Interview: Christian Lillinger – „Einfach eine andere Sichtweise”

Christian Lillinger gehört zu den vielleicht eigenwilligsten, sicher aber bemerkenswertesten Drummern in der deutschen und auch internationalen Jazzszene. Seine Herangehensweise hat erweiterte Ansichten von Musik, von Klang, von Struktur im Fokus, und das selbstredend weit über den Tellerrand eines üblichen Schlagzeugermenüs hinaus. Gleichzeitig ist Lillinger jedoch ein leidenschaftlicher Drummer, der emotional und bewusst körperbetont zu Werke geht. Es sei schließlich noch so viel mehr zu beleuchten, sagt Lillinger. Was genau Gegenstand dieses permanenten Prozesses ist, das hat er uns im Gespräch erläutert. 

Christian Lillinger - Foto von Thomas J. Krebs
Foto von Thomas J. Krebs

Auf „Antumbra“, dem neuen Album, das du mit dem Pianisten Elias Stemeseder aufgenommen hast, spielt Elektronik eine recht zentrale Rolle…

Die Elektronik verstehen wir als eine Art Zusatz, den wir auch live einsetzen. Man mischt und kuratiert dabei quasi in Echtzeit. Es geht uns grundsätzlich um die Erweiterung des musikalischen Ausdrucks und der Wahrnehmung. Das ganze Projekt ist im Studio entstanden, und um das Kernstück, das Duo, herum gibt’s Gäste – und dementsprechend verändert sich wieder alles. „Antumbra“ ist nun ziemlich elektronisch geworden, stimmt. Wir möchten das Nichthörbare hörbar machen, eine Hyperrealität schaffen: Hinter dem Transienten selber, dem Ausschlag der Wellenkurve nach einem äußeren Ereignis, gibt es schließlich noch jede Menge – zum Beispiel das Ausschwingen des Klangs. Das versuchen wir, entweder zu replatzieren durch ein anderes Instrument beziehungsweise einen Sound oder durch Anheben zu strukturieren.

Das alles hat viel mit einem spektralen Musikansatz zu tun: Es gibt halt viel mehr als den reinen Sound, der sich ja wiederum aus anderen Klängen wie zum Beispiel Obertönen und vielem mehr zusammensetzt. Aus diesem unfassbaren Spektrum etwas auszuwählen und ihm eine hörbare Realität zu geben, darum geht es uns. Die Quelle ist die Analyse des Tons, der vordergründig da ist. 

Es hängt also davon ab, welche Aspekte des Spektrums du jeweils hervorhebst… 

Genau. Das ist für uns die Inspirationsquelle. Die Frage, die hinter allem steht, lautet: Was ist Klang? Du kannst einen Klang zum Beispiel durch das Spielen selbst weit und sehr dicht machen – „dicht“ ist dabei nicht im Sinne von „dicht spielen per Licks“, also vorgefertigten Mustern, gemeint, sondern es geht darum, den Ton selbst in die eine oder andere Richtung durch dein Spielen zu strukturieren. Es stellt sich sogar die Frage, was ein Instrument überhaupt ist und wie man experimentell mit ihm umgehen kann. Du kannst zum Beispiel einen Schlagzeugklang haben, der in einem Klaviersound ausschwingt. Du hast einfach tausende Möglichkeiten – ein riesiges Experimentierfeld.

Es geht nicht darum, mal eben irgendeine Funktion zu erfüllen, sondern es handelt sich um einen permanenten Prozess. So hörst du eine grundsätzlich andere Form der Musikpräsentation. Es dreht sich dabei in der Summe nicht nur ums Spielen, sondern ums Kuratieren – du setzt es immer wieder neu zusammen. 

Wie ist das Verhältnis zwischen Spielen und Postproduktion? 

