Interview mit Jean Michel Jarre

Am 16. Oktober 2015 erschien das neue Album „Electronica 1, The Time Machine“ von Jean Michel Jarre. Der Grandseigneur der elektronischen Musik hat mehr als einmal in seiner Karriere Rekorde gebrochen und Geschichte geschrieben. Für sein neues Projekt hat sich der Franzose etwas Besonderes einfallen lassen: Er begibt sich auf dem ersten Teil seines Electronica-Doppelalbums mit fünfzehn verschiedenen Künstlern zusammen auf eine Reise durch die Zeit. Jeder der Tracks wurde in enger Zusammenarbeit mit namhaften Vertretern der internationalen Musikszene erarbeitet. So sind in den vergangenen vier Jahren unter anderem Kollaborationen mit Air, Vince Clarke, Moby, Pete Townsend, Lang Lang und dem legendären, im Januar verstorbenen Edgar Froese von Tangerine Dream entstanden. Wir trafen Jean-Michel Jarre in Berlin, um mit ihm ausführlich über sein neues Album, seine Herangehensweise an Musikproduktion und sein Verhältnis zu Technik zu sprechen.

(Foto: Herve Lassince)
(Foto: Herve Lassince)

bonedo: Hallo, ich habe etwas mitgebracht: einen ARP Odyssey Rev. III, aber in der Neuauflage.

Jean Michel Jarre: Oh, ein fantastischer Synthesizer! Ich mag das Flight-Case, es sieht aus wie ein Rimowa. Aber warum baut Korg die Dinger nun so klein? Egal ob MS-20 oder ARP Odyssey, ich verstehe nicht, warum die nun nur noch 0,8 mal so groß wie das Original sind. Es sieht aus wie ein Spielzeug, aber es ist keins. Als ich im Sommer den zweiten Teil der Electronica-Reihe finalisiert habe, kam dieser Synth zum Einsatz.

Also hast du den Neuen benutzt?

JMJ: Beide. Ich habe den Neuen und den Alten gegeneinander verglichen. Sie sind sehr, sehr ähnlich, außer dass die Attack-Transienten bei dem Alten ein wenig besser sind. Abgesehen davon sind die beiden fast gleich. Sehr viel besser als der Vergleich zwischen Voyager und Minimoog.

Die haben ja unterschiedliche Architekturen.

JMJ: Aber dieser hier ist wirklich nah am Original.

— Gewinne mit etwas Glück den handsignierten ARP Odyssey Rev. III. Hier geht es zur Verlosung. —

Fotostrecke: 3 Bilder Der ARP Odyssey… (Foto: Bonedo/Christopher)

Du bist ein Pionier auf dem Gebiet der elektronischen Musik und hast die synthetische Klangerzeugung populär gemacht wie kaum ein anderer. Du bist seit etwa vierzig Jahren im Musikbusiness. Was hat sich in dieser Zeit geändert an der Art, wie Musik produziert und konsumiert wird?

