Herzlich willkommen zum siebten Teil meiner Voicing-Workshopreihe. In den letzten Folgen haben wir uns immer weiter von den Septvierklängen entfernt, mit denen dieser Workshop einmal anfing, und ich bin mir sicher, dass ihr mittlerweile über eine Riesenauswahl an Akkorden verfügt, mit denen ihr die unterschiedlichsten Stilistiken bedienen könnt. Selbst bei Musicaljobs oder in anderen Situationen, in denen ihr viele Akkorde vom Blatt lesen müsst, wird euch höchstwahrscheinlich keiner begegnen, der nicht in irgendeiner Form in den vorhergegangenen Workshopteilen bereits präsentiert wurde.
Trotzdem würde ich an dieser Stelle gerne den Blick zurück auf unsere Vierklänge richten, und zwar ganz konkret auf die Voicings, mit denen wir in Folge eins begonnen haben, denn in ihnen steckt noch viel Potenzial, das es zu erkunden gilt.
Betrachten wir noch einmal unsere Septakkorde, ausgehend vom Beispiel Gmaj7. Beginnend mit dem Basisvierklang hören wir die Akkordtöne G B D F#. Wie ihr bereits von den Dreiklängen wisst, kann man von jedem Akkord Umkehrungen bilden. Bei einem Dreiklang entstehen drei Positionen (Grundstellung, 1.Umkehrung und die 2. Umkehrung), bei einem Vierklang allerdings vier:
In der Tabulatur ist zu erkennen, dass diese Akkordvoicings nicht unbedingt sonderlich “fingeranatomiefreundlich” zu greifen sind. Aus diesem Grund habe ich euch in Folge eins auch diverse andere Varianten für einen Maj7 Akkord präsentiert. Aber wieso gibt es überhaupt so viele Möglichkeiten für ein und denselben Akkord?
Nun, rein mathematisch hätten wir 24 Optionen, die Töne des Vierklangs anzuordnen, aber keine Angst, wir werden nicht alle benötigen:
GBDF# | BDF#G | DF#GB | F#GBD |
GDF#B | BF#GD | DGBF# | F#BDG |
GF#BD | BGDF# | DBF#G | F#DGB |
GDBF# | BF#DG | DGF#B | F#BGD |
GBF#D | BDGF# | DF#BG | F#GDB |
GF#DB | BGF#D | DBGF# | F#DGB |
Die Voicings, die ihr im ersten Beispiel und auch in der ersten Zeile des Diagramms seht, sind Vierklänge in der sogenannten “engen Lage” (auf neudeutsch auch “close position” oder “four way close”). Das bedeutet, dass jeder Akkordton so angeordnet ist, dass jeweils der kürzeste Weg zum nächsten führt.
Will man nun auf andere Varianten der Vierklänge kommen, hat sich eine Technik herauskristallisiert, die den neuen Voicings auch ihren Namen verleiht: Man nimmt die Akkorde in der engen Lage und oktaviert einen Ton daraus einfach nach unten – man lässt den Ton quasi nach unten fallen, was englisch “to drop” heißt. Und schon sind wir bei dem neuen Vierklanggenre der “Drop Voicings” gelandet. Bei diesen Akkorden entsteht so eine Stelle zwischen den einzelnen Tönen, an der mindestens ein weiterer Akkordton Platz finden könnte. Als Resultat erhalten wir demnach Akkorde, die einen größeren Tonumfang besitzen, weil wir sie quasi aufspreizen.
Nun könnte man natürlich so einiges droppen, doch wir beginnen mit den Voicings, die auf unserem Instrument am geläufigsten sind, nämlich den “Drop 2” Voicings (sprich: Drop Two, ein Name, der ursprünglich aus dem Bereich des Big Band Arrangements stammt).
