Während die Tabulaturschrift unter Gitarristen immer wieder Anlass für heiße Diskussionen ist, avancierte die Frage, wie sinnvoll “Tabs” sind, unter Musikpädagogen zu einem regelrechten Zankapfel. Für die einen ist sie eine sinnvolle, schnell zu lernende Alternative zur Notenschrift und ohnehin die gebräuchlichste Notationsform im Web. Für die anderen hingegen ist sie eine primitive Schrift für “Dummies”, die nur zu bequem sind, sich mit Blattlesen zu beschäftigen.
Dabei hat die Tabulatur ihren schlechten Ruf vollkommen zu unrecht, denn bereits ab dem 14. Jahrhundert war diese Art, Musik zu verschriftlichen, sehr weit verbreitet und wurde sowohl von Saiten- wie Tastenspielern regelmäßig eingesetzt. Allein dieser Umstand lässt erkennen, dass man die Diskussion sicherlich nicht in Schwarzweiß-Kategorien führen kann. Denn sowohl für als auch wider die beliebten “Tabs” lassen sich sehr gute Argumente ins Feld führen. Einige davon wollen wir euch hier aufzeigen.
Quickfacts:
- Die Tabulaturschrift ist eine traditionelle Schreibweise, die seit dem 14. Jahrhundert eingesetzt wird und vor allem für die Gitarre eine Renaissance erlebt. Wegen ihrer weiten Verbreitung sollte sie nicht ignoriert und neben der Notenschrift beherrscht und unterrichtet werden.
- Die Beliebtheit z.B. im Internet basiert auf der einfachen und schnellen Lesbarkeit der Tabulatur, die auch eindeutige Spielpositionen wiedergibt. Vor allem das Lesen in höheren Lagen stellt sich wesentlich einfacher dar.
- Aber auch die Standardnotation bietet eindeutige Vorteile wie die Kommunikation über Instrumentengrenzen hinweg oder das klare Aufzeigen von Melodie- und Tonhöhenverläufen.
- Im Idealfall sollte man in der Lage sein, Standardnotation, Tabulatur und das Erlernen eines Stückes nach Gehör gleichberechtigt zu beherrschen, um sich alle erdenklichen Informationsquellen erschließen zu können.
1. Tabs vs. Noten – Realität im Gitarristenalltag
Die Tabulaturschrift ist älter als die moderne Notenschrift, die sich erst durch eine Historie aus Neumen und Mensuralnotation kämpfen musste, bevor sie schließlich Ende des 17. Jahrhunderts unserem heutigen Notenbild entsprach. Wie eingangs angedeutet, etablierte sich die Tabulatur ab dem 14. Jahrhundert und war bis weit ins 18. Jahrhundert als Notierungsweise stark verbreitet. Ihre Renaissance erfuhr dieses System jedoch erst wieder im 20. Jahrhundert, was unter anderem dem Aufkommen und der steigenden Popularität der E-Gitarre geschuldet war.
Bestimmte moderne E-Gitarrenspielweisen spielten dabei sicherlich eine prominente Rolle, denn Techniken wie Slides, Pick Scratching, Tapping und andere lassen sich sehr gut optisch darstellen. Die Entwicklung des Internets und die offene Verbreitung von Song-Transkriptionen verliehen der Tabulatur einen zusätzlichen Schub, sodass sie sowohl im gitarristischen Amateurbereich als auch unter Profis omnipräsent ist. Aus genau diesem Grund ergibt es auch für Hardcore-Notenfans wenig Sinn, die Tabulaturschrift kategorisch abzulehnen, denn sowohl als Pädagoge wie als spielender Musiker sollte man in der Lage sein, sich jede Informationsquelle zu erschließen. Seinem Gitarrenschüler diese Tür nicht zu öffnen und damit zu verhindern, dass der sich das Internet für das Selbststudium nutzbar macht, empfinde ich als extrem kurzsichtig. Die Wichtigkeit, Noten lesen zu lernen oder sich sogar einen Song gänzlich ohne Notation herauszuhören zu können, steht dabei natürlich auf einem ganz anderen Blatt. Alle diese Fähigkeiten sollten selbstverständlich ebenso gefördert werden.