Unterschiedlich. Auf „Antumbra“ sind manche Teile komplett so gespielt, andere wurden im Overdub-Verfahren hinzugefügt und eher postproduziert beziehungsweise erweitert. Manche Stücke sind kompositorisch quasi im Nachgang passiert, und wir haben auch ziemlich lange an dem allgemeinen Erscheinungsbild beziehungsweise der Dramaturgie des Albums gearbeitet. Das ist schließlich die notwendige, nächste Stufe für jedes Projekt: Was will man überhaupt erreichen? Die Aufnahmen selbst waren eigentlich ziemlich schnell gemacht. Dann ging es an die Fein- und Forschungsarbeit, die ich viel am Computer gemacht habe. Gerade fürs Schlagzeug ist es unheimlich wichtig, eine gewisse Klarheit herauszuarbeiten und die Trommeln auch im Produktionsverfahren zu kontrollieren. Ich mag es sehr gern haptisch, trocken und punchy.

Wie viel vom Resultat hattest du beim Aufnehmen schon im Hinterkopf? 

Das war unterschiedlich. Das Ganze ist wie ein riesiges Puzzle: Aus den aufgenommenen Spuren werden Sachen aus- oder wieder angeschaltet, um einen bestimmten Charakter zu erzeugen. Das ist der eigentliche Prozess. Du kannst prinzipiell alles Mögliche machen, und deswegen ist die Antwort auf die Frage, was man überhaupt will, umso wichtiger. In diesem Sinne eine ästhetische Kohärenz zu erschaffen, ist die Herausforderung. Dafür haben wir ganz klare Verfahren, die wir nutzen, aber ebenso immer wieder ausdehnen. Dabei provozieren wir bewusst auch Zufälle, denn der Zufall ist alles andere als negativ. Für mich persönlich gibt’s so was wie Zufall eigentlich gar nicht, denn man arbeitet ja schließlich die ganze Zeit an Ideen, die dann vielleicht unbewusst auftauchen.

Das ist ja auch beim Üben von Rudiments zum Beispiel nicht anders: Irgendwann treten andere Kombinationen zutage, weil man eine gewisse Sache unglaublich lange in unterschiedlichen Formen und Konfigurationen übt. Auf diese Weise entstehen plötzlich Formen, die man wieder mit anderen mischen kann. Das alles kann man anschließend analysieren und so bewusst auf die nächste Stufe heben. So läuft letzten Endes jeder Prozess ab. Es geht nun darum, sich dem hinzugeben und solche Verfahren konstruktiv zu nutzen. Ich versuche da immer total offen zu sein.

Auch in Sachen Post-Production bin ich alles andere als ein Purist und nutze sämtliche Möglichkeiten, die sich bieten. Warum auch nicht? – Was ist schon pur? Jede Schlagzeugaufnahme in den Motown-Jahren hat schließlich eine unglaubliche Kompression erfahren oder ist über die Bandmaschine sogar, wenn auch minimal, schneller abgespielt worden, damit sie frischer klingt. Bei solchen Sachen geht’s um die Frage, wie das Schlagzeug oder die Musik allgemein über die Lautsprecher wirkt, denn bei der Wiedergabe über Speaker hast du einfach weniger Möglichkeiten, dich auszudrücken, und weniger Platz als beim Livegeschehen, wo die Aufmerksamkeit des Hörers ganz anders gelenkt werden kann beziehungsweise insgesamt nuancierter ist.

Beim Aufnehmen für ein Stereobild hast du nur ein gewisses Frequenzspektrum zur Verfügung, und da kommen sich manche Dinge schneller in die Quere oder löschen sich sogar aus. Im Raum ist mehr möglich. Was dem sehr nahe kommt, sind Aufnahmen in Dolby Atmos. Da musst du nicht mehr so viel mit Limitern arbeiten, weil du die Instrumente im Raum platzieren kannst. 

Arbeitest du selber mit Dolby Atmos? 

Das wäre natürlich ein nächster Schritt, klar. Ich finde es aber nicht so reizvoll, solche Dinge im Nachhinein zu machen, sondern, wenn, dann auch gleich in den Entstehungsprozess zu integrieren. Das habe ich auch schon gemacht, aber die Aufnahmen sind noch nicht erschienen. Speziell für akustische Musik ist Dolby Atmos sicher ein sehr interessantes Format. Das Problem ist nur, dass es kaum jemand richtig hören kann: Was wir hören, ist eigentlich oft nur ein binaurales Abbild, das vortäuscht, wie es eigentlich sein könnte.

