Praxis
Spielen ohne Noten
Ich starte mit der allerersten Lektion des Bereichs “Spielen ohne Noten” für Anfänger. Joja Wendt begrüßt mich am Flügel sitzend und beginnt mit ein paar Grundlagen, denn ganz ohne die Basics geht es natürlich auch ohne Noten nicht. Wie setze ich mich ans Klavier? Wie finde ich das mittlere C und davon ausgehend die anderen Töne? Was ist die Fünf-Finger-Grundposition?
Nach dieser “Ersten Fahrstunde” steigen wir richtig ein, und hier wird es spannend: Es folgen jetzt nämlich nicht das Noten lesen und die typischen Anfängerstücke, sondern der Unterricht startet mit einem prominenten Gast. Mit ein paar einfachen Akkorden improvisieren wir eine Klavierbegleitung zu Udo Lindenbergs “Ich schwöre”. Auf der eingeblendeten Tastatur mit “Ghosthand” sehe ich genau, welche Töne Joja Wendt spielt und welchen Fingersatz er dabei verwendet. Durch die Kombination aus Zuhören, Zuschauen und Ausprobieren ist die Begleitung schnell erlernt, ohne dass ich dafür Noten lesen können müsste. Da man von Anfang ohne Noten “nach Gehör” spielt, fällt es sehr leicht, von Joja Wendts Beispielen abzuweichen, selbst zu experimentieren und mit der Begleitung zu improvisieren.
Sehr gut gefällt mir auch, dass die ersten Kenntnisse über Akkorde, Notenwerte (Viertel, Achtel…) und andere “theoretische” Details dabei quasi nebenbei vermittelt werden. Manchmal greift Joja Wendt vor und verwendet Begriffe, denen man im “normalen” Klavierunterricht erst begegnet, wenn man schon etwas spielen kann und die Grundlagen der Musiktheorie drauf hat. Das ist aber gar nicht schlimm, denn die Praxis wird dadurch nie gestört. Schon nach den ersten paar Lektionen hat man das Gefühl, eine gut klingende Klavierbegleitung spielen zu können, und hat nebenbei schon ein paar weiterführende Infos abgespeichert. Das Ziel “schnelle Erfolgserlebnisse” ist gerade in diesen ersten Lektionen für mein Empfinden ausgezeichnet umgesetzt.
Dann geht’s ab in den sogenannten “Übungsraum”, der sich als roter Faden durch das gesamte Programm der Piano Academy zieht. Hier kann ich nun Udo Lindenberg bei seinem Song begleiten. Er singt, ein dezenter Flächensound gibt etwas harmonische Orientierung und ein Metronom hilft beim Halten des Takts. Später wird der Klick weggelassen und ich muss Udo zuhören, um sein Timing zu halten. Gleich am Anfang bekommt man auf diese Weise ein Gespür dafür, wie man anderen Musikern zuhört und einen Sänger begleitet. Gerade für Anfänger ist es ein tolles Erfolgserlebnis, wenn das klappt und man es nach ein paar Versuchen schafft, den Song zusammen mit dem Sänger zu spielen.
Auch in den weiteren Lektionen dieses Kurses steht das freie Spielen im Vordergrund. Es geht zum Beispiel darum, “Klassik” zu improvisieren und man lernt die Pentatonik und das Bluesschema kennen. Später kommen noch weitere Gäste ins Studio, mit denen man zusammen spielt (zum Beispiel Otto Waalkes mit dem “Zwergenmarsch”). Immer gibt es einen Übungsraum, in dem man zu einer Begleitung “jammen”, frei spielen und eine Menge Spaß haben kann.
Überhaupt macht das Ganze viel Spaß und hat nichts mit trockenen Fingerübungen gemeinsam. Auf jemand, der noch nie Klavier gespielt hat, könnten einige Lektionen anfangs etwas überwältigend wirken, denn es geht durchaus mit großen Schritten voran. Der Vorteil davon ist aber: Es klingt gleich richtig gut und überhaupt nicht nach Kinderkram. Dank der “Ghosthand” sieht man jederzeit, was auf der Klaviatur passiert, und man kann beliebig oft zurückspulen, um sich etwas noch einmal anzusehen. Wer motiviert ist, wird hier eine tolle Zeit haben und mit großen Schritten weiterkommen.
Im Fortgeschrittenen-Kurs “Spielen ohne Noten” wird eine gewisse Fingerfertigkeit vorausgesetzt, aber das Prinzip bleibt das gleiche. Der Fokus verschiebt sich hier recht stark in Richtung Jazz-Piano. Über Funk-Pattern, Spielen mit einem Bassisten (mit Bassist Thomas Biller), Walking Bass und erweiterte Blues- und Boogie-Woogie-Improvisationen geht es schließlich zu perlenden Licks à la Oscar Peterson – ein legendärer Virtuose, zu dem wohl jeder aufstrebende Jazzpianist bewundernd aufschaut. Einige Lektionen haben es hier richtig in sich, aber das ist ja auch Sinn der Sache!
Der improvisatorische Ansatz und das Konzept, “realistische” Sessions mit Bass und Schlagzeug zu simulieren, gefallen mir ausgezeichnet. Oft wirkt der Unterricht gar nicht wie eine Klavierschule, sondern wie eine entspannte Session, in die man sich vertieft, jede Menge Spaß hat und nebenbei Klavier spielen lernt. Übrigens macht das Ganze auch Spaß, wenn man schon gut spielen kann. Durch seine langjährige Bühnenerfahrung hat Joja Wendt eine Menge Profi-Tricks auf Lager, die auch gestandene Pianisten noch ein ganzes Stück weiterbringen können.
