Querschläge: Marketing vor Inhalt?

Ist Nile Rodgers schuld? – 2013 war noch keine Woche jung, da vermeldete der Chic-Freak:

Foto: © Fotolia / Collage bonedo.de
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„Es wird eine neue Daft Punk Platte geben“. Ob der twitter-kundige Rhythmus-Aktivist wusste, dass er damit den Stein für einen der gewieftesten Musik-Marketing-Coups der Neuzeit ins Rollen brachte, ist irrelevant. Der Anfang war gemacht, die Welt angefixt. In immer kürzer werdenden Abständen wurden Informationen rund um dieses neue Album der Öffentlichkeit zugespielt. Und die verhielt sich wie geplant: jede noch so belanglose Tatsache wurde zur Investigativ-Sensation hochgejazzt. Nicht einmal die Einreichung der noch namenlosen Albumtracks bei einer britischen Verwertungsgesellschaft erschien zu profan. Überschrift dieser Nachricht beim einflussreichen, weil angeblich unabhängigen Online-Magazin Pitchfork.com: „Check Out The Track Lengths“. 
Salami-Taktik ist gar kein Ausdruck: Bis zum 18. April, und damit über einen Zeitraum von mehr als drei Monaten lieferte das französische Filter-Funk-Duo immer neue Fakten. Vom ausführenden Label, über Albumtitel und Cover, bis hin zu ausführlichen Interviews mit vermeintlich Beteiligten. Nur Musik war keine zu hören. Aber genau das war ja das Ziel. Die ganze Welt sprach über ein Album, von dem niemand wusste, wie es sich anhörte. Die Klang-Komponente wurde immer unwichtiger, nebensächlicher. Aber egal, denn jeder würde es hören wollen müssen.
Schotten, die wie Kanadier heißen, laden zur Listening-Session nach Süd-Kalifornien: Noch vertrackter machte es das schottische Brüderpaar namens Boards of Canada. Zum Record Store Day 2013 veröffentlichten sie streng limitierte 12’’, auf denen eine Roboterstimme Zahlencodes rezitierte. Diese Codes aber waren lediglich eines von insgesamt sechs Teilen eines Puzzles, das im Ganzen Ort und Zeit einer öffentlichen Listening-Session für das zur Debatte stehende Album verriet. Und zwar in einer süd-kalifornischen Wüste, wie inzwischen bekannt ist. Flankiert von mysteriösen Website-Posts, Reklame-Clips im Kinderfernsehen und einer Projektion des Single-Videos an eine Hochhauswand in Tokyo, geriet auch die Veröffentlichung ihres neuen Machwerks zu einer Marketing-Inszenierung sondergleichen. Auch auf die Gefahr hin, redundant zu klingen: Das alles erfolgte, bevor auch nur eine neue Note erklang.
Herr im Himmel – Kanyes Wild Wild West Guerilla: Dito Kanye West. Den Anfang der Aufmerksamkeits-Kampagne für dessen aktuelles Opus Magnum machte die Veröffentlichung des Covers – oder sollte man besser sagen, des Nicht-Covers. Dass sich die Welt darüber eine Weile den Mund zerreißen würde, hatte der nicht nur leicht größenwahnsinnige Produzent und Rapper wohlkalkuliert. Dem Möchtegern-Skandal folgten kurze Making-of-Clips sowie Bestätigungen von Seiten der Kollaborateure, tatsächlich dabei gewesen zu sein. Die Krönung im Kampf um die weltweite Aufmerksamkeit aber waren die überdimensionalen Wand-Projektionen, bei denen West die eigens dafür produzierten Videos in 66 Städten auf der ganzen Erde zeigen ließ. Um sie nach der Veröffentlichung des Albums wieder einzuziehen bzw, auf Youtube und co zu sperren.
The Rest is Noise: Und wozu das Ganze? – Leor Galil (u.a. Autor für Forbes usw.) bietet HIER folgende Erklärung: „There’s something about them all that suggests a genuine interest in connecting with fans in a way that goes beyond the consumer transaction.“ Lieber Leor, so schön das in einer idealen Welt auch wäre. „Connecting with fans“ dürfte so ziemlich das Letzte sein, was Künstler wollen – von Konzerttickets, Merchandise und Tonträgern einmal abgesehen. Man könnte sogar soweit gehen und behaupten, das Gegenteil sei der Fall. Denn zum einen funktioniert das „Connecten“ nur in einer Richtung, nämlich vom Künstler zum Hörer. Zum anderen bringen die Marke-Taktiken Hörer und Fans um den Kern dessen, was sie zu Hörern und Fans gemacht hat: Musik. (Um Aufmerksamkeit buhlen ist nicht nur legitim, sondern gehört ein stückweit zum Arbeitsethos moderner Musik-Entertainer. Konsumenten zu unterstellen, ihre Hör-Präferenzen hingen am Marketing-Budget eines Major-Label-Produktmanagers, nicht. )

