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Workshop Kreatives Rhythmus Gitarrenspiel #11 – Offene Akkorde

Von Pop über Rock bis hin zu Jazz und Fusion dürfte es kaum noch Akkorde geben, die euch den Angstschweiß ins Gesicht treiben, und ich denke, ihr seid für die meisten musikalischen Aufgaben bestens gerüstet. Zum Schluss und als letzten Teil meiner Workshopreihe über Voicings und Akkorde erscheint mir ein Kapitel allerdings noch wichtig. Es ist zwar nicht zwingend notwendig, um in diversen Jobsituationen zu bestehen, dennoch ist es das Sahnehäubchen, worum uns Pianisten beneiden, und es ist zugleich eine ganz instrumententypische Spielweise – nämlich die “Open String Chords”.

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Unter “Open String Chords” oder “offenen Akkorden” versteht man im weitesten Sinne Akkorde, die leere Saiten verwenden. Das ist jetzt nichts vollkommen Neues für uns, da man das Gitarrespielen in der Regel mit Lagerfeuerakkorden in der ersten Lage beginnt, die schließlich fast alle leere Saiten beinhalten. Dennoch sind es die Barré-Akkorde, die als nächstes auf dem Lehrplan stehen, wenn es darum geht, höhere Lagen und Gefilde der Gitarre zu erkunden. Doch auch jenseits der ersten Lage gibt es zuhauf Akkorde mit Leersaiten, die es wert sind, entdeckt zu werden, denn sowohl beim Begleiten von Balladen als auch in Art- und Prog-Rock-Songs können diese eine sehr interessante Atmosphäre schaffen.
Zu Beginn sei gesagt, dass es, anders als z.B. bei den Vierklängen, wo konkrete Voicings mit bestimmten Umkehrungen existierten, bei Open Chords etwas schwieriger ist, eine systematische Herangehensweise zu entwickeln, will man sich auf die Suche nach dem verlorenen Akkord begeben. Viel Herumprobieren und “Trial and Error” ist dabei gefragt, und sehr oft stößt man auch rein zufällig auf den einen oder anderen Leersaitenakkord. Wie dem auch sei, ein paar kleine Kniffe gibt es schon, um der Suche zumindest eine vage Richtung zu verleihen.
Ein weiterer Einwand, der gerne gebracht wird: “Das ist doch überflüssige Arbeit, diese Akkorde kann man dann nur in bestimmten Tonarten verwenden, die die Töne der Leersaiten beinhalten. Man ist damit überhaupt nicht flexibel!” Dieser Einwand ist berechtigt und stimmt zu einem gewissen Grad auch. Habt ihr euch aber schon mal gefragt, warum manche Songs in bestimmten Tonarten komponiert wurden? Manchmal genau aus dem Grund, weil verschiedene Akkorde dort am Besten funktionieren.
Ein anderes nützliches Tool ist natürlich auch der Kapodaster, der uns hier unschätzbare Dienste erweisen kann und uns zumindest ein kleines bisschen flexibilisiert – von diversen Tunings, die von der Norm abweichen, ganz zu schweigen, doch das ist ein vollkommen anderes Kapitel.
Betrachten wir ein paar kleine Tricks, die unsere Suche nach schönen offenen Akkorden erleichtern:
Trick 1: Wir benutzen bekannte Akkordshapes und verschieben sie.
Hier gibt es die Situation, dass das Akkordbild bereits Leersaiten beinhaltet – das vereinfacht natürlich die Ausgangslage. Falls das jedoch nicht der Fall ist, müssen wir künstlich für Leersaiten sorgen. Das erste Beispiel habe ich euch bereits exemplarisch im John Petrucci Play Alike demonstriert: Wir gehen von einem F-Dur Barré im ersten Bund aus und heben unseren Zeigefinger so an, dass die E- und B- Saiten offen liegen. Anschließend verschieben wir das Voicing. Will man den neugewonnenen Akkorden nun Namen verleihen, so kann es durchaus vorkommen, dass wir bei sehr abenteuerlichen Gebilden landen. Das muss uns nicht in jedem Fall interessieren, wenn wir aber flexibel mit diesen Akkorden arbeiten wollen, schadet es natürlich auch nicht, ihre Namen zu kennen.

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Und die gerade gehörten Variationen in einer Übersicht im PDF-Format:

An dieser Stelle merkt ihr bereits, dass durch dieses Verfahren auch eine große Menge an Ausschussware entsteht. Viele Akkorde klingen, vorsichtig ausgedrückt, sehr bescheiden und die Akkordnamen verraten bereits, dass damit wohl keine Hits geschrieben werden können. Dennoch, selbst wenn wir nur eine Handvoll brauchbarer Voicings herausfinden, sind wir schon auf der Gewinnerseite.
Ganz ähnlich können wir auch mit dem Bb-Dur Barré in der ersten Lage (A-Dur Schema) vorgehen, wobei in diesem Fall nur die hohe E- Saite offengelegt wird:

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Und das PDF mit der Übersicht:

Aber auch mit offener E- und B-Saite entstehen schöne Gebilde:

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Und, wie immer, die Übersicht der gehörten Akkorde als PDF.