JMJ: Als ich anfing, elektronische Musik zu machen, gab es einen großen Umbruch. Zum ersten Mal waren wir in der Lage, Musik nicht nur durch Noten und Tonsatz darzustellen, sondern durch Geräusche und Klänge. Das hat für alle Zeiten zu einem massiven Wechsel im Entstehungsprozess der Musik geführt. Die Idee, Sounddesign als Musikkomposition zu begreifen, wurde damals geboren. Heutzutage macht jeder DJ Sounddesign ohne es zu wissen, weil es eben der gängige Weg ist, Klänge zu manipulieren und zu prozessieren. Technologie diktiert grundsätzlich den Stil, nicht umgekehrt. Techno und House sind entstanden, weil es analoge Synthesizer und Drum-Machines gab und ohne das Massive Plug-in von Native Instruments würde es weder Skrillex noch Dubstep geben. In meiner Anfangszeit wurden elektronische Musikinstrumente mit handwerklichem Können entwickelt und hergestellt, häufig Stück für Stück von Hand. Als die digitale Ära mit dem Yamaha DX7 begann, wurden digitale Instrumente zur Massenware. So wurde die erste Generation von Entwicklern wie Robert Moog oder Dave Smith verdrängt, aber es entstand dadurch auch wieder etwas Neues. Das ist das alte Lied vom Fortschritt. Es ist wie mit Vinyl und der CD. Die CD führte die analoge Welt in die digitale Welt. Dabei war Vinyl zwar nicht ideal, aber viel besser als die CD. Ich würde sagen, dass sich für eine ganze Weile digitale zu analogen Synthesizern verhielten, wie die CD zur Schallplatte. Nicht so gut, so warm und so fett wie analoge Instrumente. Aber im Nachhinein betrachtet hat der schlecht aufgelöste, digitale Lo-fi-Sound aus dieser Zeit seinen eigenen Charme und Charakter. Die begrenzten Möglichkeiten der digitalen Technologie damals haben einen einzigartigen Sound hervorgerufen. Dann kamen die Sampler auf den Markt und veränderten wieder alles. Für mich war das eine Offenbarung, endlich hatte ich das Instrument meiner Träume. Als ich begann, mit Pierre Schaeffer an der musique concrète zu arbeiten, ging es darum, mit dem Mikrofon draußen rumzulaufen und alle möglichen Geräusche aufzunehmen: Autos, Flugzeuge, Wind, Regen. Und dann machten wir damit Musik. [Anm. d. Red.: Mehr zu Pierre Schaeffer und der musique concrète findet ihr in Folge 5 unserer Reihe zur Geschichte der elektronischen Musik.] Als ich später den Fairlight bekam, einen der ersten Sampler überhaupt, war es eine enorme Erleichterung. Denn was vorher ein arbeitsaufwändiger und zeitintensiver Prozess war, ging nun rasend schnell. Im Handumdrehen konnte man Akkorde mit einem gesampelten Hund spielen. Das war super cool und lustig. Dann kamen Instrumente, die die analoge Welt emulierten und mit der digitalen Welt verbanden, so wie wir es von vielen Hardware-Geräten heute noch kennen. Und dann begann die Ära der Plug-ins, was wieder alles änderte. Auf einmal gab es in der elektronischen Musik etliche Nomaden. Wir waren in der Lage, überall hinzugehen. Wir können seitdem Musik auf der Terrasse eines Cafés produzieren, so wie ein Autor mit einem Stift und einem Blatt Papier. Aber am Ende des Tages bin ich mir nicht so sicher, ob sich überhaupt irgendetwas grundlegend verändert hat, vor allem im Hinblick auf die Inspiration und die künstlerische Aussage. Ich bin immer mehr überzeugt davon, dass ein chinesischer Musiker vor 5000 Jahren und ein Electro-DJ heutzutage das Gleiche aussagen wollen. Welche Technologie auch immer wir benutzen, wir wollen menschliche Emotionen mit Musik ausdrücken. Und die menschlichen Emotionen sind zeitlos. Aber deine Frage ist interessant, denn sie steht in direktem Zusammenhang zu einem Track, den ich mit Air zusammen für Electronica gemacht habe, ich weiß nicht, ob du den kennst.

Ja, der Song, der mit einer Tape-Loop beginnt…

JMJ: …und mit einer iPad-App endet, genau. Der Song beinhaltet sozusagen 80 Jahre Geschichte der elektronischen Musik und ihrer Instrumente. Es ist eine interessante Reise, die uns dahin führt, wo wir heute stehen und uns zeigt, warum die heutige Zeit so aufregend ist: du kannst analog und digital und was auch immer miteinander kombinieren, je nachdem, was du ausdrücken möchtest.

Jean Michel Jarre im Studio (Foto: Herve Lassince)
Jean Michel Jarre im Studio (Foto: Herve Lassince)

Als du das berühmte „Küchenstudio“ für die Aufnahmen zu „Oxygène“ aufbautest und damit sozusagen das Home-Recording erfunden hast, hattest du nur drei Instrumente. Welche waren das?

JMJ: Der VCS-3, also die hölzerne Variante des AKS, den Eminent und den RMI Harmonic Synthesizer, ein großartiges Instrument. Wahrscheinlich das erste digitale Instrument in einer analogen Zeit, das anstelle der subtraktiven die additive Synthese benutzte, ein wenig wie bei der Orgel. Diesen Sound habe ich viel benutzt. Und jede Menge Pedale, so wie den Electric Mistress Flanger und den Small Stone Phaser von Electro Harmonix, außerdem zwei Revox-Bandmaschinen für die Delays. Das war mein Setup.

