Klaviere und Flügel sind neben der Pfeifenorgel die kompliziertesten Instrumente überhaupt. Wie jedes akustische Instrument müssen auch sie regelmäßig gestimmt werden, um in das Raster unseres Hörempfindens zu passen. Aufgrund ihres mechanischen Aufbaus und der Anzahl zu stimmender Saiten ist dieser Vorgang nicht ganz einfach. Deshalb werden Stimmungen für Klavier und Flügel von Profis vorgenommen, die sich mit der Materie auskennen.
Rund um die Materie der Stimmungen für Klavier geht es in unserem Workshop. Wir untersuchen die Stimmsysteme im Detail: Welche Stimmsysteme über Jahrhunderte entwickelt wurden, welche Stimmsysteme davon verwendet wurden und welche Stimmungen für Klavier und Flügel heute noch zum Einsatz kommen.
Da sich über die vielen hundert Jahre sehr viele Menschen mit unterschiedlichen Stimmsystemen beschäftigt und unzählige davon hervorgebracht haben, werden wir uns im Folgenden auf die Wichtigsten beschränken müssen. Exoten wie die 19-stufige Stimmung (Oktave in 19 gleiche Intervalle teilen) oder die 53er-Skala (die Teilung der Oktave in 53 Tonstufen) lassen wir also außen vor. Auf geht’s ins Land der Stimmungen!
Reine Stimmung
Die reine Stimmung kann man als Ausgangspunkt bezeichnen. Dieses Stimmsystem basiert auf den natürlichen Frequenzverhältnissen der Obertöne. Erzeugt ein akustisches Instrument einen Ton, nimmt das menschliche Ohr bewusst nur genau diesen Ton wahr. Den sogenannten Grundton. Es sind jedoch noch weitere Töne hörbar, die man als Teil- oder Partialtöne bezeichnet. Diese Partialtöne beeinflussen im Gegensatz zum Grundton lediglich die Farbe des Klangs. Der Grundton selbst ist für die Wahrnehmung der Tonhöhe verantwortlich.
Die Entstehung der Obertöne geht auf die Tatsache zurück, dass eine in Schwingung versetzte Saite nicht nur als Ganzes, sondern auch in allen ganzzahligen Teilen schwingt. Erzeugt man beispielsweise einen Ton mit der Frequenz von 100 Hz, hört man im resultierenden Klang außerdem immer die (Teil-)Töne mit 200, 300, 400 Hz, etc. Aus dieser Beobachtung leitete man die reine Stimmung ab.
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Mit der aufkommenden Praxis des mehrstimmigen Musizierens bereits ab der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts nahm die Wichtigkeit einer großen Terz innerhalb eines Stimmsystems an Bedeutung zu. Dieser Entwicklung kam die reine Stimmung entgegen, denn sie enthält eben diese reine Terz. Allerdings funktionierte dieses Stimmsystem immer nur gut für die jeweilige Tonart, für die sie ausgerichtet war. Kein Problem für die menschliche Stimme oder gar Blas– und Streichinstrumente. Diese können ihre Stimmung flexibel gestalten und beim Musizieren zusätzlich kleine Tonhöhenunterschiede (Intonation) hervorbringen.
Auf das Zwölf-Tasten-System eines Klaviers und dessen statische Stimmung ließ sich die reine Stimmung dagegen nur bedingt anwenden. Es gab also nur zwei Möglichkeiten. Entweder mussten der Klaviatur weitere Tasten hinzugefügt werden, oder es brauchte ein Stimmsystem, das weniger Wert auf Reinheit legte. Und diese Versuche gab es tatsächlich.
Mitteltönige Stimmung
Die mitteltönige Stimmung wurde hauptsächlich in Renaissance und Barock genutzt, teilweise sogar bis ins 19. Jahrhundert hinein, besonders bei Orgeln. Gioseffo Zarlino beschrieb dieses Stimmsystem erstmals vollständig im Jahr 1571. Später eröffnete Michael Praetorius es dem deutschen Sprachraum über sein musikwissenschaftliches Werk „Syntagma musicum“.
Syntonisches Komma
Die mitteleuropäische Klangästhetik der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts und die sich immer mehr in Richtung Mehrstimmigkeit entwickelnde Musikpraxis dieser Zeit, verlangten nach einem System. Dieses System sollte möglichst viele reine Terzen und Oktaven bieten. Dafür musste das System allerdings ein Problem lösen. Schichtet man nämlich vier reine Quinten übereinander, erhält man eine Terz, die ca. 20 Cent größer ist als die reine große Terz. Bei der Differenz der beiden Töne handelt es sich um das sogenannte syntonische Komma. Dieser Frequenzunterschied verteilt sich bei der mitteltönigen Stimmung gleichermaßen auf die vier Quinten. Da es sich dabei jeweils nur um wenige Cent pro Quinte handelt, ist der Unterschied nicht als Verstimmung, sondern als Schwebung wahrnehmbar.