Vielleicht fällt euch auf, dass sehr oft Akkorde, deren höchster gegriffener Ton höher liegt als die nächsthöhere Leersaite, besonders reizvoll klingen. Im folgenden Beispiel haben wir ein G auf der B-Saite gegriffen und die hohe E-Saite liefert mit dem E einen Ton, der eine Terz tiefer als das G liegt.

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Das liegt daran, dass unser Gehör es gewohnt ist, die Töne im Griffbild aufsteigend wahrzunehmen und nicht im Zickzackverlauf – ein Tipp, den man sich gut zunutze machen kann.
Manche Akkorde haben bereits leere Saiten in ihrem Griff, warum nicht einmal einen solchen Kandidaten das Griffbrett hochschieben
z.B. der folgende Gsus2/6:

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Die vorgstellten Akkorde im PDF-Überblick:

Natürlich könnten wir jetzt jeden einzelnen Akkord durchgehen und würden bestimmt einige sehr interessante Varianten finden, die Möglichkeiten sind wirklich uferlos.
Aber zumindest einen weiteren Kandidaten zum Hochschieben möchte ich euch noch an’s Herz legen:
z.B. der B7sus2/11:

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Und so sehen die gerade gehörten Akkord-Varianten im Detail aus:

Warum immer gleich ganze Akkorde nehmen? Einzelne Intervalle können auch eine gute Figur machen:
z.B. kleine Terzen:

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Oder Quarten:

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Oder kleine Sexten mit der Leersaite in der Mittelstimme:

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Probiert auch mal große Terzen, große Sexten etc. aus und seht, was dabei herauskommt.
Ein ganz ähnlicher Ansatz wäre, anstelle des chromatischen Hochschiebens eines Intervalls mit selbigem diatonisch, also der Tonleiter angepasst, auf dem Griffbrett hochzurutschen. Natürlich funktioniert das primär in Tonarten, die den Ton der Leersaite(n) beinhalten.
Das folgende Beispiel zeigt diatonische Sexten in Em auf der D- und B-Saite gegriffen, wobei die leere G-Saite und die leere hohe E-Saite mitklingen:

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Trick 2: Wir suchen Stellen, an denen zwischen einem gegriffenen Ton und einer Leersaite ein besonderer Sound entsteht und füllen dann den Akkord auf.
Bei dieser Herangehensweise ist die Basis ein Intervall mit einer Leersaite. Häufig klingen Sekundreibungen (große oder kleine Sekunden) sehr interessant. Dieses Intervall kann auf zwei benachbarten Saiten liegen, muss jedoch nicht (die Note D im 12. Bund der D-Saite ist z.B. eine große Sekunde von der hohen E-Saite entfernt).
So kreieren wir ein Voicing mit einer schönen Sekundreibung zwischen der G- und B-Saite. Wir könnten das c# im 6. Bund der G-Saite greifen und die leere B-Saite in unseren Akkord mit aufnehmen:

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Das klingt doch schon mal ganz fein, also zum nächsten Schritt in meiner Überlegung: Was kann ich unter diesen Akkord bauen? Ich versuche mein Glück im 6. Bund der D-Saite mit dem g#:

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Auch nicht schlecht, trotzdem hätte ich gerne einen weiteren tiefen Ton für irgend etwas Grundtonähnliches. Wie wäre es mit dem f# im 9. Bund der A-Saite? Dieser Ton ist natürlich doppelt schön, da ich nicht nur zwischen G- und B-Saite, sondern auch zwischen den Tönen auf der A- und D-Saite eine Sekunde entstehen lasse:

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Der Akkord kristallisiert sich immer mehr aus einer F#m11, F#sus4/9-Ecke heraus. Nun werde ich mein Glück mit der hohen E-Saite probieren, vielleicht klingt die als Leersaite ganz schön? Wenn nicht, wäre das auch kein Drama, da wir auch jetzt schon ein sehr schönes Voicing haben. Aber wie es der Zufall will, passt unsere hohe E-Saite super in unsere Harmonie: Voilà, ein F#m7/9sus4!

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Dieses Beispiel habe ich deshalb so ausführlich aufgesplittet, um euch eine mögliche Denkweise bei Leersaitenakkorden aufzuzeigen. Irgendwann entwickelt man auch einen Blick dafür, welche Leersaiten in welchen Tonarten funktionieren und der Findungsprozess beschleunigt sich. Nehmen wir noch ein Beispiel für Sekundreibungen zwischen nicht benachbarten Saiten.
Wir können z.B. das d# im 13. Bund der D-Saite mit der hohen E-Saite verkuppeln, und weil es so schön ist, warum nicht auch noch das f# im 11. Bund der G-Saite mit ins Boot holen? Das wären gleich zwei Sekunden!