2. Vorteile der Tabulatur gegenüber der Notenschrift
Die Tabulaturschrift bringt aufgrund ihrer einfachen Logik ein paar handfeste Vorteile mit sich, die sich nicht wegdiskutieren lassen. Allen voran ist dies die unkomplizierte Lesbarkeit, die es auch in hohen Lagen ermöglicht, das Geschriebene schnell auf dem Griffbrett umzusetzen, wo in der Standardnotenschrift entweder auf oktavierte Schreibweise oder den Einsatz von Hilfslinien zurückgegriffen werden muss. Da sich die Logik des Instruments Gitarre visuell nicht so schnell erschließt, wie dies z.B. bei einer Klaviatur der Fall ist, hilft Tabulatur ungemein, die Spielposition exakt wiedergeben zu können. Ein kleines Beispiel sei hier zur Verdeutlichung genannt: Für die Notenabfolge c’ – d’ – eb’ gibt es auf der Klaviatur exakt eine Möglichkeit, lässt man unterschiedliche Fingersätze außer Acht. Die Gitarre bietet hier 125 mehr oder weniger sinnvolle Optionen, was das Blattlesen auf diesem Instrument zu einem deutlich komplexeren Unterfangen werden lässt. Die Tabulatur liefert hier die Option, eine eindeutige Variante aufzeigen, wohingegen die Standardnotation Saiten- und Fingerangaben verwenden müsste.
3. Nachteile der Tabulatur und Vorteile der Notenschrift
Der Hauptnachteil der Tabulatur liegt sicherlich in der fehlenden Kommunikationsmöglichkeit mit anderen Musikern, wenn diese keine Saiteninstrumentalisten sind. Wer kein guter Notist ist, wird sich schwer tun, das Leadsheet des Keyboarders zu entziffern, die von der Sängerin mitgebrachten Charts zu lesen oder in einer Musicalproduktion mitzuspielen, wenn der Musical Director die Einzelstimmen verteilt. Für denjenigen, der nur in seinen eigenen vier Wänden einen Song lernen will, stellt das alles natürlich keinen Nachteil dar; in den oben genannten Settings wird man jedoch schnell an seine Grenzen stoßen.
Ein weiterer großer Vorteil der Standardnotation ist die sehr gute optische Darstellung der Rhythmik, die sich vor allem bei mehrstimmigen Passagen mit unterschiedlichen Rhythmen wesentlich übersichtlicher gestaltet. In der Tabulaturschrift sieht man häufig, vor allem in Web-Portalen, wie auf rhythmische Notation sogar gänzlich verzichtet wird, obwohl dies grundsätzlich zumindest auf Notenhalsbasis möglich wäre. An dieser Stelle sei dann ohnehin die Frage gestattet: Wenn ich in der Tabulaturschrift die Standard-Rhythmiknotation beherrsche, habe ich ja bereits einen nicht ganz unwesentlichen Anteil der Standardnotation verstanden – warum also nicht auch noch die Tonhöhen lernen?
Auch das Aufnotieren von Fingersätzen kann in der Tabulaturschrift problematisch werden und oft in einem unübersichtlichen Zahlenwirrwarr münden, wohingegen in der Standardnotation Fingersätze ziemlich deutlich eintragbar sind.
Ein weiterer Vorteil liegt in der Visualisierung bestimmter musikalischer Sachverhalte, denn in der Notenschrift ist der Melodie- und Tonhöhenverlauf sehr klar zu erkennen. In der Tabulatur hingegen geht eine optische Aufwärtsbewegung nicht auch zwangsläufig mit einer aufsteigenden Phrase einher. So könnte ich z.B. auf dem 8. Bund der E- Saite das C spielen und im Anschluss das B im 2. Bund der A-Saite, womit ich eine fallende Bewegung hätte, die jedoch wie ein Anstieg aussieht. Auch die Stimmführung, Phrasenplatzierung und Harmonik liegen im Notenbild wesentlich präsenter vor Augen als in den Tabs.
