Praxis
Kein Mikrofon, sondern ein Statement
Es gibt wohl kaum ein anderes Mikrofon, welches auf einer Bühne ein derartiges Markierungsobjekt für eine musikalische Ära darstellt, wie ein Shure 55SH II. Schon bei einer vor dem Auftritt noch leeren Bühne kann man heutzutage mit dem richtigen Mikro ankündigen, dass gleich etwas aus den 1940ern, 50ern oder frühen 60ern zu hören sein wird. Die Optik ist also 1A vintage. Kein Wunder, schließlich ist es kein Retro-Gehäuse, sondern schlichtweg das gleiche wie Mitte des vergangenen Jahrhunderts. Und da sage noch einer, die USA hätten keine Traditionen!
Good ol’ times – auch der Sound
Auch wenn man eine Kleinmembran-Kondensatorkapsel in das Mikrofon einbauen würde, einige Eigenschaften des Sounds wären die gleichen wie mit der verbauten Tauchspulen-Niere. Die Gehäuseform und das starre, gleichförmige Gitter erzeugen Unebenheiten, die jedoch nicht per se „schlecht“ sind. In den Höhen unterhalb von 10 kHz ist das stark präsenzbetonte Klangbild ein wenig phasig und resonierend, die Hochmitten scheppern ein wenig blechern. Ein K.O.-Kriterium? Mitnichten! Ein Stück weit dengelig und hohl, das ist es, was den klanglichen Charme der 55er ausmacht und für den historischen Charakter sorgt. Das 55SH II klingt so, wie ein Schwarzweißbild aussieht. Wenn man es mag, ist es genau richtig, wenn nicht, hat man im Zweifel einfach nur den Fehler gemacht, das falsche Mikrofon gekauft zu haben. Für meinen Geschmack ist der Old-School-Sound des SH II dennoch zu viel des Guten, meine Präferenzen liegen eher beim Super 55 und dem 5575 LE.
Wenn ich euch gerade einen Floh ins Ohr gesetzt haben sollte: Für das 55 ist mir außer Eigenbaulösungen nichts derartiges bekannt, aber Wes Dooley bietet von seinen AEA-Mikrofonen, das sind Nachbauten der RCA-Ribbon-Klassiker, doch tatsächlich ein Leergehäuse namens R44SM an, in welchem ein Schoeps-Kleinmembranmikro mit seitlich zu besprechender MK-Kapsel eingebaut werden kann.
Proximity und Popp
Bei etwas weiterem Abstand mag man vielleicht ein wenig Fülle und Kernigkeit vermissen. Hier zeigt sich, dass das Mikrofon zwischen 500 und 1000 Hz ein wenig absenkt. Rückt man dem 55SH aber näher auf die Pelle wie der lederbejackte Rockabilly der Petticoat-Dame auf dem Jahrmarkt, dann macht sich das aber bezahlt. Der Sound bekommt durch die Bassbetonung aufgrund des Proximity-Effekts eine angenehme Nähe, wird aber keineswegs mumpfig oder dröhnig. Ein schmeichelndes „Baby“ à la Elvis klingt perfekt. Vorsichtig sollte man aber mit Poppgeräuschen sein, für die dieser Mikrofontyp recht empfindlich ist. Insofern ist das lässige Etwas-von-der-Seite-Singen gar nicht so verkehrt.
Diagnose: Sie haben eine Kugelniere.
Eine weitere Eigenschaft des Elvis-Shures, mit der man sich auseinandersetzen muss, ist seine doch recht hohe Feedbackanfälligkeit. Selbst bei Verwendung einer Kapsel mit perfekter Nierencharakteristik ist es aufgrund des am Rücken komplett geschlossenen Mikrofonkorpus nicht möglich, diese auch tatsächlich zu erhalten. Und tatsächlich ähnelt das resultierende Polar-Pattern einem Zwischending zwischen Niere und Kugel. „Kugelniere“ ist nicht der richtige Begriff, korrekt nennt man es „breite Niere“. In der Konsequenz bedeutet dies, dass das Shure 55SH II deutlich früher zu koppeln beginnt als andere typische Bühnenmikros. Im Praxistest mit einem („SM58-Setting“ 180 Grad hinter dem Mikrofon) und zwei Wedge-Monitoren konnte man nur deutlich geringeren Pegel auf die Boxen geben als mit einem SM58 oder einem M88. Ein bisschen hilft es da aber schon, dass man den Swivel-Mount auch nach hinten schwenken kann. Es ist sicherlich machbar, das Monitoring auf der Bühne so zu gestalten, dass man die Koppelanfälligkeit in Grenzen hält, doch ist der typische Performer mit einem 55er nicht gerade dafür bekannt, wie angewurzelt vor dem Mikro herumzustehen, sondern es am galgenlosen Mikrofonständer mit auf die Reise über die Bühne zu begleiten. Unter diesen Vorzeichen wird man sich über den On-/Off-Schalter vielleicht sogar freuen. Und noch etwas: Griffgeräusche werden von moderneren Mikrofonen dieser Preisklasse meist weniger stark übertragen.
Alternativen und alternative Einsatzmöglichkeiten
Am Gitarrenamp sind Feedbackanfälligkeit und Nonlinearität streckenweise herzlich egal, hier gefällt mir das 55SH II sogar besonders gut. Es erscheint für eigentlich jedes Studio als durchaus sinnvoll, ein 55er im Fundus zu haben, vor allem, wenn man den geringen Preis des SH II bedenkt. Ich habe schon durchscheinen lassen, dass mir der 2009er-Nachfolger Shure Super 55 etwas besser gefällt als das 55SH II. Wer es noch ein wenig moderner mag, aber optisch ganz klar vergangenheitsorientiert bleiben will, der könnte sich beispielsweise das Shure 545SD ansehen. Das Vorläufermikrofon des SM57 sieht ebenfalls umwerfend aus und ist mit dem Windschutz A2WS als Gesangsmikrofon spitze geeignet.