Das hatte nicht zu tun mit Presets und Libraries mit Gigabytes voller Sounds. Glaubst du, dass diese Form der Einschränkung ein sicherer Weg zur Kreativität ist? Dass man mit nur drei Klangerzeugern vielleicht schneller zum Ziel kommt als mit unbegrenzten Möglichkeiten?

JMJ: Ich bin mir absolut sicher, dass Einschränkung der Schlüssel ist, und zwar in jeder Kunstform. Mit nur drei Instrumenten hast du keine Wahl. Du musst aus dir selbst schöpfen um Ideen zu finden, anstatt zu hoffen, dass die Technik deinen Mangel an Inspiration kompensiert. Wenn du keine Idee hast, kommt auch nichts dabei heraus, so einfach ist das. Weißt du, während wir hier reden, sind hunderte von Plug-ins und Software-Lösungen auf dem Markt, die bei Sonnenuntergang bereits veraltet sein werden. Diese verrückte, schnelllebige Zeit versucht uns vorzugaukeln, dass Software alle Probleme löst und uns Ideen schenkt. In gewisser Weise stimmt das auch, zumindest kann Technologie deine Visionen vervollständigen. Aber jungen Leuten würde ich dazu raten, sich erstmal ein einziges Plug-in auszusuchen und sich nur damit ein halbes Jahr intensiv zu beschäftigen, anstatt haufenweise Software aus dem Netz anzusammeln. Archiviere lieber Ideen als Plug-ins. Fühl in dich hinein, denn nur so wird deine Musik speziell und einzigartig, nicht durch Technologie. Es gibt aber auch viele Leute die behaupten, dass die verfügbare Technik heutzutage die Kreativität stört. Das glaube ich nicht. Technologie ist neutral, es kommt nur darauf an, wie du sie benutzt. Die Falle ist, dass uns die Industrie glauben macht, Technik ersetze die Inspiration.

Aber um auf mein Küchenstudio für Oxygène zurückzukommen: Da hatte ich keine Presets und keine Möglichkeiten, meine Patches zu sichern. Das war sehr frustrierend, denn du verbrachtest Stunden damit, alle Reglerpositionen auf Papier festzuhalten oder Polaroids zu machen, und dennoch klang es nach dem Rekonstruieren nicht mehr so wie vorher. Also war alles, was man tat, endgültig. Und das stellte man auch gar nicht infrage. Du stelltest einen Sound ein, und dann gingst du besser noch nicht mal aufs Klo, denn hinterher klang es möglicherweise anders. Diese Verbindung zum Hier und Jetzt war ein Kick, es war spannend. Heute ist es ganz anders. Ich sage nicht, dass wir dahin wieder zurückkehren sollten, aber wir sollten nicht vergessen, den Zufall herauszufordern und uns die Technologie zunutze zu machen.

Ich habe für mein neues Projekt mit vielen Leuten zusammengearbeitet, und sie alle haben etwas gemeinsam: einen Style, den du sofort heraushörst. Warum? Weil alle aus sich selbst schöpfen. Nimm zum Beispiel „Fuck Buttons“. Als ich irgendwann mal auf Youtube auf die gestoßen bin, dachte ich: Wow, so etwas habe ich noch nie zuvor gehört! Die haben einen eigenen Sound, den du sofort heraushörst, ein echtes Brett. Die haben gar nicht viel Equipment, aber die Art und Weise, wie sie es benutzen, wie sie an den Geräten rumschrauben, macht ihren Sound einzigartig.

Du scheinst auch nach so langer Zeit im Business immer noch fasziniert von Sounds zu sein. Das wird sehr deutlich in der Arte-Dokumentation zum neuen Album, die ich super interessant fand. Wie hat es mit dem Electronica-Projekt angefangen? Hattest du die Ideen für die Songs oder hast du mit dem jeweiligen Künstler zusammengesessen und die Songs von Grund auf gemeinsam entwickelt?