Eine letzte Beobachtung aus der Unterrichtspraxis möchte ich hier nicht unerwähnt lassen, und zwar den Umstand, dass sich Gitarristen mit dem Umstieg auf das Notenlesen sehr schwer tun, wenn sie mit dem Tabulaturspiel begonnen haben. Gerne für Verwirrung sorgt zum Beispiel, dass die fünf Notenlinien nichts mit den sechs Saiten der Gitarre zu tun haben, um nur eines der diversen Umstellungsprobleme zu nennen. Das führt oft dazu, dass Stücke, die in Noten- und Tabulaturschrift vorliegen – z.B. bonedo-Workshops – lieber als Tabs gelesen werden. Umgekehrt ist das Erlernen des Tabulatursystems für Notisten meist ein wesentlich kürzerer Prozess.
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4. Tabulatur oder Notenschrift? – Persönliches Fazit
Natürlich könnte man jetzt dagegenhalten, dass auch Stars wie Paul McCartney oder Eddie Van Halen angeblich keine Noten lesen konnten, aber trotzdem extrem erfolgreich sind! Das ist zwar richtig, aber viele der Künstler, die man hier aufführen könnte, beschäftigen sich nahezu ausschließlich mit ihren eigenen Songs und bewegen sich überwiegend innerhalb ihrer eigenen Band. Und was die Beatles anbelangt, so hatten die Fab Four mit ihrem Produzenten George Martin einen extrem notenfesten und klassisch ausgebildeten Arrangeur an der Hand, der für die Arrangements und die Kommunikation mit dem klassischen Orchester verantwortlich war. Und ein solches besteht grundsätzlich aus soliden Blattlesern.
Dennoch sollte man sich immer die Frage nach der eigenen persönlichen Spielsituation stellen: Wer mit der Tabulaturschrift zurechtkommt, für sich selbst Gitarre spielt oder solistisch auftritt und ausschließen kann, dass er mit anderen Musikern per Leadsheet kommunizieren muss, für den gibt es keinen zwingenden Grund, sich mit Blattlesen auseinanderzusetzen. Wer jedoch Musical- und Studiojobs bestreiten will, als Instrumentallehrer arbeiten und gerne mit seinen Bandkollegen Songideen in einer gemeinsamen musikalischen Schriftsprache austauschen möchte, der wird um halbwegs gute Notenkenntnisse nicht herumkommen. Und dazu passt auch die gute Nachricht, dass sich Blattlesen einfach erlernen und üben lässt, wenn man täglich ca. 15 Minuten Zeit aufbringt.
Anders stellt sich das Vermitteln der Notenschrift aus der Sicht eines Instrumentallehrers dar. Zumindest bei Teenagern mit E- oder Westerngitarre könnte der Unterrichtseinstieg sogar völlig ohne Noten oder TAB erfolgen, da hier das Spielen nach Gehör auch im fortgeschrittenen Stadium eine extrem große Rolle spielt. Aber für mich gehört es schlichtweg zum Bildungsauftrag eines jeden Lehrers, im weiteren Verlauf des Unterrichts das Notenlesen als Kulturtechnik verstärkt zu fördern. Das allerdings sollte aus meiner Sicht die Tabulaturschrift als historische Schreibweise und wegen ihrer starken Verbreitung genauso mit einschließen. Die Frage nach Noten oder Tabulatur lautet demnach auch nicht “entweder, oder“, sondern “sowohl, als auch”.
5. Sightreading Literatur für Späteinsteiger
Wer seine Sight Reading Skills ordentlich auf Vordermann bringen will, dem möchte ich hier ein paar Buchempfehlungen ans Herz legen:
- William G. Leavittt, Reading Studies, Berklee Press
- William G. Leavittt, Advanced Reading Studies, Berklee Press
- William G. Leavittt, Melodic Rhythms, Berklee Press
- MT Szymczak, Reading Contemporary Guitar Rhythms, Berklee Press
Hier findet ihr eine Workshopreihe zu diesem Thema: