertragern ausgestattet ist, zwischen denen die Diodenbrücke liegt, sowie dass es mit einer Class-A-Stufe samt Ausgangsübertrager ausgestattet ist. Die drei Wicklungsmonster stammen dabei selbstverständlich vom Originalhersteller Carnhill – und die Frage, ob AMS-Neve im Gegensatz zu Herstellern wie Heritage nun solche mit besonderen Spekzifikationen erhält oder nicht, lässt sich auch an dieser Stelle nicht abschließend klären.
Von 1,5:1 bis Limiting Vier zentrale Bedienelemente bietet das API-500-Modul: Der Release-Parameter bietet die Optionen 100, 400, 800 und 1500 ms sowie zwei programmadaptive Modi, und die Kompressionsrate kann in fünf Schritten zwischen 1,5:1 und 6:1 und einem zusätzlichen Limit-Modus justiert werden. Per Drehschalter kann der Ausgangspegel bzw. die Aufholverstärkung in zehn 2dB-Schritten von 0 bis 20 dB gesetzt werden. Ebenfalls in 2dB-Schritten wird auch der Threshold-Parameter eingestellt, und zwar in einem Bereich von +/-12 dBu. Im Vergleich zum 2264E aus gleichem Hause muss man zwar auf den zusätzlichen Limiter-Sidechain verzichten, aber dafür bekommt man eben noch den Mic-Pre frei Haus. Über den Ratio-Drehschalter lässt sich auch die Verstärkung des Preamps einstellen. Das geschieht in 5dB-Schritten zwischen 35 und 60 dB.
Modern: Hochpassfilter im Sidechain
Daneben bietet das Modul noch eine Reihe von Schaltfunktionen. „DYN“ aktiviert den Kompressor und dient somit als Bypass. Wie das Orignal verfügt auch der 2264 JR über eine „FAST“-Option, welche die standardmäßig Attackzeit von 5 ms beschleunigt – und zwar auf einen Wert zwischen 100 Mikro- und 2 Millisekunden, abhängig von der gewählten Release-Zeit. Es lässt sich zudem – Zugeständnis an die Moderne – ein Sidechain-Hochpass aktivieren, und schließlich katapultiert der „MIC“-Schalter das Modul in den Vorverstärkermodus, bei dem alle Kompressorfunktionen deaktiviert werden. Hier steht dann auch via glücklicherweise beleuchtetem Schalter eine 48V-Phantomspeisung zur Verfügung. Das beleuchtete VU-Meter bildet die Pegelreduktion ab.
Nun wird auch deutlich, warum der 2264 JR nur über etwas eingeschränkte Bedienelemente beim Einsatz als Mikrofonvorverstärker verfügt. Sein Haupt- beziehungsweise ursprünglicher Einsatzzweck war der des Dynamikwerkzeuges. Heritage Audio haben hier lediglich die äußerst potente Ausgangsstufe angezapft und machen die satten Gainreserven der Kompressor-Ausgangsstufe als Vorverstärker nutzbar. Dass die Bedienung vom Funktionsumfang hier nicht mit einem dedizierten Micpre mithalten kann, dürfen wir nicht als Kritik gelten lassen: Der Heritage 2264 JR bleibt „hauptberuflich“ ein Kompressor, dem eben vom Hersteller eine Nebentätigkeit genehmigt wurde.