Über Joinmusic

Unser neuer Kolumnist Thomas Kühnrich ist seit 2011 Redaktionsleiter bei Joinmusic.com. Dieses Online-Magazin und Label-Portal will getreu des Mottos “Good Music Only” eine Anlaufstelle für Labels und Musikinteressierte abseits der Top 20 Playlists sein. Und weil Justizia zwar blind, nicht aber taub ist, gibt sich Joinmusic subjektiv, voreingenommen und parteiisch. Mit News, Track-Tweets, Reviews und Hintergrund-Geschichten informiert das Magazin über Künstler, die den Unterschied machen. Das einzige Genre, das für sie wirklich zählt, heißt „großartige Musik“. Mit diesem Hintergrundwissen gewappnet, wird uns Thomas ab sofort mit seinen “Querschlägen” ein wenig Pfeffer in den Alltag bringen…

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Fritz Koenig sagt:

#1 - 27.08.2013 um 21:03 Uhr

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Ja glaubt den wirklich einer, daß das was täglich an "Musik" als Nebengeräusch konsumiert wird einer anderen Grundlage als Geld zuzuordnen ist. Die paar "Hanseln" die Musik als Ihr Leben ansehen sind mehr als selten und meist nicht vorne dabei.
Marketing ist alles. Qualität rauf oder runter kommt erst danach. Das ist nicht einmal so schlecht solange die Leute Spaß dran haben. Schlimm ist nur das der Spaß immer höhere "Auslösemomente" zu haben hat. Was ist in einigen Jahren als Werbewirksam anzusehen? Musiker X hat 300 Besucher bei seinem Konzert ermordet? Live auf Youtube zu sehen! Aber die Downloads sind explodiert, zig-Millionen Klicks auf Youtube. Muss man sich das so vorstellen? Oder ist es wie in der Mode, daß nach einiger Zeit alles wieder kommt. Was ist von gecasteten kurzzeiterfolgreichen und dann versenkten "Stars" zu halten. Die ja offensichtlich nur fürs Marketing der Produzenten, des Senders etc. herhalten müssen. Und: das auch noch freiwillig tun. Was ist von "Musikern" zu halten die als Ziel ihrer Karriere "fette Autos und tolle Frauen" angeben. Man beachte die Wertigkeit der Dinge die in solchen Aussagen liegen. Die "DINGE" die man sich dann kaufen kann sind "Autos und Frauen"? Alles in Allem sind Marketingstrategen die eigentlichen Künstler. Die bringen offensichtlich alles an den Mann - "zielgruppenorientiert". Ich persönlich versuche alles was mir angenehm vorkommt und irgendiwe werblich kommuniziert wird zu hinterfragen und falle trotzdem auf manche Marketingstrategie rein. Wie soll einer der sich da keine Gedanken drüber macht - oder machen kann - behaupten. Dem bleibt eigentlich nur über sich das zu kaufen was ihm der Marketingstratege vorschreibt. Bedarfsweckung heisst das dann. Funktioniert bei Menschen mit geringer Bildungsnähe besser als bei Menschen die mehr als nur den Sportteil im TV sehen (vor ein paar Jahren hätte ich statt "TV sehen" "Zeitung lesen" geschrieben aber da haben ja auch schon viele ein Problem damit).
Kurz: Ohne Marketing keine Aufmerksamkeit. Ohne Aufmerksamkeit keine Verkäufe, ohne Verkäufe keine Kohle und ohne Kohle kein Marketing.

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