Drop 2 bedeutet, dass wir, ausgehend von der engen Lage, jeweils den zweiten Ton von oben in jeder Umkehrung eine Oktave nach unten fallen lassen. Das Ergebnis für alle vier Positionen ist folgendes, hier am Beispiel Cmaj7:
Ordnen wir nun diese Akkorde in ihrer Umkehrungsreihenfolge, beginnend mit dem Grundton, so erhalten wir:
Für dich ausgesucht
- Pentatonic-Scale #5 – Skalen Workshop Gitarre – Fortgeschrittene Konzepte
- Solos spielen mit Arpeggios #6 – Lower und Upper-Structure-Triads
- Workshop Kreatives Rhythmus Gitarrenspiel #8 – Drop 3 Voicings
- Workshop Kreatives Rhythmus Gitarrenspiel #9 — Jazz und Fusion Akkorde
- Pentatonic-Scale #4 – Skalen Workshop Gitarre – Jazz
Vielleicht erkennt ihr den ersten Akkord aus der Reihe, der wurde nämlich in der Voicings Folge 1 als die Vierklang-Mutterform mit Grundton auf der A- Saite vorgestellt.
In der folgenden Grafik seht ihr die Akkorde in Griffsymbolik, wobei ich den Grundton markiert habe:
Dominant 7:
m7:
m7/b5:
EADG – Saite:
und DGBE:
Vielleicht ist es dem einen oder anderen von euch schon aufgefallen, dass es pro Saitenset jeweils einen Akkordtyp für maj7 gibt, der etwas schräg klingt. Es ist die Akkordumkehrung mit der großen Septime als tiefstem und dem Grundton als höchstem Ton. Der Grund dafür ist das Intervall, das zwischen diesen beiden Noten entsteht und einen sehr hohen Dissonanzgrad hat – nämlich die kleine None (im Fall von Cmaj7 läge sie zwischen B und dem eine Oktave höheren C). Dieser Akkord ist zwar als Durchgangsakkord durchaus brauchbar, allerdings besitzt er als Tonikaakkord häufig zu wenig Stabilität.
Dem lässt sich abhelfen, indem man die große Septime gegen eine große Sexte austauscht und – nur für diese Umkehrung – einen Dur 6 anstelle eines maj7 anwendet. Das sähe dann so aus:
Fällt euch etwas auf? Der Dur6 Griff ist identisch mit dem m7 Griffbild – d. h. C6 und Am7 teilen sich die gleichen Akkordtöne! Verwandtschaftsverhältnisse dieser Art werden wir in naher Zukunft noch mehr kennenlernen.
Versucht auch, für die verbleibenden Saitensets selbst herauszufinden, wie unsere Voicings aussehen würden, wenn wir aus diesen Formen jeweils Dominant 7, Moll7 und m7/b5 ableiten wollen. Bedenkt dabei, dass sich pro Griffbild nur ein Akkordton verändert, wenn die Reihenfolge maj7 – 7 – m7 – m7/b5 eingehalten wird!
Höchste Zeit, alle Akkorde in alle Tonarten zu übertragen!
Als Einstiegsübung würde ich wieder unsere chromatische Zwölftonreihe zurate ziehen:
D F B A E C G# D# Db G F# Bb
Jeder Ton markiert den Grundton unseres Vierklangs. Die erste Übung sieht folgendermaßen aus:
- Ihr wählt ein Akkordgeschlecht ( maj7, 7, m7, m7/b5).
- Ihr wählt ein Saitenset.
- Ihr spielt die obige Reihe durch, wobei ihr pro Grundton alle vier möglichen Positionen ab der tiefstmöglichen Lage spielt.
Hier ein Beispiel dazu anhand eines m7-Akkordes auf dem Saitenset DGBE:
Die zweite Übung wird etwas komplizierter:
- Ihr wählt ein Akkordgeschlecht.
- Ihr wählt ein Saitenset.
- Ihr wählt eine Lage.
- Ihr spielt obige Reihe durch, wobei ihr pro Ton nur einen Akkord spielt und immer den kürzesten Weg zum nächsten nehmt.
Achtet darauf, die gewählte Lage nicht zu verlassen. Auch dazu ein Beispiel – Dom7/ V. Lage7 Saitenset ADGB:
Am besten lassen sich jedoch unsere neugewonnenen Akkorde im Rahmen eines musikalischen Kontextes trainieren. Bevor wir uns an komplette Stücke wagen, würde ich zunächst eine etwas kleinere und überschaubare musikalische Einheit wählen, die Kadenz.