JMJ: Als ich mit dem Electronica-Projekt startete, wollte ich einen Gegenentwurf zur klassischen Feature-Situation schaffen. Es ist ja heutzutage üblich, dass du jemandem ein File übers Internet schickst, der dann eine Topline drüberbastelt, ohne dass du dich jemals mit demjenigen unterhältst oder triffst. Wir alle wissen, dass man das aus kommerziellen Gründen macht. Bei Electronica wollte ich mit Leuten zusammenkommen, die mich in den letzten vierzig Jahren inspiriert haben. Menschen, die direkt oder indirekt mit der elektronischen Musik verknüpft sind und die alle diesen Sound haben, den du sofort heraushörst. Also begann ich damit, etwas zu schreiben, was individuell auf den jeweiligen Künstler zugeschnitten war. Ich komponierte etwas, das zu Tangerine Dream passen würde, zu Pete Townsend, zu Moby oder M83 und so weiter. Je tiefer ich in diesen Prozess einstieg, desto deutlicher wurde, dass alle Leute, die mir vorschwebten, ja zu dem Projekt sagten. Am Ende hatte ich zwei Stunden und zwanzig Minuten Material, weshalb ich das Electronica-Projekt auf zwei Alben aufteilen musste. Das erste erscheint jetzt, der zweite Teil im Frühjahr 2016. Neben meiner Auffassung von der Kollaboration wollte ich dem jeweiligen Künstler genug Platz lassen, auch selbst Input zu geben, sodass jeder 50 Prozent beisteuert. Letztendlich war ich sehr überrascht, dass es trotz allem mein eigenes Album geworden ist, denn ich war es, der am Schluss alles zusammengefügt hat. Hättest du mir vor fünf Jahren gesagt, dass ich mal ein Album mit 3D von Massive Attack, Armin van Buuren, M83, Tangerine Dream, John Carpenter und Pete Townsend machen würde, hätte ich gesagt: Wie soll das zusammenpassen, wo ist der rote Faden? Und klar, der rote Faden bin ich. Aber auch die Tatsache, dass diese ganzen Künstler mir in ihren Beiträgen zu den Kompositionen entgegengekommen sind.

Tatsächlich hört man dem Album an, dass es bei dem Projekt nicht darum ging, einfach irgendwen zu featuren. Der Song, den du mit Air gemacht hast, ist ein gutes Beispiel dafür. Du kannst nicht wirklich sagen, es wäre ein Air-Song, es ist aber auch kein reiner Jean-Michel-Jarre-Song. Es ist wirklich 50 Prozent von jedem. Dieser Spirit ist bei allen Songs hörbar. Es sind Kollaborationen im besten Sinne.

JMJ: Interessant, dass du das sagst, denn es ist auch für mich ein Lernprozess gewesen. Ich bin ja immer noch dabei, den zweiten Teil fertig zu stellen. Ich habe mit dem ersten Teil bereits Erfahrungen gesammelt, die ich nun in den zweiten Teil einfließen lassen kann. Ich habe das so noch nie zuvor gesagt, aber die Herangehensweise an die Songs von Teil Zwei ist etwas anders, denn ich habe gelernt, die DNA aufzusplitten und die richtige Balance zu finden, um allen Künstlern gerecht zu werden. Sie haben mir schließlich auch viel Vertrauen entgegengebracht.

Ich kann mir vorstellen, dass es bei einer Zusammenarbeit mit jemandem, den man noch gar nicht kennt, auch zu Konflikten kommen kann, oder dass man das gemeinsame Ziel aus den Augen verliert. Was ist deine Strategie, wenn der Prozess des Schreibens oder Produzierens ins Stocken gerät? 

JMJ: Es ist zweimal passiert, aber daran waren nicht meine Kollaborations-Partner schuld. Es gab solche Situationen mit 3D von Massive Attack und mit Armin van Buuren, zwei total unterschiedlichen Musikern. Ich hatte etwas komponiert, von dem ich dachte, es würde zu ihnen passen. Aber als ich mit ihnen zusammenarbeitete, stellte ich fest, dass ich auf dem Holzweg war. Wir versuchten eine Weile, zu einem Ergebnis zu kommen und es gab auch keine wirklichen Probleme, aber letztlich schrieb ich beide Songs komplett neu. Und dann erst lief es rund, weil ich inzwischen gelernt hatte, wie diese beiden Künstler ticken. Ich war sehr froh, dass die beiden dazu bereit waren, noch einmal komplett von vorne anzufangen, denn sie haben ja auch volle Terminkalender.