Wolfsquinte
Auf alle zwölf Quinten angewendet, entsteht wiederum ein weiteres Problem. Die letzte Quinte in der mitteltönigen Stimmung ist dann nämlich kleiner als alle anderen. Es handelt sich dabei eigentlich um eine verminderte Sexte, die man als Wolfsquinte bezeichnet. Da die mitteltönige Stimmung in der Regel auf C-Dur ausgerichtet war, behalf man sich mit einem Trick. Man begann die Schichtung der Quinten nicht bei C, sondern bei Es. Damit erreichte man von C-Dur aus ein relativ ausgeglichenes Klangbild. Das machte das Spielen bestimmter Intervalle, Akkorde und Tonarten aber gleichzeitig unmöglich. Betroffen sind die Dur-Akkorde auf Cis, Fis, As und H, sowie die Moll-Akkorde auf Es, F, Gis und B. Als Ausweg modifizierte man in der Folge dann zusätzlich die Terzen, was letztendlich in der Erfindung des nächsten Stimmsystems resultierte.
Wohltemperierte Stimmung
Der Begriff temperierte Stimmung wird oft als spezifisches Stimmsystem angesehen. Grundsätzlich steht hinter dem Begriff allerdings nur die Idee, die Frequenzunterschiede des syntonischen und pythagoreischen Kommas durch gezielt unrein gestimmte Töne möglichst so auf das Stimmsystem zu verteilen, dass sie nicht als störend wahrgenommen werden. Der Pythagoreer Philolaos definierte das später nach ihm benannte Komma als erster, das ein Intervall von 23,46 Cent darstellt. Zwölf reine Quinten übereinander geschichtet sind genau um diesen Wert höher als sieben übereinander geschichtete Oktaven. Das ist das zentrale Problem, das jedes nach der reinen Stimmung erdachte Stimmsystem zu lösen versuchte.
Pythagoreisches Komma
Außerdem verlangten Musiker und Komponisten Anfang des 18. Jahrhunderts immer mehr nach der Möglichkeit, in allen Tonarten spielen und komponieren zu können. Einer der aus heutiger Sicht berühmtesten war sicherlich Johann Sebastian Bach. Das jedoch konnte die mitteltönige Stimmung nicht liefern, eine Weiterentwicklung musste also her. Bach heizte schließlich die Entwicklungen zusätzlich mit dem ersten Teil seines berühmten Werks „Das Wohltemperierte Clavir“ an. Eine Sammlung von 24 Stücken, die durch alle Tonarten wandern.
Der Musiker und Musiktheoretiker Andreas Werckmeister hatte bereits reine und obendrein mitteltönige Systeme erdacht, Ende des 17. Jahrhunderts kam er zudem auf die wahrscheinlich erste wohltemperierte Stimmung, Werckmeister III genannt. Hauptmerkmal war das Aufgeben der reinen Terzen, welche die reine und mitteltönige Stimmung noch ausgemacht hatte. Deshalb spielte das syntonische Komma ab der wohltemperierten Stimmung dann keine Rolle mehr. Hauptziel war es, die Auswirkungen des pythagoreischen Kommas so auszugleichen, dass der letzte Quintschritt auf einem His mit der gleichen Frequenz landet, wie das reine C. Dafür werden in Werckmeister III fünf der zwölf Quinten um ¼ des pythagoreischen Kommas kleiner, eine Quinte um den gleichen Wert größer, und die restlichen Quinten rein gestimmt.
Nach Bachs Tod veröffentlichte dessen Schüler Johann Philipp Kirnberger ebenfalls einige Stimmsysteme. Die ersten beiden ähnelten klanglich noch sehr der mitteltönigen Stimmung. Kirnberger III gehört dann zu den wohltemperierten Systemen, welche die Wolfsquinte auf ein Minimum begrenzen und die zusätzlich komplett auf zu große Quinten verzichten, im Vergleich zu Werckmeister III.
Im direkten Vergleich nutzt Kirnberger III also weniger reine Quinten. Das wiederum deutet bereits in die Richtung der nun folgenden und finalen Stimmsystementwicklung hin.
Gleichstufige Stimmung
Die gleichstufige oder gleichtemperierte Stimmung ist an sich eine grunddemokratische Sache. Sie basiert auf der Idee, dass alle Tonschritte innerhalb einer Oktave, genau wie alle Menschen innerhalb einer Demokratie gleich sein sollen. So gesehen ergeben die Tonschritte eines Stimmsystems ja auch eine Art Gesellschaft. Deshalb teilt die gleichstufige Stimmung, wie der Name bereits andeutet, eine Oktave in zwölf gleich große Tonschritte von jeweils exakt 100 Cents.
Damit zählt die gleichstufige Stimmung zu den temperierten Stimmungen, denn selbst sie greift in die natürlichen Schwingungsverhältnisse ein. Das pythagoreische Komma verteilt sich dabei auf alle Quinten gleich. Dadurch verstimmen sich alle Intervalle außer der Oktave leicht. Durch diese Temperierung erhält man zwar sechs leicht verstimmte Intervalle, in der Summe allerdings die praktikabelste Stimmung von allen. Denn dadurch entsprechen zwölf gleichstufige Quinten genau sieben reinen Oktaven.