Lernen mit System
Im Bereich “Lernen mit System” findet man die etwas “theoretischeren” Inhalte, die den improvisatorischen Ansatz optimal ergänzen. Im Anfängerkurs geht es zum Beispiel um einige technische Grundlagen (Sitzposition, Handhaltung, Pedal), die ersten Schritte im Noten lesen, Akkorde und Leadsheets und die Entwicklung eines Arrangements. Auch die Gehörbildung kommt nicht zu kurz und der Einstieg in die Jazz-Harmonielehre wird mit leicht verständlichen Infos zu Vierklängen und Akkorderweiterungen erleichtert. Fortgeschrittene können sich zum Beispiel in die Reharmonisierung eines Blues vertiefen. Der Fortgeschrittenen-Kurs “Lernen mit System” wirkt aber noch etwas unfertig, jedenfalls besteht er aus deutlich weniger Lektionen als die anderen Kurse. Ich bin gespannt, was hier in Zukunft noch kommt!
Natürlich geht es in diesem Bereich etwas sachlicher zu als bei “Spielen ohne Noten”. Trocken wird es dennoch nicht, denn Joja Wendt präsentiert die Theorie auf eine erfrischende, praxisbezogene Art und Weise und auch hier stehen schnelle Erfolgserlebnisse im Vordergrund. Man wird nicht mit Informationen zugeschüttet, sondern bekommt genau die richtigen Infos zu musikalischen Zusammenhängen, die man gleich in der Praxis umsetzen kann. Dadurch wird auch die Theorie zu einem natürlichen und sogar richtig spannenden Teil des Klavierunterrichts.
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Anmerkungen
Insgesamt gefällt mir Jojas Piano Academy richtig gut. Der Ansatz, das freie Spielen ohne Noten in den Vordergrund zu stellen, die unverkrampfte Art der Präsentation und der starke Praxisbezug ergeben ein rundes Gesamtpaket, das in allen Belangen gut durchdacht wirkt. Dies ist eine Online-Klavierschule, die nicht nur Spaß macht und einen einfachen Einstieg ermöglicht, sondern nach meinem Dafürhalten auch zu langfristigen Erfolgen führen könnte. Im Interview sagt Joja Wendt: “Wer frei Klavier spielen kann, bleibt meist ein Leben lang dabei. Da gibt es kaum Abbrecher.” Das kann ich aus meiner Sicht bestätigen, und so kann ich mir durchaus vorstellen, dass Jojas Piano Academy tatsächlich für viele ein erfolgreicher Einstieg in das Klavier spielen sein kann. Jedenfalls halte ich das Programm für deutlich vielversprechender als manche andere, technischer bzw. theoretischer ausgerichtete Online-Klavierschule. Zudem ist es jederzeit verfügbar und relativ kostengünstig – beides Punkte, die die Einstiegshürde deutlich abmildern.
Einige grundlegende Nachteile des Online-Unterrichts kann jedoch auch Jojas Piano Academy nicht vollständig umschiffen. So bleibt der Inhalt der Lektionen letztlich festgelegt und unveränderlich. Wo ein herkömmlicher Klavierlehrer auf individuelle Wünsche, Stärken und Schwächen eines Schülers reagieren und den Unterricht entsprechend gestalten kann, lässt sich der Online-Unterricht nur durch die Wahl der Lektionen an die persönlichen Anforderungen anpassen. Auch fehlt das direkte Feedback des Lehrers; bei der Beurteilung des eigenen Erfolgs ist man auf sich allein gestellt. Zwar findet man durch das kleinteilige “Baukastensystem” für beinahe jeden “Schwierigkeitsgrad” den richtigen Punkt zum Einstieg, und durch den Fokus auf Improvisation und freies Spielen sind die Inhalte weniger festgelegt als bei gänzlich “starren” Online-Angeboten. Letztlich bleiben die Lektionen aber vorgefertigte Videos, die man sich entweder ansehen oder es bleiben lassen kann. Dies ist natürlich kein spezielles Problem von Jojas Piano Academy, sondern ein grundsätzlicher Nachteil des Online-Unterrichts. In Zukunft soll es durch “Webinare” zumindest abgemildert werden. Geplant sind laut Joja Wendt Termine, zu denen er online ist und auf Fragen der Schüler direkt reagieren kann.
Einige technischer orientierte Online-Klavierschulen und Apps setzen auf technische Kniffe wie die Anbindung eines Digitalpianos oder Keyboards über MIDI, wodurch die Programme richtig und falsch gespielte Noten erkennen können. Mitunter funktioniert diese Erkennung auch über Mikrofon, wie etwa bei Skoove. Auf solche Finessen muss man bei Jojas Piano Academy verzichten. Allerdings würden sie hier auch überhaupt keinen Sinn ergeben, da es ja gerade nicht darum geht, fest stehende Arrangements Note für Note nachzuspielen. Nach meinem Empfinden ist dieser freiere Ansatz der Piano Academy deutlich Erfolg versprechender als das sture Nachspielen von Noten, bei dem am Ende ein Computerprogramm bewertet, wieviel Prozent der Noten man richtig gespielt hat. Wer frei zu spielen lernt, schafft etwas Eigenes und erfährt den Erfolg viel direkter und intensiver. Die Wahrscheinlichkeit, dass man mit Spaß bei der Sache ist, ist dadurch in meinen Augen deutlich höher als bei solchen rein technischen Angeboten.