Praxis
Nach der Installation haste ich eilig zur Proximity-Sektion. Ich konnte zwei Monate zuvor schon einmal staunend an den Reglern drehen, hatte aber nicht die Möglichkeit, mich ausgiebig mit dem Effekt-Plug-In zu beschäftigen. Also klimpere ich flugs etwas mit einem mittelstark verhallten E-Piano-Sound ein und beginne das große Drehen. So: Ich wünsche mir in ausschließlich diesem Moment, für ein englischsprachiges Magazin zu schreiben, um mehr Ausrufe à la “This is fucking amazing!” zu Papier bringen zu dürfen. Noch mal, weil’s so schön ist: “This is fucking amazing!” Linear angewendet, lässt sich der Rhodes-Sound wirklich gut nach vorne holen oder nach hinten setzen. Besonders für live aufgenommene Instrumente ist das ein Segen. Bedenkt man etwa, dass das Aufzeichnen von Raumanteilen nicht einfach entschieden und dann durchgeführt wird, sondern Dinge wie Nahbesprechungseffekt, Richtcharakteristik und daraus resultierende Kanaltrennung ein ordentliches Wörtchen bei der Wahl der Mikrofonposition mitzureden haben, ist es hervorragend, im nachhinein derartige Veränderungen vornehmen zu können – besonders in dieser hohen Qualität! Durch das Verwenden der Strength- und Smoothing-Parameter lassen sich sehr authentische Ergebnisse erzielen. Wenn man mag, kann man aber auch extreme Verfremdungen durchführen. Das Entfernen des Direktsignals sorgt für eine interessante Art von Effekt. Ich kann mir vorstellen, dass eine Automation dieser Parametersets schöne “Spooky-Effekte“ ermöglicht (Leider arbeitet die Automation in der Beta noch nicht vollständig). Nun: De-Reverberatoren sind keine Weltneuheit, aber bislang sehr teuer. Jetzt kommt Sonibles frei:raum: Absolut hervorragend und einfach genial ist die Möglichkeit, frequenzsensitiv zu arbeiten. Vielleicht müssen nur die tiefen spektralen Anteile eines Klaviers etwas näher, präziser und konkreter werden, die Diskantlage aber in keinem Fall…? Das geht, und es klingt weiterhin natürlich! Richtig spaßig wird die ganze Chose am Drumkit – und die Klangqualität lässt das Plug-In uneingeschränkt auch bus- und summentauglich dastehen!
Ich würde jetzt nicht unbedingt das Stereo-Hauptmikrofonsystem einer Orchesteraufnahme mit dem Proximity-EQ umfangreich bearbeiten, auch bei Main-Vocals wäre ich zumindest mit der Dosis vorsichtig. Allerdings müsste man schon absolut deutliche Fehler bei der Aufnahme gemacht haben, wenn starke Eingriffe nötig werden würden. Also: Für kleine bis mittlere Änderungen ist das System genial, und verhallte Recordings mit groben Schnitzern kann man mit frei:raum zumindest retten, statt sie dem “Mistsackerl” überlassen zu müssen.
Ähnlich genial verhält sich die Entropy-Sektion des Plug-Ins. Im Linearbetrieb ist Entropy schnell zu viel des Guten, mit der Frequenzselektion lassen sich hingegen hervorragend und äußerst schnell sehr gute Ergebnisse erzielen. Die “Snappyness” einer Snare, das Anschlaggeräusch eines Pianos, all das lässt sich sehr angenehm und natürlich klingend steuern – wenn man es nicht übertreibt. Denn natürlich kann frei:raum einem nicht das Denken abnehmen und so richtig vermurkste Mikrofonierungen oder Soundauswahlen auf High-End-Niveau zaubern.
Doch die Möglichkeiten der Entropy-Funktion haben nicht nur reine klangästhetische Auswirkungen, sondern helfen auch ungemein bei der korrekten Platzierung eines Signals im Mix. Um die Durchsetzungsfähigkeit eines Signals zu erhöhen, ist bisweilen ein hoher Aufwand notwendig, dazu ein beherzter Griff in Richtung EQs und Dynamikgeräte, mit welchen man durchaus ein Weilchen zugange sein kann, um beispielsweise eine friedliche Koexistenz von Bassdrum-Attack und Bass-Zupfgeräusch zu gewährleisten. Wirklich spannend ist aber die kombinierte Verwendung von Proximity und Entropy. Manchmal wünscht man sich daher aber, diese beiden Bereiche gemeinsam sehen und einrichten zu können, doch das geht nicht. Nun: Man kann schließlich nicht alles haben. Im unteren Viertel des Plug-Ins kann man jedoch nicht-frequenzselektiv alle drei Module gemeinsam kontrollieren, was durchaus eine kleine Hilfe sein kann.
Für Entropy gilt – wie für die anderen Module übrigens auch – dass Sonible eine gute Balance gefunden hat, damit man als User zwar treffsicher das System an das Signal angleichen kann, aber nicht durch eine Parameterflut erschlagen wird. So ist „Strength“ bei Proximity und Entropy ein hervorragender Parameter.
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Schon der erste Versuch mit den Smart-Bändern lässt erahnen, dass man damit äußerst schnell vernünftige bis sehr gute Lösungen hinbekommt. Und tatsächlich: Ausreichend viel Material vorgespielt, ergibt sich eine bisweilen sehr individuelle Kurvenform. Verändert man dann den Hub eines zum Smart-Band transformierten EQ-Bands, hat man tatsächlich die Kontrolle über die Bereiche, die auch tatsächlich relevant erscheinen. Bei tonalen Signalen lässt sich in tieferen Frequenzbändern gut erkennen, wo die Obertöne eines Instruments liegen. Ist man schmalbandig genug unterwegs, lassen sich diese dann gezielt bearbeiten – Q lässt sich nämlich praktischerweise auch nach dem Analysevorgang verändern. Zum Verringern von Kesselresonanzen, nervigen Bestandteilen beim mikrofonierten Cabinet, aber auch zum Hervorheben bestimmter Charakterbestandteile der Stimme: frei:raum kann eine große Hilfe darstellen. Natürlich kann man für solche Veränderungen auch ein Notch-Filter bemühen, aber bei breiteren Q-Faktoren hat man eben viele der relevanten Signalbestandteile gemeinsam unter Kontrolle. Den größten Nutzen sehe ich im Mittenband, die Randbereiche sind im Falle der Tiefbässe auch mit üblichen EQs schnell und gut zu meistern, im Falle der Höhen nimmt dort einfach die Dichte von Obertönen zu, während der Pegel meist nachlässt. Selbstverständlich sollte man darauf Acht geben, sich nicht allzu stark verändernde Signale smart zu bearbeiten zu versuchen. Will man also die freakige Synth-Linie beeinflussen, bei der innerhalb von wenigen Minuten fast alle Parameter einschließlich Oszillator-Schwingungsform verändert wird und vielleicht noch FM ins Spiel kommt, überfordert man sicher auch das beste System. Insgesamt ist der Smart-EQ wirklich hervorragend. Auch nicht unwichtig: Im „Nicht-Smart-Modus“ (mir fiel jetzt keine andere Beschreibung ein, die man nicht als Beleidigung der Intelligenz des EQs deuten könnte) arbeitet der Equalizer als sehr akkurates Werkzeug, das nicht merklich phast und schwer zum Klingeln zu bewegen ist. Somit taugt der frei:raum uneingeschränkt als Default-EQ im Kanalzug. Gut: Will man einen Charakter-EQ, muss etwas anderes her – das sollte aber klar sein.