Seinen Sound setzt Christian Lillinger manchmal mit ultradünnen Sticks um.
Seinen Sound setzt Christian Lillinger manchmal mit ultradünnen Sticks um. Foto: Erich Werkmann FFM

Beim Schlagzeugspielen selbst geht es mir auch nicht darum, dass man, um vermeintlich besser zu grooven oder intensiver zu klingen, lauter spielen muss. Im Gegenteil: Ich finde es manchmal reizvoller, so leise wie möglich zu spielen, um dann auch einen fetten Snaredrumsound zu haben. Wenn du zu sehr reinhaust, ist der Ausschlag so hoch, das Mikro beziehungsweise der Limiter/Kompressor müssen so viel nachregeln und dagegen arbeiten, dass dein Sound einfach dünn wird. Das gilt auch für eine Bassdrum, die durch einen dichten Wald von Gitarren – was ja total gut sein kann – durchkommen soll. Da bleibt nur noch ein percussives Signal übrig, denn klanglich ist da kein Platz mehr. Ein Trigger sorgt dann für Schadensbegrenzung. Beim Nachdenken über solche Dinge lerne ich immer wieder eine Menge, auch rückbezüglich zum Spielen selbst.

In früheren Zeiten wurde ja dem Vernehmen nach ja grundsätzlich eher leise aufgenommen…

Ja, genau, und das muss man auch heute wieder wissen. Ich selbst stehe sehr auf Dynamik und mag es, manchmal fast ganz zu verschwinden, um dann wieder voll da zu sein. Dieses riesige Spektrum reizt mich sehr – es mag bei manchen Musikrichtungen nicht wichtig erscheinen, aber mich fasziniert es. Andererseits funktioniert es in manchen Kontexten, zum Beispiel in einem Stadion, überhaupt nicht. Da geht es nur noch darum, zu überleben, und das wiederum macht vieles kaputt. Es ist ein ganz anderes Denken als mit dem Raum zu spielen und zu reflektieren. Der Raum gibt mir persönlich jedoch sehr viel Inspiration. Manchmal setze ich deswegen auch die ganz dünnen Sticks ein, um gewisse Dinge überhaupt möglich und transparent zu machen. Das Spiel mit diesen Sticks, die oft auch nicht wirklich gerade sind, ist allerdings schon eine Herausforderung, da man ständig korrigieren muss.

Mit normal dicken Sticks würde die ganze Differenzierung aber schlichtweg zerstört. Diese dicken Sticks sind allerdings zum Üben wieder sehr gut – wobei man auch aufpassen muss, die einzelnen Muskelformen entsprechend ihrer Funktion im Gleichgewicht zu trainieren.

Dynamik spielt für mich die wichtigste Rolle, auch wenn es um das Spielen auf den Becken geht: Grundsätzlich habe ich eher dünne Becken und dabei sehr gerne Flatrides, die man sehr artikuliert spielen muss und kann. Richtig laut kann man das nicht tun, weil es dann nicht mehr klingt. Mir geht es darum, bei allem, was ich mache, möglichst leicht zu klingen. Nicht nur, wenn man aus dem Swing kommt, dann ist die nächste notwendige Stufe Flexibilität in der Dynamik. Das Feel ist schlussendlich auch eine Form von Dynamik, denn es hängt davon ab, was man wie verändert und gewichtet. Ein Feel zu morphen, das ist genauso wichtig wie Dynamik. Das sind für mich sehr wichtige Parameter.

… die ja gerne vergessen werden. 

Ja, oft. Denk nur an Ghostnotes: Die sind super, um einen gewissen Flow in die Sache zu bekommen, aber das Konzept muss man einfach noch viel weiter und umfassender denken. Alles hängt zusammen. Das war bei mir schon immer der Ansatz, und an dem arbeite ich auch ganz technisch nach wie vor extrem viel, beispielsweise mit der Schule von Alan Dawson [„The Drummer’s Complete Vocabulary“], bei der man lernt, wie man auf vielen Ebenen mit Rudiments umgeht. Das macht dich irgendwann total locker und frei. So was übe ich die ganze Zeit, ziemlich viel sogar. Das muss man machen, denn sonst verliert man viel Kontrolle über den Sound. Was du spielst, ist, anders als manche behaupten, alles immer extrem kontrolliert und nie wirklich frei. 

