Ich muss zugeben, dass die letzten Folgen dazu geeignet waren, euch enorme Kopf- und Konzentrationsarbeit abzuverlangen. Dennoch hoffe ich, dass sich der Aufwand gelohnt und befriedigende Resultate hervorgebracht hat.
Für all diejenigen, deren Hirnwindungen immer noch rauchen, gibt’s für die heutige Folge Entwarnung: Getreu dem Motto “Weniger ist das neue Mehr” wollen wir uns heute ganz entspannt mit Akkordbildern beschäftigen, die ich recht unakademisch unter dem Oberbegriff “verkürzte Akkordformen” zusammenfassen will.
Darunter verstehe ich Akkorde, die zwar über die volle harmonische Ausstattung verfügen, aber auf die wichtigsten oder effektivsten Töne reduziert werden. Zu diesem Thema möchte ich zwei Kategorien herauspicken, nämlich zum einen die Powerchords und, im späteren Verlauf der Folge, mehrstimmige Akkorde.
1. Die Powerchords
Die gängige und sehr eng gefasste Definition von Powerchords lautet im Prinzip, dass wir einen Dreiklang haben, den wir durch das Entfernen der Terz zum Zweiklang Grundton-Quinte (z.B. C-Dur: C-E-G wird zu C5: C-G) reduzieren, wodurch eine reine Quinte entsteht.
Spätestens seit Paul Hindemiths “Unterweisung im Tonsatz” wissen wir, dass das Komplementärintervall Quarte, das entsteht, wenn wir die Quinte zu G-C’ umkehren, vom Hörer ebenfalls als C5 wahrgenommen wird. Und jeder, der Blackmores “Smoke on the Water” gespielt hat, weiß, dass auch Quarten einen sehr schönen Effekt erzielen können. Wie dem auch sei, es gibt einen soliden Grund, warum die Terz aus unserem Akkord verschwinden muss: Dreiklänge präsentieren sich oft sehr undefiniert, wenn wir den Verzerrer antreten, wohingegen Quinten oder Quarten sehr pointiert und druckvoll klingen. Allerdings trifft das nicht nur auf diese Intervalle zu, weshalb ich die Rubrik Powerchords um die Definition “Akkorde, die verzerrt geil klingen” erweitern möchte.
Betrachten wir zunächst unsere Quinten, die wir auf verschiedenen Saitensets spielen könnten (zwar benutzen wir bei der Haupt-Rhythmusgitarre tendenziell eher die tiefen Saiten, aber auch der Diskant bietet uns unter Umständen im Zusammenhang eines Riffs oder auch als additiver Zweitgitarrenpart interessante Möglichkeiten):
Manche spielen die Oktave des Grundtons zusätzlich noch einmal on top, sodass wir drei Akkordtöne haben. Da die Oktave aber ohnehin als Oberton immer mitschwingt, halte ich das nicht für essentiell notwendig, dennoch der Vollständigkeit halber:
Kehren wir das Gebilde um, so entsteht die Quarte:
Für dich ausgesucht
Auch hier können wir die tiefste Note (die ja in diesem Fall nicht der Grundton, sondern die Quinte des Akkordes ist), nach oben oktavieren. Diese Akkorde klingen meist ziemlich böse. Ein kleiner Tipp: Falls ihr diese Akkorde auf dem Saitenset EAD spielt (z.B. im dritten Bund als C-Powerchord), und der Bassist besitzt einen 5-Saiter, entsteht fast der Eindruck, ihr würdet mit einem Drop-Tuning oder einer 7-saitigen Gitarre spielen.
Zur Kategorie Quinten und Quarten zählt noch der “diabolus in musica”, der Tritonus, der sich aufgrund seiner Vieldeutig- und Umkehrbarkeit sehr variabel einsetzen lässt.
Wir können ihn tatsächlich als b5 Akkord begreifen – auch im Zusammenspiel mit einem Quintpowerchord (man siehe und höre z.B. George Lynch, Black Sabbath usw.).
