Praxis
Nicht immer leicht zu bedienen
Die Größe von Millennias HV-32P und HV-35P ist wirklich praktisch, das Gehäuse macht einen guten, stabilen Eindruck. Dieser Satz liest sich, als würde direkt ein „aber“ folgen, oder? Und genau so ist es: Der Nachteil der ausladenden Bleche an der Front ist nämlich, dass man aus vielen Betrachtungswinkeln nicht mehr alles lesen kann, besonders jedoch, dass man nicht mit groben Handgriffen an den Gains drehen kann. Sofort stößt man mit den Fingern an eines der Bleche – besonders unangenehm beim 35P, wenn ein Kabel im DI-Input steckt. Und was ist das Bedienelement, welches man am häufigsten bei einem Preamp bewegt? Genau: Gain. „Gain Riding“, also das Mitfahren der Vorverstärkung während der Aufnahme, bei den über den gesamten Gainbereich sehr konstant klingenden Solid-State-Millennias eigentlich immer sehr gut möglich, wird hier zur nervigen Frickelei. Nun gut, den einen stört’s, dem anderen ist es herzlich wurscht. Ich bin in diesem Fall nur mal leider „der eine“, nicht „der andere“.
Klangqualität: Oh ja!
Es gibt natürlich Argumente für die Millennias, denen man sich nur schwer entziehen kann… klar: Es ist die Klangqualität. Zunächst einmal ist der Rauschteppich kein langfloriger Teppich, sondern eher geöltes Parkett. Nicht nur, dass das Rauschen wirklich sehr gering ist, es ist auch sanft und gleichmäßig. Auf der anderen Seite muss man wirklich mit hohen Pegeln arbeiten, um die Preamps zum Kratzen zu bewegen. Typisch Millennia ist, dass es für das Klangresultat nicht sonderlich wichtig ist, in welchem Gainbereich man sich aufhält, alle Eigenschaften ändern sich über den Verstärkungsbereich so gut wie nicht. Das können nicht alle Preamps von sich behaupten! Durch die irrsinnig hohe Bandbreite und den Verzicht auf Übertrager ist die Weitergabe von Spannungsanstiegen und -abfällen (also Transienten) sehr originalgetreu und verleiht beiden Verstärkern eine enorme Detailzeichnung und Transparenz. Gemeinsam mit einem wirklich ebenen Frequenzgang ergibt sich ein sehr klares Klangbild. Erstaunlich, was an diesem Amp vermeintlich „träge“ Mikrofone wie ein MD 421 alles leisten. Hier zeigt sich mal wieder, wie gut auch Tauchspulenmikrofone für Vocal-Recordings geeignet sind. Sie benötigen eben nur einen hervorragenden Preamp, womit eine vermeintliche Kostenersparnis gegenüber Kondensatormikrofonen prompt wieder zusammenschmilzt. Im Laufe des Tests kam es mir so vor, als sei der Zweikanaler HV-32P ein bisschen dichter und dicker als der HV-35P – was möglicherweise den identisch dimensionierten Netzteilen zuzuschreiben ist. Allerdings handelt es sich dabei um Nuancen, die auch durchaus im Bereich der unvermeidlichen Serienstreuung liegen könnten. Zugegeben, ich kann die beiden Kanäle des HV-32P klanglich nicht auseinanderhalten, was wiederum für eine ordentliche Bauteilselektion spricht.
Vordämpfung und Hochpassfilter arbeiten sehr clean
Das Hochpassfilter arbeitet so, wie man es aufgrund der Werte erwarten kann: Es geht sehr vorsichtig zu Werke und ist in erster Linie darauf bedacht, dem Nutzsignal keinen Schaden zuzufügen. Selbst an der Grenzfrequenz sind keine Frequenz- oder Phasenprobleme zu erwarten. Auch über die Vordämpfung können keine negativen Aussagen getroffen werden.