Fotostrecke: 2 Bilder Jean Michel Jarre ist ein großer Freund analoger Synthesizer… (Foto: Herve Lassince)

Was war der spannendste Aspekt an der Zusammenarbeit mit anderen Künstlern?

JMJ: Weißt du, ich habe viel dazugelernt. Es ist sehr interessant, dass jeder seine eigene Herangehensweise an Musik hat. Als ich zu Moby ins Studio kam, machte ich eine faszinierende Erfahrung. Ich spielte etwas auf einem seiner Keyboards und er sagte: „Erstaunlich, das ist zwar mein Keyboard, aber wenn du da dran sitzt, klingt es sofort nach dir.“ Kurze Zeit später drückte er auf demselben Keyboard einen einfachen Akkord mit drei Noten, was auch ein dreijähriges Kind hätte spielen können. Und sofort klang es nach Moby, es hatte diese Melancholie und Traurigkeit. Du kannst so etwas nicht erklären. Moby hat in seinem Leben schon ein paar Kollaborationen gemacht, aber er sagte mir, dass unsere Zusammenarbeit anders war, weil wir zusammen im Studio waren und diese besonderen Momente miteinander geteilt haben.

Das war nur möglich, weil du viel gereist bist und immer face to face mit allen zusammengearbeitet hast. Es ist halt ein Unterschied, ob du Files in die Dropbox schiebst oder mit jemandem in einem Raum zusammensitzt, zusammen lachst und trinkst und gemeinsam die Visionen entwickelst. Ich habe mich gefragt, ob du in deinem Studio immer alleine arbeitest, oder ob du Assistenten hast?

JMJ: Die meiste Zeit sitze ich da tatsächlich allein, aber für dieses aufwändige Projekt hatte ich eine Art Produktionsteam. Einen Assistenten in Vancouver, einen in Quebec und einen Partner in Los Angeles. Während ich mit den Künstlern selbst ja sehr viel persönlich zusammen gearbeitet habe, lief der Austausch mit dem Produktionsteam hauptsächlich über Facetime und Dropbox. Durch die Zeitverschiebung wurde quasi rund um die Uhr gearbeitet. Wenn ich ins Bett ging, wurde woanders weitergebastelt und ich hatte am nächsten Morgen schon neue Versionen. Das war großartig. Ich habe sogar ein paar Sessions mit den Assistenten gemacht, wo auf einem Bildschirm Facetime lief und auf dem anderen das Projekt offen war. Das lief super und fühlte sich fast so an, als wären wir in einem Raum. Ich habe für Electronica also viel Zeit sowohl mit meinen Kollaborations-Partnern verbracht als auch im Studio mit ein paar Engineers zum Mixen. Ich habe aber auch sehr viele Remixes für das Album alleine gemacht und sämtliche finale Mixes für Electronica habe ich auch selber gemacht. Gerade bei elektronischer Musik ist der Mix ein erheblicher Teil der Produktion und des Gesamtsounds, mehr noch als bei Pop, Rock oder HipHop. Der Mix ist bei mir ein Teil der Komposition und das kann ich nicht aus der Hand geben.

Heutzutage ist es gar nicht so einfach, eine Produktion zu vollenden, weil du zu jeder Zeit an jedem Element Änderungen vornehmen kannst. Wie schaffst du es zu sagen: Okay, das ist fertig, hier wird nichts mehr dran verändert?