Wie wir in den Harmonielehreworkshops bereits sehen konnten, handelt es sich bei der klassischen Kadenz um die Stufenakkordfolge : Tonika – Subdominante – Dominante – Tonika, also I – IV – V – I
Im Jazz wurde die Subdominante durch die II. Stufe ersetzt ( was technisch gesprochen die Subdominantparallele ist, bzw. eine Umkehrung der Subdominante mit einer sixte ajoutée). Somit würden wir bei der Akkordfolge II – V – I landen.
Um unsere neuen Akkordbilder zu trainieren, sollten wir jedoch besser eine Akkordverbindung wählen, die wir in einer Art “Endlosschleife” über das gesamte Griffbrett bewegen können. Und was wäre dafür besser geeignet als der “Turnaround”?
Unter einem Turnaround versteht man in unserem Zusammenhang eine Akkordfolge, die häufig am Schluss eines Stückes vorkommt und eine erneute Auflösung in den Tonikaakkord unter Einbeziehung einer kleinen Kadenz erzwingt. Die kann z. B. am Ende eines Blues- oder Jazzstandards vorkommen, der mit der Tonika endet, man jedoch einen harmonisch lebendigeren Weg finden will, um an den Anfang des Stückes zurückzugelangen. Allerdings können auch Kompositionsteile wie z.B. George Gershwins “I got Rhythm” aus dem sogenannten “Turnaround” bestehen, der gar nicht so weit von unserer II-V-I-Verbindung entfernt ist, denn spielen wir nach der Tonika erneut die VI. Stufe, so landen wir bei der Akkordfolge: II – V – I – VI.
Wenn wir diese Akkordfolge nun mit der Tonika beginnen, so ergibt das:
I – VI – II – V bzw. am Beispiel C- Dur: Cmaj7 – Am7 – Dm7 – G7
Um den Spannungsgrad noch etwas zu erhöhen, dürfen wir die VI. Stufe (hier Am7) durch einen Dominantseptakkord austauschen, nämlich V/II, also die Dominante zur II. Stufe – in diesem Falle A7.
Am Ende landen wir so bei: Cmaj7 – A7 – Dm7 – G7
Wenn wir diese vier Akkorde auf jedem Saitenset in jeder möglichen Position auf dem Griffbrett spielen, trainieren wir bereits eine Vielzahl an Variationen für diese Kadenz. Allerdings können wir das Klangerlebnis noch etwas steigern, indem wir uns an die sogenannten “Stimmführungsregeln” halten: Von der Klassik lernen wir einiges zum Thema Stimmführung, viele Regeln und Verbote, doch für uns soll die grobe Faustregel gelten: Gemeinsame Töne bleiben liegen – alle anderen gehen den kürzesten Weg.
Würden wir unseren Turnaround nun in einer relativ hohen Lage beginnen und gemäß dieser Regel weiterführen, sähe das so aus:
Ihr könnt erkennen, dass unsere Akkorde langsam das Griffbrett hinunterwandern, (“Kadenz” stammt vom lateinischen Wort cadere = fallen). Da wir dadurch jedoch schnell in einer Sackgasse landen, dürfen wir unsere Regel etwas aufweichen. Z.B. können wir festlegen, dass wir die Stimmführungsregel nur bei quintfälligen Bewegungen anwenden (d.h., von der V/II zur II’, von der II zur V und von der V zur I) – d. h. wenn die Tonika I (hier Cmaj7) zur V/II (hier A7) geht, dürfen wir uns frei bewegen und die Gelegenheit nutzen, wieder in eine höhere Lage zu hüpfen z. B. folgendermaßen:
Versucht, die folgenden Übung in allen Tonarten und auf allen Saitensets zu verinnerlichen, denn eine korrekte Stimmführung kann Akkorde sehr logisch und geschmeidig miteinander verbinden. Sie ist, abgesehen davon, eine Art des Akkordspiels, wie es von Pianisten ohnehin grundsätzlich praktiziert wird – und als Gitarrist muss man sich in seiner Begleitfähigkeit sehr oft an den Fähigkeiten messen lassen, die sich Pianisten in der Regel viel früher in ihrer instrumentalen Ausbildung aneignen als das bei Gitarristen den Fall ist.
