Praxis
Und wie klingt das nun?
Zunächst ist das Regelverhalten des Rupert Neve Designs 535 etwas ungewohnt, wenn man das Hantieren mit VCAs gewohnt ist. Attack ist sehr schnell und angenehm sanft, Release reagiert zwar recht flink auf kleine Schwankungen, braucht aber im Mittel sehr lang, um den Ausgangswert zu erreichen. Bei starker Regelung kann es passieren, dass die gesamte Releasephase bis zu 10 Sekunden dauert. Das erinnert mich an das Releaseverhalten des STA Level und lässt sich eher wie ein Vocal-Rider denken, weil die Gain Reduction auch bei drastischen Einstellungen nicht rabiat wird – rhythmisches Pulsieren oder unangenehmes Pumpen ist nahezu ausgeschlossen.
Man könnte also meinen, wir hätten hier einen optimalen Tracking-Kompressor vor uns. Schon bei den ersten Tests mit verschiedenen Signalen fällt allerdings auf, dass der 535 für eine leichte, aber spürbare Verschiebung im Klangcharakter sorgt, die wie eine Übertragereigenschaft anmutet, aber umso deutlicher wird, je stärker die Gain Reduction greift. Ich nehme also an, dass sie weniger auf den Übertrager zurückzuführen ist als auf eine Eigenschaft der Diodenbrückenschaltung. Die Messung ergibt, dass keine Phasenverschiebung oder messbare Veränderung im Frequenzgang stattfindet, es handelt sich also vermutlich um eine psychoakustische Wirkung. Der Klirrfaktor ist spürbar und messbar, aber gering. Hier zeigt sich, dass höhere Frequenzen etwas stärker mit zusätzlichen Obertönen ausgestattet werden, sobald die Kompression greift und zwar um so mehr je schneller die Releasezeit eingestellt ist. Es handelt sich im Wesentlichen um k3, bei höheren Frequenzen kommen nach und nach Spuren von k2 und k4 hinzu. Die subjektive Klangveränderung würde ich als Verdickung beschreiben. Das ist wie immer eine Medaille mit zwei Seiten: Einerseits sorgt es für einen gewissen Woweffekt und kann helfen, mageren Aufnahmen auf die Sprünge zu helfen. Alles kommt etwas breitbeiniger daher, zeigt mehr subjektive Präsenz und Loudness. Andererseits passiert eine Kleinigkeit mit der Substanz im Grundtonbereich, die auch unerwünscht sein kann. Zusätzlich kann es vorkommen, dass der Neve dadurch, dass er subjektiv alles nach vorne holt, eine Verringerung der räumlichen Tiefe bewirkt, die man dann mögen muss.
Ich hatte besonders bei Gesangspuren, aber auch bei stark verzerrten Gitarren den Eindruck, dass die beschriebene Verdickung durchaus auf das Konto der tonalen Klarheit gehen kann, es ist also Umsicht und Ohrenmaß geboten. Je nach Geschmack wird man vermutlich in der Praxis Einsatzfelder finden, in denen der Kompressor absolut überzeugt, aber auch welche, in denen er nicht gefällt.
Einsatzgebiete
Mein absolutes Lieblingseinsatzgebiet für den 535 ist die Parallelkompression einer Schlagzeuggruppe. Der Kleine klingt hier hervorragend, sauber und gedrungen. Er bringt ein Kunststück zuwege, das ich selten gehört habe: Transienten werden sehr präzise betont, aber nicht so, dass es im Endeffekt auf eine Betonung der oberen Frequenzanteile hinausläuft. Vielmehr hat man den Eindruck, der 535 würde sich gezielt die Grundtöne der jeweiligen Kessel herauspicken und mit ein bisschen Extrabums versehen. Das klappt in gewissen Maße auch bei fertigen Mixen. Auf die Art kann er eine geradezu amtliche Knallersnare zaubern, selbst wenn die eigentliche Aufnahme eher schlaff gespielt ist. Rockt also.
Auch bei Loops oder elektronischen Drums sorgt das Teil für einen gedrungenen Charakter, holt Details in den unteren Mitten und im Grundtonbereich sehr adrett nach vorne, bleibt dabei sehr klar, rückt aber das Bild auch etwas zusammen. Insgesamt, was Drums angeht, nach meinem Empfinden eher ein Tool zur Fokussierung, nicht zur Vergrößerung.
Für dich ausgesucht
Von einer cleanen Gitarre oder einem Klavier arbeitet der 535 mühelos und klar die rhythmische Dimension heraus, dezent eingesetzt ergibt sich eine Verschiebung des Klangcharakters in Richtung “edel”, bei stärkerem Zugriff stellt sich aber eine leichte Verengung ein. Das fühlt sich dann für meine Ohren ein bisschen so an wie ein Eventide Omnipressor.
Allerdings kann es gerade bei Frauenstimmen vorkommen, dass die tonale Klarheit und damit die melodische Definition ein kleines bisschen abnimmt. Für Vocals ist also der Blend-Regler von unschätzbarem Wert, weil sich so sehr fein dosieren lässt, wie viel “Fett” und wie viel “Klar” die Stimme verpasst bekommen soll.
Bei komplexen Signale wie zum Beispiel fertigen Mixen bewährt sich Auto-Release am besten. Man kann vielleicht als Faustregel annehmen, dass in Fällen, in denen ein SSL-Style-Kompressor auf der Summe gefällt, auch der 535 nicht deplatziert wäre: Mitten werden angenehmer, gleichzeitig auch unschärfer, rhythmische Elemente stabiler, das Ganze klingt etwas mehr nach fertigem Produkt, was durchaus Geschmackssache ist. Ein Plus an Lebendigkeit bedeutet das nämlich nicht in allen Fällen. Auch hier gibt es eine Art des Zugewinns an Präsenz, die dazu führen kann, dass die dreidimensionale Tiefe etwas eingeschränkt wird. Beeindruckend finde ich, wie der 535 auch im Mastering eine Bassdrum gleichzeitig zu zähmen und zu betonen versteht. Hier leistet der Blend-Regler unfassbar gute Dienste.