Oder aber als Septime und Terz eines Dominantseptakkordes:
Wenn wir bei den “5er”-Akkorden bleiben, steht noch die Kategorie “Open Power Chords” aus. Unsere Akkorde sollen nur aus 1 und 5 bestehen, aber wie oft jeder Akkordton vorkommt, kann uns Schnuppe sein. Auch hierfür stehen uns ein paar Schmankerl zur Verfügung.
Um eine optimale Lesbarkeit zu gewährleisten, haben wir die Griffbilder dieses Beispiels als PDF hinterlegt! Den Link findet ihr unterhalb des Audioplayers.
Bevor wir uns weitere Powerchords anschauen, würde ich gerne zuerst eine kleine Demonstration in Verbindung mit einer Übung vorstellen, und dazu gehen wir von folgender Situation aus:
Der Bassist kommt in den Proberaum und sagt: “Hey, ich habe ein Stück geschrieben”. Nachdem ihr euch vom Lachkrampf erholt habt, fragt ihr “Ok, wie sind die Chords?” “Hey, voll originell: C-G-Am-F”, entgegnet der Bassist, “… ich weiß aber nicht was die Gitarre spielen soll, irgendwas verzerrt mit Powerchords und so, aber so genau hab ich da keine Vorstellung”. Nun kommt ihr ins Spiel und könnt, ausgehend von der Akkordinformation, diverse Szenarien anbieten.
Hier habe ich euch ein Basic-Playback zu der genannten Akkordfolge gebastelt:
Eine mögliche Variante wäre:
Probiert selbst alle Akkorde aus und entscheidet nach eurem Gehör, was euch am besten gefällt. Versuchen wir, noch ein wenig tiefer in den Powerchord-Kosmos einzudringen.
Die Terz wurde aus dem Akkord entfernt, damit es nicht zu schwammig klingt. Was allerdings auch funktioniert, ist, die Quinte zu entfernen und die Akkorde auf Grundton und Terz zu reduzieren. Daraus ergeben sich zwei Möglichkeiten, nämlich mit großer oder mit kleiner Terz. Da nun der Name C5 o.ä. nicht mehr angebracht ist, schlage ich vor, wir nennen diese Voicings z.B. C3 für die große oder Cb3 für die kleine Terz. Und was passiert, wenn ich diese Voicings als sus4 Akkorde benutzen will? Richtig, es entsteht eine Quarte, wie bereits in der obigen Rubrik vorgestellt, nur, dass diesmal der untere Ton tatsächlich der Grundton ist.
Diese Art der Voicings findet man sehr gerne im Hard Rock/Metal Bereich der endsiebziger und achtziger Jahre (Deep Purple, Dio, usw…).
Übrigens: Auch diesmal haben wir die Griffbilder wieder als PDF anzubieten!
So, wie wir die Quinte zu ihrem Komplementärintervall Quarte umkehren konnten, so lässt sich auch die Terz zur Sexte umkehren. Das bedeutet, dass auch hier der Grundton oben im Akkord liegt. Diese Akkorde könnte man z.B. C3/E nennen (hört euch mal “One Vision” von Queen an).
Dementsprechend sind an den Stellen, an denen Slashchords mit Terzbass auftreten, dieses Voicing angebracht.
Diese Akkorde eignen sich natürlich auch hervorragend als Durchgangsakkorde.
Gehen wir beispielsweise von der Kadenz E-B-C#m aus, so lässt sich folgende Harmonisierung vornehmen:
Als letzte Powerchord-Rubrik möchte ich euch noch Akkorde mit Nonen (sei es in Form von sus2 oder add9 – die Bezeichnung wird häufig synonym verwendet) vorstellen. Sus-Akkorde sind ähnlich vieldeutig wie Quint-Powerchords, da sie ebenfalls keine Terz enthalten und damit repräsentativ sowohl für Dur- als auch Mollakkorde stehen können.
Hier ein paar Voicings, die auf dem Quint-Powerchord aufgebaut sind. Andy Summers benutzt diese Chords ganz gerne – man höre (und staune) z.B. “Message in a Bottle” von Police, bei denen diese Akkorde in arpeggierter Form das Riff bilden.