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Was sich ja nicht für jeden Zuhörer direkt erschließen mag… 

Ja, das kann schon sein. Es hat aber auch mit den Hörgewohnheiten zu tun, denn beispielsweise hat sich in der meisten populären Musik über die Jahrzehnte kaum etwas verändert. Das finde ich sehr schade, denn die Entwicklung und der Fortschritt sollten schließlich weitergehen. Was ich mache, ist einfach eine ganz andere Sichtweise – mal ganz im Schatten zu spielen und mal mit Aktionen voll präsent zu sein. Das muss einfach geübt werden, damit man sich entsprechend artikulieren kann. Jeder vermeintlich spontane Moment muss vorbereitet sein. Es stellt sich also die Frage, was Improvisation überhaupt ist.

Ich zum Beispiel habe mit der puren Stilistik des Freejazz gar nichts zu tun und mag diese Richtung auch nur bedingt. Aber der Sound, der dahintersteckt, reizt mich wiederum. Als Hörer brauchst du für all das eine gewisse Schulung – aber das ist letztlich in jeder Stilistik so. Jede Musikrichtung und die Wahrnehmung derselben haben mit einer Wissensstruktur zu tun.

Ich möchte mir nicht ausmalen, wie heutige Popmusik in den Ohren eines Menschen aus dem Mittelalter klingen würde – wahrscheinlich sehr unangenehm und seltsam. Das wäre vermutlich alles nur Lärm. Es steckt eine kulturelle Entwicklung dahinter. In diesem Zusammenhang sehe ich mich und meine Arbeit: Ich habe eine Aufgabe, halte durch und versuche, möglichst viele neue Farben aufzuzeigen. „Neu“ heißt dabei nicht, dass ich das Rad neu erfinden will, überhaupt nicht. Ich opfere mich auf, haha, um einfach nur neue Dinge zu beleuchten. Mehr nicht. Eine Aufopferung ist es in dem Sinne, dass man manchmal auch eine Menge negativer Energie abbekommt.

Anstrengend, oder?!

Ja, vor allem weil es so unnötig ist. Eigentlich zeige ich ja nur auf, was noch alles so möglich sein kann. Darum sollte es doch eigentlich gehen, aber dieses Ziel verschwindet in der allgemeinen Entwicklung komischerweise schon wieder. Viele fangen an, noch mehr Mainstream zu machen, auch im Jazz. Eine Pop- und Rockplatte unter dem Label „Jazz“ ist mittlerweile keine Ausnahme. 

Na ja, es verkauft sich vermutlich besser. 

Ja, sicher, aber darum geht’s doch nicht in erster Linie. Mir geht’s um den Kern der Musik. Ich mache eine Platte, weil ich eine Platte machen will – und nicht, weil ich danach Konzerte spielen möchte und dafür die Promo brauche. Mein Ziel ist es, mit dieser Musikform eine ganze Zeit zu leben und auch später noch darauf zu verweisen, dass sie ein Teil meiner Arbeit, Reise und Entwicklung ist.

"Ich verstehe Komplexität eher im Sinne von Reichhaltigkeit, und es geht mir keineswegs darum, Dinge unnötig kompliziert zu machen." Foto: Nino Halm
“Ich verstehe Komplexität eher im Sinne von Reichhaltigkeit, und es geht mir keineswegs darum, Dinge unnötig kompliziert zu machen.” Foto: Nino Halm

Hast du für diesen ja ziemlich aufreibenden Prozess immer wieder Luft? 