Relais
Schaltet man in den Bändchenmodus, passiert das gleiche wie bei allen Schaltvorgängen der Millennias: Es ist erst einmal mucksmäuschenstill am Output. Mit dem Klacken des Relais wird der Signalweg eine knappe Sekunde später wieder freigegeben. Der Ribbon-Mode scheint die Baugruppe der 48V-Spannungsversorgung komplett zu umgehen. Im Vergleich mit dem „normalen“ Betriebsmodus und 10 dB mehr Gain sind mir jedoch keine Klangunterschiede „ins Ohr“ gesprungen. Zumindest in der Theorie ist das aber eine gute Idee, Verstärkerhersteller wie Forssell bieten beispielsweise einen separaten DC-Eingang für Bändchen- und Tauchspulenmikrofone an.
Lackmustest mit 4038
Selbst mein fast schon lächerlich leistungsschwaches Coles 4038 kann stark hochverstärkt werden, ohne dass man signifikante Rauschprobleme bekommt – dieses Mikrofon mit leisen Signalen ist diesbezüglich der Lackmustest für Preamps. Die Feinheiten des dünnen Aluminiumbändchens schieben beide Millennia-Verstärker genauso durch, wie es auch meine True Systems Solo Ribbon können. Muss man wie beim Coles mit extrem hohen Verstärkungen arbeiten, fällt ein Umstand besonders auf: Gain macht in den ganz hohen Verstärkungsbereichen große Schritte. Somit ist der Regelweg im unteren Gainbereich fein aufgelöst – das ist zunächst sehr praktisch. Schade wiederum ist, dass auf den Gehäusen kein Platz für eine Beschriftung des Regelbereichs mit Zahlen war. Darüber hinaus sieht die Punktekette aus, als sei Gain linear. Und für meinen Geschmack ist der Sprung auf den letzten Millimetern deutlich zu hoch. Gerade bei gut abschätzbaren Aufzeichnungen (etwa dem Re-Amping, wo man vorher schlicht und einfach einen gemütlichen Testdurchlauf mit dem gesetzten Pegel machen kann, um die Signalkette gainmäßig absolut optimal auszunutzen), ist es wirklich zu fummelig.
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Metering verkehrt
Und wo ich gerade über das Gain mosere: Die Tatsache, dass bei beiden Verstärkern das Metering verkehrt herum ist, also mit dem höchsten Wert links, ist schlicht und einfach ein Ärgernis. Ok, es gibt die Farbmarkierung und der Grund ist auch klar: Hochkant in ein System-500- oder System-200-Gehäuse eingebaut, laufen die Meters dann von „unten nach oben“ wie an Mischpulten. Dennoch: Das könnte man im Werk auch umlöten, wenn man schon identische Platinen benutzt.
Auf einen enormen Schrecken folgte übrigens die „Erleichterung“, dass das Crosstalk recht zurückhaltend ist. Das gilt nur leider nicht für das Metering: Bei hohen Pegeln auf Kanal 1 flackerte das Meter des zweiten Kanals fröhlich mit – glücklicherweise ist im Signalpfad davon nichts zu hören.
XLR-Überraschung
Das einkanalige Gerät gestaltete den Abschied von seiner Seite aus ziemlich herauszögernd: Beim Entkabeln wollte es mein Output-Kabel nicht wieder hergeben. Das kleine Push-Blech blieb ohne Funktion, der Neutrik-Stecker saß fest. Ich wollte nur ungern ein Vovox Sonorus zurück zum Vertrieb schicken. Letztendlich musste ich den XLR-Stecker aus dem Gehäuseinneren herausdrücken, während ich den kleinen Arretierungsbügel hochgehoben habe. Keine Arbeit, die man während einer Produktion unbedingt machen möchte. Wirklich: Mit Neutrik-Buchsen ist mir so etwas noch nie passiert. Es hat schon seinen Grund, weshalb sich der Mehrpreis für vernünftige Buchsen und Stecker lohnt. Ach so: Mittlerweile gibt es wirklich vernünftige arretierende Anschlüsse für externe Netzteile. Alles in allem sollte ein Premium-Hersteller auch bei den „kleinen“ Serien seinen Anspruch nicht aufgeben. Und wenn das Ergebnis dann jeweils 50 Euro mehr kostet – sei’s drum.