JMJ: Das ist sehr wahr, was du sagst. Wir hatten die Listening-Session für „The Time Machine“ im Dezember 2014. Jetzt haben wir Oktober 2015. In der Zwischenzeit habe ich an dem Album noch mal sehr viel verändert. Ich habe sechs Wochen mit dem Mastering zugebracht, was ein bisschen verrückt ist, wenn du bedenkst, dass man meistens nur ein paar Tage dafür benötigt. Aber was habe ich gemacht: Ich bat ein paar Mastering-Engineers darum, mit ihrer Hardware zu mir ins Studio nach Paris zu kommen. Denn gerade heutzutage kann das Mastering das gesamte Endprodukt drastisch verändern. Gute Mastering-Tools sind wie ein Synth und mit Mastering-Engineers, die ihr Handwerk von der Pike auf gelernt haben, kannst du nicht mithalten. Du kannst zwar selber hier und da an den Levels schrauben, aber wenn du richtig tief in diese Materie eintauchst stellst du fest: Ein richtiges Mastering wird deinen Mix drastisch verändern. Angenommen, du hast zu viel Bass im Mix: Wenn du ein Stereo-Stem zum Mastering-Studio schickst, kannst du da zwar den Bass reduzieren, aber du veränderst auch den Gesamtmix. Jeder Eingriff beim Mastering erfordert eigentlich ein permanentes Anpassen des Mixes und das habe ich auch gemacht. Es hat mich viel Zeit gekostet, aber als ich die fertigen Masters hatte, konnte ich guten Gewissens sagen: So habe ich mir das vorgestellt, jetzt ist es fertig.

Jean Michel Jarre in seinem Studio (Foto: Herve Lassince)
Jean Michel Jarre in seinem Studio (Foto: Herve Lassince)

Lass uns über deine Konzerte reden. Du hast mehrmals Zuschauerrekorde aufgestellt und veranstaltest Riesen-Spektakel. Was ist dein Anspruch an eine Live-Show? Was möchtest du mit den Leuten teilen, wenn du auf die Bühne gehst?

JMJ: Ganz am Anfang wollte ich einfach auf die Bühne, um elektronische Musik live zu spielen. Aber ich dachte auch: Einfach nur hinter deinem Equipment zu stehen ist nicht die aufregendste Show der Welt. Also begann ich damit, Visuals zu entwickeln, die meine Show begleiten, ich arbeitete mit Videos und Lasern. Das war zu dieser Zeit recht experimentell und ging ziemlich ab, ohne dass ich wusste, warum eigentlich. Ich meine, heutzutage benutzt jeder Visuals, egal ob die Rolling Stones, U2 oder Muse. Aber damals war das eben nicht so. Außer vielleicht Pink Floyd und mir gab es nicht viele, die solche Light-Shows und Visuals auf der Bühne einsetzten. In der elektronischen Musik können wir nicht wie bei einer Rock-Show mit der Gitarre über die Bühne rennen, also musste ich mir Alternativen einfallen lassen, und die Visuals waren für mich die Lösung.

Laufen bei den Live-Shows eigentlich Sequenzer oder wird alles von dir und deiner Band live gespielt?

JMJ: Oh, ich habe alles ausprobiert. Midi-Sequenzer, Backing-Tracks, auf der letzten Tour haben wir sogar alles live gespielt. Das war ein Desaster, weil da ziemlich viel schief gelaufen ist. Andererseits kam es dadurch auch zu lustigen Situationen. Einmal hatte ich ein paar Probleme mit meinem Memorymoog, also schaltete ich ihn aus und redete einfach mit dem Publikum. Die Zuschauer liebten das. In einer Zeit, wo alles immer perfekt sein muss, freuen sich die Leute, wenn man Menschlichkeit zeigt. Du hast ein Problem und teilst es mit den Leuten. „Okay Leute, hier läuft was schief, gebt mir mal kurz zwei Minuten.“ Alle lachen, und wenn du danach wieder auf Kurs bist ist es umso besser. Eine Win-Win-Situation. Klar, es gibt auch DJs, die einfach an einem USB-Keyboard rumschrauben, das ist halt ein anderer Ansatz. Wenn jemand überhaupt nichts auf der Bühne macht, dann kannst du dich natürlich fragen: Wo ist der Sinn dahinter? Das ist dann einfach eine kommerzielle Angelegenheit. Für mich ist der beste Weg mittlerweile, Sequenzer laufen zu lassen und die Spuren live zu bearbeiten, abhängig von der Situation. Das ist in Kombination mit live gespielten Instrumenten für mich optimal. Ich glaube, dass das auch die Zukunft der elektronischen Musik ist. Natürlich kannst du fragen, wofür man dann überhaupt noch live-gespielte Elemente braucht und warum man nicht einfach alles vom Sequenzer laufen lässt, vor allem wenn es repetitive Pattern sind. Aber es wird erst organisch, wenn es live bearbeitet und nicht nur stumpf wiederholt wird. Dann kannst du auch Keyboards oder was auch immer dazu spielen.

