Praxis
Es erzeugt bei mir auf Anhieb ein herzerwärmendes Gefühl, als der mächtige Synthesizer aus Reason nach der Installation plötzlich mit allen Potis, Fadern und Tastern auf dem Apfel-Tablett erscheint. Und wie bei fast allen iPad-Apps geht vom Prinzip der Touch-Bedienung auf Anhieb ein hoher „Damit-rumspielen-wollen“-Faktor aus. Die App befördert diesen Spieldrang durch eine trickreiche Touch-Umsetzung: „Fasst“ man nämlich ein Element wie etwa einen Fader an und bewegt sich ohne abzusetzen davon weg, wird der Parameter quasi „mitgenommen“ – gerade beim exzessiven Drehen und Schrauben eine praktische Sache, zumal es mir auch mit größter Fingerakrobatik nicht gelang, an die Grenze der gleichzeitig anfassbaren Parameter zu kommen. „Gespielt“ wird Thor dann wahlweise über einen entsprechend konfigurierten MIDI-Controller oder – was natürlich wesentlich naheliegender ist – über die einblendbare On-Screen-Tastatur. Neben virtueller Anschlagsdynamik wurde ihm ein so genannter „Strum-Modus“ mit auf den Weg gegeben, der bewirkt, dass man auf dem Keyboard gedrückte Tasten wie Gitarrensaiten anschlagen kann. Ein ziemlich ausgefuchster Akkord-Assistent kann ebenfalls zur Hilfe gerufen werden und darüber wachen, dass der iPad-Keyboarder nur tonal passende Tasten betätigt. Neben verschiedenen spieltechnischen Grundeinstellungen wie etwa Pitchbend-Bereich, Mono/Legato, Portamento und Polyphonie hält die Keyboard-Ansicht neben dem Master-Volume zusätzlich noch zwei frei adressierbare Potis und zwei Taster bereit.
Die zweite aufrufbare Ansicht (von dreien) ist das Knobs-Fenster, die Ansicht also, wo der Frosch die Locken hat, sprich: die gesamte Syntheseeinheit. Angenehm hier: Alle virtuellen Potis, Taster und Fader wurden (im Gegensatz zu der je nach Auflösung des Monitors manchmal etwas klein geratenen Darstellung in Reason) äußerst großzügige Abmessungen spendiert, so dass man die Elemente zielsicher mit den Fingern betouchen kann. Nachteil dieser augenschonenden Lösung: Es passen nicht alle Sektionen (Oszillatoren, Filter, Hüllkurven, Effekte) auf das kleine Display des iPads, weshalb hier ein Expand-Taster eingebettet wurde, bei dessen Betätigung die gerade benötigte Einheit aufklappt. Im Ergebnis klappe und wurschtel ich beim Sounddesign relativ häufig zwischen den Panels hin und her, so dass ich mir nach kurzer Zeit bereits wünsche, man hätte bei Propellerhead auf eine Ein-Bildschirmlösung gesetzt, die man durch einfachen Fingerstreich von links nach rechts verschieben kann. Das sollte nicht allzu aufwändig umsetzbar sein, weshalb es bei mir ganz oben auf der Update-Wunschliste steht (möglichst mit der Option zwischen beiden Modi wechseln zu können). Bis dahin vergebe ich einen halben Minuspunkt für Unhandlichkeit.
Propellerhead Thor iPad: Knobs-Ansicht
Das dritte Fenster ist den Themen Routing und Stepsequencer gewidmet und entschädigt den Anwender für die etwas unhandliche Knobs-Ansicht, denn hier sind alle Bedienelemente auf einen Blick und gut erreichbar untergebracht. Die Möglichkeiten des Routings lassen sich auf die schlichte Formel bringen „alles geht“. Denn hier darf mit wählbarer Intensität so ziemlich jede denkbare Quelle auf jedes Ziel adressiert werden und das dank der übersichtlichen tabellarischen Ansicht äußerst komfortabel.
Die untere Hälfte des Bildschirms wurde vom Stepsequencer angemietet, der ein mehr als ausgebuffter Vertreter seiner Gattung ist, denn neben den Standards wie Velocity, Gate und Stufen-Dauer (metrisch) befehligt er noch in jeder seiner sechzehn möglichen Steps noch zwei weitere, frei adressierbare Parameter. Dabei läuft er in frei wählbarer metrischer Geschwindigkeit und das vorwärts, rückwärts, alterierend und sogar zufällig: Da geht was. Und entsprechend ist hier auch ein idealer Zeitpunkt, um in einige der hunderte, hervorragend programmierten und in Gruppen geordneten Werkspresets hineinzuhören.
Für dich ausgesucht
Spätestens hier wird eindrucksvoll klar, dass Thor zur Gattung der Eierwollmilchsäue gehört und dabei muss ich zu meiner Schande gestehen, dass ich nicht mal die ganzen Polysynths, Lead-Sounds oder hervorragenden FM-E-Pianos vorgestellt habe. Was allerdings auch daran liegt, dass sich mit dem On-Screen-Keyboard Akkorde nur sehr qualvoll greifen lassen. Wer Thor wirklich „spielen“ will, kommt also um den Einsatz eines externen Keyboard-Controllers nicht herum. Aber egal, wie man ihn am Ende betätigt, Thor ist mit seiner wandlungsfähigen Oszillator- und Filtersektion ein Synth für so ziemlich jeden Einsatzbereich. Vom handfesten Wobble-Bass über ätherische Flächen bis hin zu Effekt- und Drumsounds. Dabei kann der Klang meistens überzeugen, besonders dann, wenn man zu externer Wandler-Hardware greift und die Audiodaten nicht von der eher bescheidenen Apple Hardware an die Außenwelt übermitteln lässt.
Etwas gestört haben mich die in Extremeinstellungen manchmal auftretenden Aliasing-Artefakte. Die sind mir in dieser Deutlichkeit innerhalb von Reason so nicht aufgefallen – möglicherweise haben die Programmierer bei der Portierung auf das iPad zu Gunsten eines geringeren Ressourcenhungers die Genauigkeit des internen Oversamplings ein bisschen heruntergefahren. An der Engine selbst wird es wohl nicht liegen, denn die Sounds sind zwischen Desktop- und iPad-Version vollständig kompatibel und können über den – immer etwas lästigen – Weg der iTunes-Synchronisation hin und her geschoben werden.