Ich empfinde das Ganze nicht als stressig. Es ist halt komplex und aufwendig, aber für mich total natürlich, wenn man sich mit solchen Dingen wie Forschung in der Musik beschäftigt. Wenn man die ganzen legendären Drummer von damals analysiert, sind sie alle unglaublich komplex. Es kam einfach viel auf natürliche Weise zusammen. Ich verstehe Komplexität eher im Sinne von Reichhaltigkeit, und es geht mir keineswegs darum, Dinge unnötig kompliziert zu machen. Neuere Formen sind naturgemäß zunächst komplex und ungewöhnlich, und erst wenn man sie irgendwann einmal verstanden hat, erscheinen sie als normal und klar: Ein J-Dilla-Beat ist heute viel klarer als damals. Damals war es eine Sensation, dass es überhaupt möglich war, einen solch krummen, verschrobenen Beat der breiten Masse zu präsentieren. Generationen danach haben den Beat analysiert und für sich umgesetzt. Ich sehe mich als klaren Artikulierer, der analysierte Strukturen in den Körper schreibt und so verkörperlicht. 

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Auf welcher Stufe stehst du in diesem Prozess? Immer am Anfang?

Immer wieder am Anfang, ja. Wie etwas klingt, empfindet ja jeder anders, und in jedem Raum wird es wieder anders klingen. Das ist eine multiperspektivische Sichtweise, die entscheidend ist. Daran zu arbeiten, wie Dinge im Raum unterschiedlich klingen, ist reizvoll. Denk nur an afrikanische Musik: ständige Wiederholung von Phrasen und deren wechselnde Perspektiven, Konstellationen und Erscheinungen. Ich wiederhole ständig meinen Prozess: Das bedeutet nicht, dass ich ständig Gleiches spiele, sondern es ist die Art und Weise, wie ich vorgehe. Ich versuche, eine andere Sichtweise auf dasselbe Bewusstsein zu erlangen. In diesem Sinne bin ich immer am Anfang. Dadurch wird es aber auch total hierarchielos, und jeder kann daran teilhaben.

Ein bisschen uferlos wird’s dadurch aber auch… 

Aber wann hört etwas wirklich auf? Es gibt nichts, das auf einer bestimmten Genialitätsstufe stehen bleibt. Es geht um eine offene Struktur, die stets neue Verbindungen ermöglichen kann. Man darf nicht alles als gegeben hinnehmen, sondern muss darüber diskutieren und kritisch nachdenken. Ständig hinterfragt man Dinge und Phänomene aufs Neue – und das soll auch Spaß machen, denn den darf man nie vergessen. So initiiert man den nächsten Prozess und baut Schritt für Schritt eine Bewusstseinsmaschine auf. Genau das versuche ich über mein Label zu erreichen. Ich möchte schließlich auch mein Erscheinungsbild mitbestimmen und diese Kontrolle nicht an Dritte abgeben. Dies ist ein komplexer Prozess: Jede Popband muss einen enormen Promotion-Apparat bedienen, der oft tausendmal komplexer ist als die Musik selbst.

Viele Musiker sollten ihre Zeit besser in ihre Musik investieren, haben dazu aber keine Chance, weil sie ihre Stereotypen verwalten müssen, um noch mehr Hörer zu gewinnen. Das ist absurd. Vieles, was in der Vergangenheit möglich war, worüber man in Interviews mit damaligen Protagonisten liest, ist heute schlichtweg nicht mehr machbar, und das ist wirklich schockierend. Die Streaming-Plattformen haben alles verändert, und Musik hat kaum noch eine Chance zu existieren – abgesehen von wenigen in der Industrie. Für Hochschulabsolventen gibt es heute kaum noch Arbeitsmöglichkeiten, egal wie talentiert sie sind. Wahnsinn! Es muss doch möglich sein, professioneller Drummer zu sein, ohne unterrichten zu müssen und allerlei Nebenjobs zu machen, um Geld zu verdienen. Dieser Beruf hat schließlich eine lange Tradition. 

Und du besetzt dabei deine eigene Nische… 

Ja, und die sogenannte Nische oder, besser gesagt, die eigene Ästhetik beziehungsweise Idee macht viel mehr Sinn als vorgefertigte Richtungen. Wenn man in seiner Nische eine eigene Stimme findet, hat man auch international um einiges bessere Chancen. Ich komme niemandem in die Quere und mache einfach nur mein Ding. Dadurch habe ich viel mehr Möglichkeiten als Leute, die versuchen, wie Person xy zu klingen und damit Erfolg zu haben. Das ist komplizierter. Mir geht es gut, und es muss mehrere Nischen geben – schlussendlich ist ja jeder seine eigene. Eben diese Nischen werden jedoch durch die Streaming-Plattformen geschreddert. Es wird immer schwieriger, Geld zu verdienen, das geht nur noch durch Liveauftritte – aber immer weniger Veranstalter haben den Mut zum Experimentieren.  