Das führt dazu, dass auf der einen Seite alle Dur- und Mollakkorde rein und damit harmonisch klingen, was an sich einen Vorteil darstellt. Alle Tonarten lassen sich problemlos spielen, selbst Tonartenwechsel oder Modulationen stellen kein Problem mehr dar. Auf der anderen Seite hingegen führte dieses System ebenfalls dazu, dass die individuellen Charaktere der unterschiedlichen Tonarten verloren gingen. Komponisten konnten die Reibungen der Akkorde einer Tonart, die bei anderen Stimmsystemen auftraten, nicht mehr dramaturgisch in ihren Stücken einsetzen.
Die Idee zur gleichstufigen Stimmung stammt ursprünglich wahrscheinlich aus dem China des 16. Jahrhunderts und fand später viele (berühmte) Befürworter wie Jean-Philippe Rameau, bevor das System spätestens gegen Ende des 18. Jahrhunderts immer mehr ungleichstufige Stimmungen verdrängte. Heute ist es das meist genutzte System beim Stimmen von Instrumenten mit festen Tonhöhen, wie dem Klavier. Zumindest in der Theorie. Unsere modernen Ohren haben sich inzwischen komplett an die Gleichheit der Intervalle gewöhnt. Schon deswegen, weil dieses System Anwendung bei elektronischen Instrumenten wie Keyboards, Digitalpianos und Synthesizern sowie ihren Platz in moderner Musik-Software (DAW) findet.
Inharmonizität
Die Inharmonizität beschreibt ein Phänomen, das mehr als alle anderen Faktoren dafür verantwortlich ist, dass Klavierstimmen so viel (Hör-)Erfahrung erfordert, gleichermaßen anspruchsvoll ist und in der Praxis eigentlich nicht über ein starres Stimmsystem bewerkstelligt werden kann.
Die Schwingung einer Saite zeigt sich in unterschiedlichen Teilschwingungen, wovon besonders steife und dicke Saiten betroffen sind. Sowohl die ganze Saite, als auch bestimmte Teilbereiche schwingen mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten. Beim Klavier tritt dieses Phänomen häufig auf, denn einige der Basssaiten des Instruments sind aufgrund ihrer Bauart kürzer als eigentlich nötig. Deswegen werden sie zusätzlich umwickelt. Das in Folge höhere Gewicht soll dafür sorgen, dass die Töne tiefer klingen, als es die Saitenlänge eigentlich zulassen würde. Allerdings tritt dadurch die sogenannte Inharmonizität stärker auf, denn die Saite wird mit dem höheren Gewicht auch steifer. Das wirkt sich besonders auf die Intonation der Saite aus und fällt zudem bei jedem Instrument anders aus. Ein starres Stimmsystem spielt im Alltag eines Klavierstimmers also eine eher kleine Rolle.
Zum Schluss
Das Thema der Stimmungen für Klavier und Flügel ist ein umfassendes und spannendes zugleich. Es zeigt auch, dass heute übliche Stimmungen für Klavier und Flügel immer mit Kompromissen einhergehen. Die Geschichte um die Entstehung der Stimmsysteme umfasst mehrere Jahrhunderte. In dieser Zeit wurden zahlreiche Versuche unternommen, die natürlichen Frequenzverhältnisse den Wünschen der Musiker und Komponisten zu unterwerfen, was sich in unzähligen Stimmsystemen äußerte. Aus heutiger Sicht ist allerdings keines davon als der Weisheit letzter Schluss zu bezeichnen. Jedes System beruht auf Kompromissen.
Gerade beim Klavier wird alles durch das Phänomen der Inharmonizität noch weiter verkompliziert. Die Idee der gleichstufigen Stimmung ist bei einer modernen Klavierstimmung grundsätzlich noch auf dem Plan, sie ist jedoch nur theoretisch von Bedeutung. In der Realität ist sie fast unmöglich umsetzbar, denn sie beruht ja auf der gleichen Verteilung des pythagoreischen Kommas auf alle Quinten. Kein Klavier und keine Saite sind gleich. Schon deswegen kann der Klavierstimmer in der Realität nicht die Stimmung erzeugen, die er möchte, sondern die, die das Klavier begünstigt. Und im besten Fall jene, welche die Stärken des Instruments hervorhebt, und die Schwächen mindert. Das Stimmen eines Klaviers ist tatsächlich so schwer wie es aussieht und erfordert viel Erfahrung, Geschick und Flexibilität.
Dietrich Schneider sagt:
#1 - 04.02.2024 um 17:11 Uhr
Vielen Dank für diesen Beitrag zum Thema Flügel. Gut zu wissen, dass die reine Stimmung die Bekannteste ist. Ich werde meinen Flügel auch mal wieder stimmen lassen. https://www.breitmann-orgel-klavier.de/leistungen