Man erkennt auch, warum diese Akkorde verzerrt funktionieren: Die None ist nämlich nichts anderes als die Quinte der Quinte, und somit ist der Akkord quasi ein Doppelquint-Türmchen:
Wählen wir für diese Voicings eine andere Griffweise, so landen wir bei Hendrix (z.B. zu hören in “Castles made of Sand”, “Little Wing” etc.).
Aber auch als “sus 2” innerhalb eines vollen Akkordes klingt unsere None sehr interessant und “offen” – hier gehe ich von unseren vertrauten “Lagerfeuerakkorden” aus und ersetze die Terz durch die None:
Für “sus 2”-Akkorde mit offenen Saiten bieten sich uns auch ein paar nette Voicings an – diesmal wieder als PDF!
Als Übung für all diese Akkorde kann ich euch primär empfehlen, irgend eine beliebige Akkordfolge zu nehmen – je langweiliger sie klingt, umso besser, denn dann könnt ihr sehen, wie der flexible Einsatz dieser Akkorde jede Progression aufwerten kann. Abgesehen davon kommt dieses Szenario sehr häufig in Studiosituationen oder im Bandkontext vor!
Hierzu nehmen wir wieder eine Standard-Akkordfolge und starten das Projekt: “Pimp my Chords”
Das Playback klingt dann so:
Hier eine kleine Variante von mir, bei der ich ausschließlich die vorgestellten Akkorde benutze:
Die Tabs und Noten zu meinem Beispiel:
2. Mehrstimmige Akkorde
Das nächste Kapitel zum Thema verkürzte Akkorde ist relativ übersichtlich, denn darin soll es um Vereinfachungen gehen, die uns in diversen musikalischen Situationen helfen können, über die Runden zu kommen, und dabei auch noch gut auszusehen. Vielleicht hat der eine oder andere schon mal Galajobs oder Bigband-Gigs gespielt, bei denen er eine unglaubliche Anzahl von Akkorden in unglaublicher Geschwindigkeit mit unglaublich vielen Optionstönen “prima vista” vom Blatt lesen musste. Kein Grund zur Panik, denn es gibt tolle Möglichkeiten, wie man sich als Gitarrist einen schlanken Fuß machen kann.
Wie wir uns erinnern, sind die wichtigsten Akkordtöne die Terz und die Septime. Die Quinte ist nicht zwingend erforderlich und der Grundton ist nur vonnöten, wenn kein Bassist am Start sein sollte. Darum würde ich vorschlagen, den Grundton in unseren Akkord zu integrieren, wodurch wir bei dreistimmigen Voicings landen. Den Ausgangspunkt bilden wieder unsere “Akkord-Mutterformen” aus den ersten Folgen, nur, dass wir diesmal die Quinte entfernen.
So sehen unsrer neuen Voicings mit Grundton auf der E-Saite aus:
Und so mit dem Grundton auf der A-Saite:
Eigentlich nichts wirklich Neues, wie ihr feststellt, aber ihr werdet merken, dass in einem höheren Tempo diese Akkorde wesentlich leichter von der Hand gehen als volle vierstimmigen Varianten. Darum auch gleich ein Beispiel aus der Praxis, eine Akkordfolge, die im Jazz gerne “Rhythm Changes” genannt und gewöhnlich als Uptempo gespielt wird:
Zuerst die Noten (da sie recht lang sind, als PDF)
Hier ein Beispiel von mir:
Und das Playback zum Üben:
So viel zum Thema Powerchords und verkürzte mehrstimmige Akkorde, geschätzte Kollegen. Ich hoffe, dass ihr ein paar Anregungen mitnehmen und vielleicht auch die eine oder andere Inspiration für eigene Kompositionen gewinnen konntet. Denkt immer daran, jeden neu gelernten Akkord so schnell wie möglich in irgendeinem Song zu verwursten, dann bleibt er frisch und prägt sich schneller ein.
In diesem Sinne, viel Erfolg und alles Gute,
Haiko