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Klar, bei großen Namen und dem Standard wird der Saal voll. 

Selbst das heißt jedoch nicht zwangsläufig, dass sich die Investition lohnt. Bei einem Popkonzert ist der Aufwand mittlerweile so immens, dass man selbst bei ausverkauften Veranstaltungen kaum Gewinn machen kann. Um rentabel zu sein, benötigt man riesige Hallen, und das in einer Zeit, in der jeder Erfolg haben möchte. Es ist eine enorme Herausforderung. Der Wettbewerb ist durch die Tatsache, dass jeder seine Musik veröffentlichen kann, härter geworden. Das Selbstmarketing hat enorm zugenommen und ist auch immer professioneller geworden. Wie also kann man sich heute noch von anderen abheben, um eine Fanbasis aufzubauen? Die nächste Generation von sogenannten Stars wird es deutlich schwerer haben.

Ich bin nicht pessimistisch, aber es stehen viele Veränderungen bevor – und dann gibt es ja auch noch die KI. Das wird sicherlich spannend, denn es wird dadurch immer einfacher, jeden Drummer quasi zu imitieren. Und: Eine Maschine ist nun mal präziser und kostengünstiger als ein Mensch. Abgesehen davon werden Maschinen auch klanglich mit Samples und Ähnlichem immer besser.

Am Ende ist es wohl als Musiker am wichtigsten, seine eigene Identität zu entwickeln. Vielleicht führt das alles ja auch dazu, dass jeder wieder mehr Zeit hat, sich selbst zu entdecken anstatt zu kopieren. Das ist der einzige Mehrwert, den die KI nicht bieten kann: Sie reagiert nur und kann nicht darüber diskutieren, was am Ende entstehen soll. Doch dieser schöpferische Prozess ist aber wesentlich für jegliche Form des künstlerischen Schaffens.

"Ich habe eine Aufgabe, halte durch und versuche, möglichst viel neue Farben aufzuzeigen." Foto von Thomas J. Krebs
Ich habe eine Aufgabe, halte durch und versuche, möglichst viel neue Farben aufzuzeigen.” Foto von Thomas J. Krebs

Wie sehen deine nächsten Pläne aus? 

Im September werde ich mit meinen Projekten Stemeseder/Lillinger, DLW und verschiedenen anderen Formationen unterwegs sein. Mitte Juni wird das neue Album von Stemeseder/Lillinger mit dem Titel „UMBRA II acoustic setting“ erscheinen. Wie der Name schon sagt, wird es komplett akustisch sein. Wir hatten das Privileg, dies im Rudy-van-Gelder-Studio aufzunehmen [einem legendären Jazz-Aufnahmestudio in New Jersey, in dem unter anderem 1964 „A Love Supreme“ von John Coltrane entstand]. Als Gäste konnten wir Peter Evans an der Trompete und Russell Hall am Bass begrüßen. Die Aufnahme erfolgte nach dem gleichen Verfahren, über das wir zuvor gesprochen hatten, jedoch komplett akustisch. Die Kompositionen und Strukturen ähneln sich, werden jedoch nun in einem akustischen Setting weitergeschrieben und interpretiert.

Der Aufnahmeraum ist natürlich geprägt von den klanglichen Konnotationen von Elvin Jones, Art Blakey, Alan Dawson und anderen Größen. Ich hatte sogar das Vergnügen, das Hausset zu spielen, ein altes Gretsch-Schlagzeug aus den Sechzigerjahren – ich weiß nicht, wer alles schon darauf gespielt hat. Der hohe, spitz zulaufende Holzraum klingt einfach unglaublich gut, und jeder Rimshot erinnert an die legendären Aufnahmen. Wir haben unsere Instrumente in der Coltrane-Quartet-Aufstellung in einem Raum aufgebaut, das Studio für drei Stunden gebucht, und in zweieinhalb Stunden sind 79 Minuten Musik entstanden – alles First-Takes. Dafür musste natürlich klar sein, in welche Richtung das Ganze gehen sollte. Ich finde, die Ergebnisse sind sehr gelungen.