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Auch unter diesen Akkord können wir uns eine Vielzahl an Grundtönen denken. Ich entscheide mich für das C# als Grundton, und weil ich noch einen Finger frei habe – anatomisch betrachtet allerdings nicht so viele Möglichkeiten, ihn in diesem Gebilde unterzubringen – nehme ich auf der A-Saite die Quinte g# in meine Konstruktion auf.
Schauen wir uns das Gebilde einmal näher an, so sind die Intervalle von der tiefen E-Saite beginnend: 1 5 9 11 7 b3 – also ein lupenreiner C#m11! Und so klingt der Kamerad:

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Trick 3: Ich nehme eine Akkordfolge als Ausgangspunkt und versuche in der/den Oberstimme(n) oder Mittelstimme einen Pedalton zu erhalten, und betrachte danach meine neugewonnenen Akkorde.
Diese Situation kann uns z.B. begegnen, wenn wir von anderen Musikern eine Akkordfolge vorgesetzt bekommen. Außerdem fällt sie in die Kategorie “Pimp my Chordprogression”, denn sehr häufig können wir simplen Akkordprogressionen vollkommen neues Leben einhauchen.
Betrachten wir die Akkordfolge:
II: E I F#m I G#m I F#m I A I B I C#m I % :II
Unverkennbar sind wir in der Tonart E-Dur und haben das unglaubliche Glück, dass die Töne B und E unserer beiden höchsten Saiten in dieser Tonart beheimatet sind. Was passiert eigentlich, wenn ich jeden dieser Akkorde mit leerer B- und E-Saite spiele? Wir gewinnen interessante Voicings mit teilweise sehr hohen Optionstönen, aber wie gesagt, dass muss uns gar nicht weiter interessieren, denn wir wissen, jeder Ton ist in E-Dur.
So sehen diese Akkorde aus – der Vollständigkeit halber habe ich sie mit der korrekten Bezeichnung versehen:

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Und so klingt es, hier als akustische Strummingvariante

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Auch in der Mittelstimme können solche Pedaltöne sehr effektvoll sein.
Die Akkordfolge Em – C – D entspringt der Tonart Em. Hier hätten wir interessanterweise sogar alle sechs Saiten der Gitarre als Leersaiten zur Verfügung, da e, a, d, g und b alles Töne der Em Tonleiter, ja sogar der Em-Pentatonik sind.
Anyway, ich entscheide mich für die G-Saite: Dadurch entsteht:

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Wenn ich das als Ausgangsbasis hernehme, könnte ich sogar noch weitere Pedaltöne einfügen oder hier und da ein paar Töne wie z.B. die None oder Septime im Em hinzufügen, z.B. folgendermaßen:
Em9 – Cadd9/#11 – D add9/4

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Und das kann dann so klingen:

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Versucht euer Glück bei weiteren Akkordfolgen wie z.B.:
II: A I F#m D I E :II (Achtung: Purple Rain-Alarm! )
oder:
II: Bm I D I A I G :II
So viel zum Thema Akkorde und Voicings auf der Gitarre. Ich hoffe, ich konnte euch den einen oder anderen Aspekt nahebringen und euer Spiel, ja vielleicht sogar euer Songwriting beflügeln, wobei es bestimmt noch einiges zu sagen gäbe. Die Fülle an Akkorden, die man auf der Gitarre spielen könnte, ist wirklich immens und lässt mich jedes Mal in Demut erschauern. Allerdings muss man sich auch klarmachen, dass die Gitarre kein einfaches Instrument ist, wenn man wirklich in die Tiefe gehen will – ihre Logik erschließt sich nur zögerlich. Schon alleine die Tatsache, dass sich die Tonfolge c´- d´- eb´ auf 125 (!) verschiedene Weisen auf der Gitarre spielen lässt (zum Vergleich: auf dem Piano gibt es eine einzige Möglichkeit), sollte uns vor Minderwertigkeitskomplexen schützen. Darum nehmt euch Zeit und lasst euch nicht entmutigen, selbst die ganz großen Helden arbeiten bis zu ihrem Tode an ihren Skills und auch an ihrem Akkordrepertoire. Der individuelle Spielstil wird sehr häufig auch nicht nur darüber entschieden, was wir spielen, sondern manchmal auch darüber, was wir ganz bewusst nicht spielen, also macht euch auch davon frei, immer alles können zu müssen und pickt euch die Chords heraus, die euch zum gegenwärtigen Zeitpunkt zusagen.
In diesem Sinne gutes Gelingen und viel Glück,
Haiko

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