Eine weitere Möglichkeit steht uns beim Begleiten jedoch auch noch zur Verfügung. Nennt man die obige Stimmführung häufig “harmonische Stimmführung”, so können wir außerdem auf die Option der “melodischen Stimmführung” zurückgreifen, die es erlaubt, unsere Oberstimme tonal aufwärts schreiten zu lassen. (Anmerkung: In der Klassik könnte so etwas verpönt sein, da hier unter Umständen parallele Quinten entstehen, aber im Rock/Pop/Jazz lässt man mal gerne fünfe gerade sein ;)).
Hier ein Beispiel – die Oberstimme im Akkord steigt stufenmäßig auf:
Hier ein kleines Playback, damit ihr eure Akkorde zu einem Bass hört, der hier die Aufgabe des Grundtongebers übernimmt, denn die Drop Two Voicings haben nicht immer den Grundton als tiefste Note.
Auch wenn der Turnaround in Moll wesentlich seltener vorkommt, sollten wir ihn dennoch kennenlernen. Ganz abgesehen davon tritt hier häufig ein Akkord in Erscheinung, den man ganz gerne etwas stiefmütterlich behandelt, der halbverminderten Akkord.
Betrachten wir die Kadenz I – VI – II – V in Cm, so landen wir bei:
Anmerkung: Ihr seht richtig – die VI. Stufe ist ebenfalls halbvermindert, da sie aus C-dorisch entliehen ist, wohingegen der Dm7/b5 aus C-aeolisch entnommen wurde. Der Grund, warum die VI. Stufe nicht dominantisiert wurde, liegt, wie bereits in Harmonielehre Teil 6 erörtert, daran, dass die Zwischendominante zu einem halbverminderten Akkord praktisch nie vorkommt und man die obige Akkordfolge wesentlich häufiger auffindet.
Hier ein Beispiel für einen Turnaraoundcycle in Moll auf dem Saitenset ADGB – selbstverständlich solltet ihr auch diese Kadenz in allen Tonarten und auf allen Saitensets verinnerlichen:
Auch hier ein Playback für den Turnaround in Moll:
So weit, so gut – höchste Zeit, in einen etwas größeren harmonischen Kontext zu gehen, um die Akkorde in die Praxis zu bringen.
Das folgenden Beispiel “Feel like dropping Twos” zeigt euch ein Stück, angelehnt an eine bekannte Akkordfolge, an der ihr euch austoben könn. Da das Beispiel etwas länger ist, bieten wir es euch (der besseren Lesbarkeit halber) als PDF an.
Hier ein Beispiel von mir – ihr könnt euch natürlich alle Saitensets und erdenklichen Umkehrungen vorknöpfen, mehrere Akkordumkehrungen im Takt spielen oder verschiedene Rhythmisierungen wählen – fühlt euch ganz frei!
Es ist mir natürlich bewusst, dass diese Fülle von Akkorden eine gehörige Portion Übung und Zeit braucht, um ihren Weg in euer Spiel zu finden. Aber ich denke. es lohnt sich – insbesondere beim Spielen von Jazzstandards und Big Band Jobs, aber auch bei vielen Musicaljobs werden die Drop2- (und später auch Drop3) Voicings zu eurem täglichen Brot werden. Aus diesem Grund rate ich Euch als ergänzende Übung, ein Realbook zu besorgen und euch daraus immer wieder ein Stück zu Übungszwecken mit den neu gelernten Akkorden vorzunehmen. Irgendwann ist der Zeitpunkt erreicht, an dem man nicht mehr darüber nachdenken muss, und Spaß macht es sowieso.
In diesem Sinne, alles Gute und viel Erfolg !