Auch mit meinem Trio mit Christopher Dell [Vibrafon] und Jonas Westergaard [Bass] bin ich weiterhin sehr aktiv, wir proben, forschen und spielen viel. Es stehen zahlreiche Projekte an. Zum Beispiel wird es im Herbst eine Fortsetzung meines Projektes Open Form for Society (OFFS II) geben, und im Sommer gebe ich Workshops. Dabei geht es mir nicht darum, zu erklären, wie etwas sein soll, sondern vielmehr darum, Anregungen zu geben, wie man zu einem funktionierenden Verfahren und einer Ästhetik gelangen kann. Wir arbeiten dort gemeinsam. Grundsätzlich finde ich, dass man, bevor man etwas macht, darüber sprechen und diskutieren sollte, was es werden soll – leider ist das oft nicht wirklich der Fall.

Biografie: 

Christian Lillinger, geboren 1984, begann im Alter von 13 Jahren mit dem Schlagzeugspiel. Bereits als 16-Jähriger wurde er an der Hochschule für Musik Carl Maria von Weber Dresden zugelassen und studierte dort bis 2004 bei Günter „Baby“ Sommer und Michael Griener. Von 2001 bis 2003 war Lillinger Mitglied im BuJazzO. Nach verschiedenen Projekten gründete er 2011 das Trio Dell-Lillinger-Westergaard, das bis heute besteht. 2013 erhielt Lillinger ein Kompositionsstipendium der Stadt Berlin. 2017 wurde er mit dem „SWR Jazzpreis“ ausgezeichnet. 2018 gründete er sein eigenes Label PLAIST. 2019 erhielt er den „Preis der Deutschen Schallplattenkritik“, 2021 den „Deutschen Jazz Preis“ als „Künstler*in des Jahres“ und in der Kategorie „Schlagzeug/Percussion“. Bis heute ist Lillinger auf über 110 Tonträgern zu hören, darunter 23 unter eigenem Namen, und spielt weltweit mit unterschiedlichsten Musikern.

Diskografie (ab 2020):  

  • Christian Lillinger: Open Form for Society, Meinl Session (2020), Open Form for Society Live (2020), Kursiv (2021), Konus (2022)
  • Petter Eldh & Koma Saxo (2019)
  • DLW: Grammar II (2020), Beats (2021), Beats II (2023)
  • DLW feat. Bob Degen: Supermodern Vol. I (2022), Vol. II (2023) 
  • Punkt.Vrt.Plastik: Somit (2021), Zurich Concert (2022)
  • Koma Saxo feat. Sofia Jernberg (2022)
  • Jameszoo: Blind (2022)
  • Stemeseder/Lillinger: Penumbra (2023), Umbra (2023), Antumbra (2024), Umbra II Acoustic Setting (2024)
Foto: Christian Lillinger
Foto: Christian Lillinger

Equipment:

  • Drums: Gretsch „Broadkaster“ (Vintage-Hardware)
  • 18“ x 14“ oder 16“ x 14“ Bassdrum 
  • 12“ x 8“  Tom
  • 14“ x 14“ Floortom
  • 14“ x 5,5“ „Broadkaster“-Snaredrum (60s)
  • 14“ x 5“ Solid-Aluminium-Snaredrum
  • 14“ x 4“ „Custom“-Standard-Maple
  • Cymbals: Paiste
  • 22“ „Signature Traditionals Light“-Ride
  • 15“ „Masters Dark“-Hihat
  • 22“ „Masters Dark“-Flatride
  • 20“ „Masters Dark“-Flatride 
  • 20“ „602 Thin“-Flatride
  • 20“ „Signature Traditionals Light“-Flatride
  • 22“ „Masters Dark“-Crashride
  • Felle: Remo („Ambassador“, „Ambassador X“, „Fiberskyn Diplomat“)
  • Percussion: LP
  • Sticks: Rohema
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Christian Lillinger - Foto von Thomas J. Krebs

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