Du hast auf der Bühne immer eine riesige Keyboardburg mit vielen alten Analog-Synthies. Ist es nicht problematisch, die ganzen Kisten auf Tour instand zu halten?

JMJ: Ja, es ist ein Alptraum, vor allem der Transport im Truck. Unsere Techniker sind immer stundenlang damit beschäftigt, Sachen zu reparieren. Wir haben zwar Ersatz für einige Instrumente, aber eben nicht für alle.

Sympathisch und aufgeschlossen - vielen Dank Jean Michel Jarre! (Foto: Bonedo/Christopher)
Sympathisch und aufgeschlossen – vielen Dank Jean Michel Jarre! (Foto: Bonedo/Christopher)

Lass mich noch eine Nerd-Frage stellen: Wenn du nur drei Instrumente mit auf eine einsame Insel nehmen könntest, welche wären das?

JMJ: Hm, das wäre Ableton Live, das wäre ja schon fast genug. Und dann vermutlich… lass mich nachdenken… ein Memorymoog und ein VCS-3.

Auf den VCS-3 hätte ich gewettet, das ist ja fast so was wie dein Signature-Sound.

JMJ: Absolut. Mit diesen drei Teilen könnte ich schon einiges anstellen.

Ich nehme an, Ableton war auch ein wichtiger Bestandteil deines Reise-Setups, als du für Electronica unterwegs warst?

JMJ: Tatsächlich habe ich mit Pro Tools angefangen, denn ich war immer ein Pro-Tools-Typ. Aber ich war irgendwann richtig genervt von Pro Tools, vor allem von ihrer Preispolitik. Die waren sich ihrer Sache etwas zu sicher. Jedes Jahr ändern sie alles, und drei Jahre später kannst du die Vorgängerversion nicht mehr benutzen, lauter so Sachen. Pro Tools habe ich benutzt wie eine 24-Spur-Studer-Bandmaschine. Jetzt erscheint mir Pro Tools veraltet. Ich habe angefangen, Ableton zu benutzen und es ist so großartig. Die meisten Leute wissen gar nicht, wie gut es klingt. Ich habe Bounces mit Ableton Live 9 und mit Pro Tools 10 gemacht. Und der Bounce aus Ableton klingt um Welten besser. Es tut mir leid das zu sagen, aber du verlierst bei Pro Tools 10 etwas im Stereobild, vor allem in den Höhen. Bei Ableton verlierst du nichts, das ist absolut transparent. Ich habe auf dem Laptop Ableton-Sessions mit 120 Spuren gehabt (die Songs mit Air, Vince Clark und Lang Lang) und es war im Hinblick auf die CPU-Auslastung total problemlos. Ableton ist wirklich ein fantastisches Programm, es ist zu meinem Lieblingsinstrument geworden.

Könntest du überhaupt sagen, wie viele Hardware-Synthies, wie viele Instrumente du in deinem Studio hast? Oder kann man die mittlerweile gar nicht mehr zählen?

JMJ: Ich habe sie noch nie gezählt. Es sind sehr viele. Du weißt, ich habe mit dreien angefangen, aber in den letzten Jahrzehnten sind fast jeden Monat einige dazugekommen. Und ich habe alle behalten. Es sind wirklich unzählige.

Wird es Live-Shows mit dem Electronica-Projekt geben?

JMJ: Als ich mit dem Projekt angefangen habe, dachte ich überhaupt nicht an die Bühne. Für mich ging es einzig um die Kollaborationen an sich. Nach einer Weile habe ich dann aber doch gedacht: Damit wäre ich schon gern auf Tour. Die Tatsache, dass es sich um Kollaborationen handelt, sollte dabei kein Problem sein. Schließlich habe ich mehr als zwei Stunden Material plus einige Tracks aus der Zeit vor Electronica, die ich auf jeden Fall in einem heutigen Soundgewand live spielen möchte. Einige der Kollaborations-Partner haben mir schon signalisiert, dass sie hier und da bei einigen Konzerten dabei sein werden. Es wird passieren und es wird hoffentlich ein großer Spaß.

Vielen Dank für das Gespräch!

Wer mehr über Jean Michel Jarre erfahren möchte, sollte sich diese Dokumentation nicht entgehen lassen!

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